/

Unter Sündern

Comic | J.Muñoz/C.Sampayo: Alack Sinner

Die im Avant-Verlag erschienene Gesamtausgabe der vielfach prämierten Crime Noir-Comicreihe ›Alack Sinner‹ kompiliert erstmals alle 20 Storys um den New Yorker Privatdetektiv in deutscher Übersetzung. Die Straßen New Yorks werden da zur Echokammer der jeweiligen Fälle – und plätten die Leser*innen mit wimmelnder Wucht. Von CHRISTIAN NEUBERT

Alack Sinner Die Gesamtausgabe der Comicreihe ›Alack Sinner‹ ist eine Wucht – alleine schon aufgrund ihrer Abmessungen. Zwischen zwei festen Hardcover-Deckeln kompiliert der Sammelband auf rund 700 Seiten erstmals alle 20 Storys um den New Yorker Privatdetektiv in deutscher Übersetzung. Wer sie liest, wird umso mehr geplättet. Die einzelnen Geschichten, von den argentinischen Künstlern José Muñoz (Zeichnungen) und Carlos Sampayo (Text) zwischen 1975 und 2006 im europäischen Exil geschaffen, spielen im Segment der Crime Noir Comics ganz oben mit.

In den ersten Episoden steht der namensgebende Detektiv noch ganz in der Hard-Boiled-Tradition von prominenten Vorbildern wie Raymond Chandler. Wie dessen archetypische Figur Philip Marlowe ist Sinner ein zäher Brocken mit Polizeivergangenheit, romantischer Ader, Hang zur Melancholie und starker Neigung zu Alkohol. Dass die Fälle ihn in obere Gesellschaftsschichten führen, ist eine weitere Gemeinsamkeit. Im Gegensatz zum konsequent 33 Jahre alten Marlowe lassen Muñoz und Sampayo ihren Helden jedoch altern. Beziehungsgeflechte werden da bedeutsamer, der Bauch wird dicker, die Augen schwächer, der Alkohol endgültig zum gefährlichen Begleiter.

Einsamer Wolf im Großstadtdschungel

Außerdem tritt im Laufe der Zeit die eigentliche Detektivarbeit zunehmend in den Hintergrund. Planmäßige Ermittlungen weichen weitschweifenden Beobachtungen und Reflexionen; die 100 Seiten starke Episode ›Begegnungen‹ markiert hier einen bedeutsamen Bruch. Im weiteren Verlauf der Reihe nähern sich die ›Alack Sinner‹-Storys gar dem Polit-Thriller an, was in der finalen Episode mit den Geschehnissen um 9/11 kulminiert. Die Erzählweise bleibt jedoch auch hier fragmentarisch und schert sich wenig um die Akribie detektivischer Nachforschungen.

Vielmehr rückt die Außenwelt in den Fokus der Erzählungen. Die Stadt New York ist auf den Comicseiten permanent in Bewegung. Sinner bewegt sich dort im Rhythmus eines Walking Blues, angetrieben von Jazz-Klängen, Alkohol oder Schwermut, meist in Wechselwirkung. Muñoz fängt das in harten Schwarz-Weiß-Kontrasten ein, in Bildern, die skizzenhafte Reduktion, karikaturhafte Überzeichnung und Detaildichte vereinen. Der hohe Schwarzanteil erinnert manchmal an Schabkartonarbeiten, öfter noch an Fotonegative.

Schwarz-weiße Wucht

Gespenstisch wirkt das allerdings nie – zumal New York alles andere als eine Geisterstadt ist. Das Gewimmel in den Häuserschluchten vermittelt permanente Unruhe. Als eigentlicher Handlungsträger wird Sinner da oft genug verschluckt, wenn er nicht gar ganz als Hauptfigur dem Blick des Lesers entschwindet – und im Vordergrund der Bilder Dialogfetzen Dritter tönen, wodurch die Straßen zur Echokammer der einzelnen Fälle werden.

Alack Sinner Leseprobe
Alack Sinner: Leseprobe
(Avant Verlag)

In einer Episode treten die beiden Urheber gar selbst in Erscheinung. Ihr Name: ›Das Leben ist kein Comic, Baby‹. Doch ›Alack Sinner‹ ist ein Comic. Einer, der jede Menge Leben intensiv verdichtet.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
José Muñoz (Zeichnungen) / Carlos Sampayo (Text): Alack Sinner
Aus dem Spanischen von André Höchemer
Berlin: Avant-Verlag 2019
704 Seiten, 49 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Kriminelles und Persönliches

Nächster Artikel

»Wenn du jemanden liebst, schieß ihm ins Gesicht«

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Vom Suchen und Verlieren des Glücks

Comic | Antonio Altarriba/Joaquim Puigarnau Aubert: Die Kunst zu fliegen Der Autor und Literaturprofessor Antonio Altarriba und der Zeichner Kim sind in der spanischen Comicszene große Namen. In Deutschland hat man noch kaum von ihnen gehört, doch glücklicherweise hat es ihr meisterhafter Comic-Roman ›Die Kunst zu fliegen‹ bei Avant zu einer deutschen Veröffentlichung gebracht. BORIS KUNZ über eine Reise durch fast 100 Jahre spanischer Geschichte.

Requiem for a dream

Comic | Ville Tietäväinen: Unsichtbare Hände Der Marokkaner Rashid bricht nach Europa auf, in der Hoffnung, dort genug Geld für seine Familie verdienen zu können. Doch sein Traum von einer besseren Welt wird gnadenlos an der Wirklichkeit zerschellen. Der finnische Comicautor Ville Tietäväinen hat Rashid und dessen Schicksal zwar frei erfunden, doch es steht exemplarisch für Tausende Flüchtlinge, und es geschieht Jahr um Jahr wieder. ›Unsichtbare Hände‹ ist eine bewegende Graphic Novel über ein immer drängenderes Thema. BORIS KUNZ hat Rashid auf seiner Reise begleitet.

Das große Abenteuer

Comic | Emmanuel Lepage, Francois Lepage: Weiß wie der Mond Mit ›Weiß wie der Mond‹ legt Emmanuel Lepage eine weitere beeindruckende Reisereportage vor, die an seine berühmte ›Reise zum Kerguelen-Archipel‹ anknüpft. Sein Bruder Francois war diesmal mit ihm unterwegs und steuert dem Buch nicht nur seine Fotos sondern auch sich selbst als Protagonisten einer sehr persönlichen Erzählung bei. BORIS KUNZ fühlt sich nach der Lektüre um einige nicht gemachte Erfahrungen reicher.

Auch als Torso lesenswert

Comic | Burkhard Ihme (Hg.): Comic Jahrbuch 2017 Das Comic Jahrbuch ist das größte Projekt des Interessenverbands Comic Cartoon Illustration Trickfilm (ICOM). Es erscheint seit dem Jahr 2000 nahezu regelmäßig, aktuell im 17. Jahrgang. Es ist unter den bekannten Publikationen die, die den Fokus auf die deutschsprachige Szene legt. Sie ist bekanntlich nur zu einem kleinen Teil professionalisiert – das großformatige Jahrbuch erfasst auch Künstler, die aus der Fanszene kommen, und untersucht ihre Situation. Was die neue, ein wenig reduzierte Ausgabe bietet, hat sich ANDREAS ALT angesehen.

Das Erbe der Bilderhefte

Comic | Meter/Raidt: Böse Geister Billige Gruselcomics sind nicht totzukriegen. Immer wieder strecken sie ihre untoten Finger aus den Grüften der 50er, 70er und 80er Jahre in unsere Gegenwart und bringen neue Comicreihen wie Malcom Max hervor – oder die wehmütige, nostalgische Reminiszenz Böse Geister von Peer Meter und Gerda Raidt. Letztere ist eine Milieustudie deutscher Nachkriegsbefindlichkeit im Gewand einer kleinen modernen Gruselgeschichte. BORIS KUNZ hat sich mit den Geistern der Vergangenheit auseinandergesetzt.