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STRAFJUSTIZ »Nicht dass ich wüsste«

Schuldig oder nicht? Die dritte Hauptverhandlung gegen Harry Wörz, der angeblich seine Frau töten wollte, scheint ihn plötzlich zu entlasten. Von Gisela Friedrichsen
aus DER SPIEGEL 24/2009
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Dem Zeugen, dem wichtigsten möglicherweise des ganzen Verfahrens, scheint der Eindruck, den er hinterlässt, ziemlich egal zu sein. Betont lässig, in zerbeulten Jeans, mit darüberhängendem zerknittertem Hemd und offener Weste, tritt Thomas H., 50, vor Gericht auf, als ginge ihn die Angelegenheit längst nichts mehr an. Er hat jetzt eine neue Freundin, wieder eine von der Polizei, eine sehr viel jüngere. Einige Kollegen im Publikum feixen. Nur das wippende Knie unter dem Zeugentisch verrät seine Anspannung.

H. ist Polizist. Er gefällt sich darin, aus seiner Abneigung gegen Frauen im Polizeidienst keinen Hehl zu machen. Eine Ausnahme für ihn war Andrea Wörz, geborene Zacher, die Mitte der neunziger Jahre seine Geliebte wurde. »Da stellte ich fest, dass Frauen auch bei der Polizei nützlich sein können«, sagt er als Zeuge.

Auf Fragen des Gerichts antwortet er selten eindeutig. Oft weicht er aus. Wenn es darauf ankommt, hat er »absolut keine Erinnerung«. Und wenn es eng wird, sagt er: »Ich werd mich doch nicht belasten.«

Die Sache, die zurzeit die 3. Große Strafkammer des Landgerichts Mannheim mit dem Vorsitzenden Rolf Glenz verhandelt, könnte das Finale des Justizstücks um Harry Wörz, 43, sein. Denn die Causa hat nicht nur ein »G'schmäckle«, wie man in der Gegend sagt. Sie stinkt mit jedem Sitzungstag mehr.

Dem angeklagten Installateur Wörz wird von der Staatsanwaltschaft seit 1997 versuchter Mord zur Last gelegt. In der Nacht vom 28. auf den 29. April jenes Jahres soll er versucht haben, seine von ihm getrennt lebende Ehefrau Andrea, damals 26, auf heimtückische Weise zu töten. Die Frau erlitt durch minutenlange Drosselung mit einem Wollschal irreparable Hirnschäden. Sie kann seitdem nicht mehr gehen, weder sprechen noch Sprache verstehen. Mit einer Besserung ihrer geistigen Leistung, sagen die Ärzte, sei nicht zu rechnen. Den Täter wird sie also nie nennen können.

Auch der gemeinsame Sohn der Eheleute Wörz, vor dessen Augen sich die Tat abspielte, kann nicht sagen, wer es war. Denn er war damals erst zwei Jahre alt.

Der Vater des Opfers, Wolfgang Zacher, heute 61, der in jener Aprilnacht im Haus der Tochter schlief, war, aufgeschreckt durch Geräusche, Andrea zu Hilfe geeilt und hatte ihr damit das Leben gerettet. Er hatte auch Polizei und Notarzt alarmiert und hierbei schon eine erste Einschätzung gegeben: Es handle sich gewiss um eine Beziehungstat, erklärte er über Notruf, für die nur Ehemann Harry oder Thomas H., der Liebhaber Andreas, in Frage kämen.

Das Besondere am Fall Wörz ist, dass die junge Frau, ihr Vater und der Liebhaber nicht nur Polizisten, sondern alle auch Mitglieder der Polizeidirektion Pforzheim waren, die überdies die Ermittlungen führte. Der Hauptsachbearbeiter war Kollege des Vaters und des verdächtigen Thomas H. Auch andere Ermittler waren mit dem Opfer und dem Verdächtigen zumindest gut bekannt. Ihre Objektivität darf aus gutem Grund bezweifelt werden.

Wer das erste Urteil des Landgerichts Karlsruhe von 1998 gegen Harry Wörz liest - es wurden elf Jahre Freiheitsstrafe wegen versuchten Totschlags verhängt -, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Tatverdacht vor allem gegen Thomas H. auch von den Richtern mit zum Teil ge-

radezu aberwitzigen Argumenten abgeschwächt, ja weggeredet wurde. So heißt es zum Beispiel in den Urteilsgründen: »Ein nur etwa drei Stunden nach der Tat durchgeführter Intimverkehr der Eheleute H. lässt eine Täterschaft des Zeugen Thomas H. unwahrscheinlich erscheinen.« Man ging von einer Anstandspause aus.

Das Urteil wurde rechtskräftig, nachdem der Bundesgerichtshof (BGH) die Revision der Verteidigung verworfen hatte. 1999 verklagte Andrea, vertreten durch ihre Eltern, Wörz auf 300 000 Mark Schmerzensgeld. Als sich die Zivilrichter mit dem Fall auseinandersetzten, gingen ihnen bald die Augen über. Sie kritisierten die Ermittlungen, forschten selbst nach und erklärten schließlich, sie seien »nicht zu der sicheren Überzeugung gelangt, dass der Beklagte derjenige war, der die Klägerin tätlich angegriffen und verletzt hat«. Die Klage wurde abgewiesen.

Wörz aber betrieb nun mit seinem Anwalt Hubert Gorka die Wiederaufnahme des Strafverfahrens. Das Landgericht Mannheim aber verwarf den Antrag 2001.

Das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe hob diese Entscheidung auf und ordnete Wörz' Freilassung an, so dass Mannheim die neuen Tatsachen prüfen musste. Ergebnis: Der Wiederaufnahmeantrag wurde erneut abgelehnt. Und die OLG-Richter griffen erneut ein: Nun wiesen sie das Mannheimer Gericht an, den Fall von neuem zu verhandeln.

Daraufhin wurde Wörz im Oktober 2005 freigesprochen. Staatsanwaltschaft und Nebenklage legten erfolgreich Revision ein. 2006 hob der 1. Strafsenat des BGH, der im 1998 verurteilenden Spruch keine Rechtsfehler zu finden vermocht hatte, den Freispruch auf und verwies die Sache an eine andere Mannheimer Strafkammer.

Tragender Aufhebungsgrund war für den BGH 2006, dass das Landgericht naheliegende Möglichkeiten der Tatbegehung durch den Angeklagten nicht erörtert habe. Am höchsten deutschen Strafgericht hielt man ihn offenbar für überführt. Denn der Beschluss, der den Freispruch hinfällig werden ließ, liest sich wie eine Segelanleitung zum Hafen der Schuldfeststellung.

Eine schier endlose Geschichte also, in der Gerichte mal von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt waren, mal daran zweifelten. Der Bürger, der glaubt, bei Gericht werde nach der Wahrheit gesucht und Gerechtigkeit hergestellt, versteht im Fall Wörz die Welt nicht mehr. Er muss den Eindruck gewinnen, dass es bislang weniger um den Angeklagten und sein Opfer ging als darum, welche Richter sich letztlich durchsetzen.

Seit dem 22. April verhandelt nun die Kammer Glenz den Fall. Und wer Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit hegte, wer befürchtete, den Mannheimern würde es genügen, Vollzug nach Karlsruhe zu melden, reibt sich die Augen. Glenz zerlegt mit Berichterstatterin Petra Beck den Fall wie unter dem Mikroskop.

Die Richter interessieren sich besonders für die Frühphase der Ermittlungen. Warum konnten Vater Zacher und Thomas H., obwohl beide tatverdächtig, im - warum nicht versiegelten? - Tathaus ein- und ausgehen, ehe die Spurensicherung dort beendet war? Wer hat die Wohnungen der Verdächtigen in der Tatnacht observiert? Wurden ihre Autos geprüft, ob der Motor noch warm war? Nein, sagt ein Polizist, der Bewegungsmelder am Haus H.s wäre sonst angesprungen. Doch es gab gar keinen Bewegungsmelder. Es sei wohl untersagt worden, meint ein anderer.

Ein dritter Polizist hingegen weiß noch, dass er die Motorwärme von H.s Auto sehr wohl geprüft habe, aber zu keinem eindeutigen Ergebnis gelangt sei. »Der Motor war kalt«, sagt der Zeuge, aber er meine, dass kein Tau auf dem Auto war. H. wurde damals offenbar geschont wie ein rohes Ei.

Jetzt, in Mannheim, spitzt sich die Situation während seiner Zeugenvernehmung plötzlich dramatisch zu. Dass Wörz kein Motiv hatte für die Tat, musste bisher jedes Gericht zugestehen. Dass er kein Alibi hat - er habe zu Hause geschlafen, sagt er -, wurde ihm immer negativ ausgelegt. Und jetzt kommt heraus, dass offenbar auch H. kein Alibi hat. Aber ein Motiv.

Die Fragen von Glenz und Frau Beck, einer Richterin von hohem situativem Einfühlungsvermögen, werden drängender, ihre Stimmen erregter. H. stand zur Tatzeit unter erheblichem Druck. Seine Frau verlangte die Trennung. Er konnte sich nicht entscheiden, sah große finanzielle Probleme auf sich zukommen. Und überdies die Kinder. Dennoch packte er seine Tasche.

Frau H. berichtet, dass ihr Mann am Tag nach der Tat völlig überraschend versichert ("geflötet") habe, die Ehe fortsetzen zu wollen. »Dann mussten Sie dies Andrea ja sagen«, folgert der Vorsitzende.

H. sagt, er erinnere sich nicht. »Sie sind Polizeibeamter! Sie sind trainiert, sich zu erinnern! Ihre Frau sagt hier, Sie hätten am Abend vor der Tat die Wohnung verlassen wollen, Ziel Andrea. Und Sie wissen das nicht mehr? Ihre Frau sagte damals: Wenn du jetzt gehst, brauchst du nicht mehr zurückzukommen!«

H. hat angeblich keine Erinnerung. »Sind Sie an dem Abend weggegangen? Sind Sie ausgezogen?« »Nicht dass ich wüsste.« »Widersprechen Sie Ihrer Frau?« »Nein«, antwortet H. dem Vorsitzenden, »ich erinnere bloß nicht jede Kleinigkeit.«

»Das nennen Sie eine Kleinigkeit? Wieso haben Sie dieses ganze Konfliktpotential bisher verschwiegen? Aus keinem Vernehmungsprotokoll ergibt es sich!« Richterin Beck setzt nach: »Ich kann mir das nicht vorstellen. Andrea glaubte, Sie trennten sich von Ihrer Frau, jedenfalls berichtete dies ihr Vater als Zeuge. Dann kommt die kalte Dusche - Sie wollen doch bei Ihrer Familie bleiben. Andrea war eine taffe junge Frau, die hat doch aufgemuckt!«

Die Beisitzerin zitiert aus Andreas Tagebuch: »Es tut so eklig weh! Verdammt, er schläft Nacht für Nacht mit ihr in einem Bett. Sind Männer wirklich so schwanzgesteuert? Ich dumme Gans ...« Der Vorsitzende: »Andrea soll sich Schnittverletzungen beigebracht haben. Das tun Menschen, die unter enormem Druck stehen!«

H. gerät immer mehr in die Bredouille. Er habe das alles nicht mitbekommen, sagt er. Das Gericht wechselt das Thema. »Als damals die Kollegen zu Ihnen kamen, sagte man Ihnen, es handle sich um eine Körperverletzung von Andrea. Und Sie erwidern: ,Kein Problem, ich war die ganze Nacht zu Hause.' Stimmt das? Die Polizei steht morgens bei Ihnen im Zimmer - und Ihre erste Reaktion ist eine Alibibehauptung?« Richterin Beck: »Sie haben nicht gefragt, was mit Andrea passiert ist!« »Wieso soll ich fragen, wenn ich doch weiß, dass ich nichts damit zu tun habe«, sagt H.

In dieser dritten Hauptverhandlung steht Wörz neben Gorka auch noch der Dortmunder Strafverteidiger Ralf Neuhaus bei. Bis Oktober ist terminiert. Die Spannung steigt.

* Mit seinen Verteidigern Ralf Neuhaus und Hubert Gorka.

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