Polen: Auch nach den Europawahlen dominiert die PiS trotz sich verändernder politischer Szene

Hintergrund

Die Europawahl am 26. Mai 2019 hat die Befürchtungen bestätigt: Die nationalkonservative Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) ist mit einer deutlichen Mehrheit als Sieger der Wahl hervorgegangen. Welche Ursachen hat dieses Wahlergebnis und wie hat sich die politische Stimmung im Land verändert?

Menschen demonstrieren in Polen vor der Europawahl

Trotz berechtigter Hoffnungen der Oppositionsparteien und einem für die Regierungspartei nicht optimalen Start der Wahlkampagne ist doch alles so gekommen wie befürchtet. In Abwandlung eines alten Witzes über die deutsche Fußballnationalmannschaft könnte man über das Abschneiden der nationalkonservativen Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) in den Wahlkämpfen der letzten 5 Jahre feststellen: ein Wahlkampf dauert 6-8 Wochen, ist entweder langweilig oder voller Skandale, aber am Ende gewinnt immer die PiS. Und diesmal auch noch mit einem Bestergebnis!

In der ersten Liga hatte sich die Koalicja Europejska (Europäische Koalition, KE) unter Führung der Platforma Obywatelska (Bürgerplattform) nach behäbigem Start in den – in Polen recht unzuverlässigen – Umfragen zunehmend ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der PiS geliefert. Mit 38,3% hat sie eigentlich ein ordentliches Ergebnis eingefahren, aber die PiS hat sie mit 45,4% deutlich hinter sich gelassen. Unter den Zweitligisten hat es nur die neugegründete progressive Wiosna (Frühling) mit 6,1% ins Parlament geschafft, wohingegen die ultrarechte Konfederacja (Konföderation) mit 4,6% und die bisher noch im Sejm vertretene rechtspopulistische Kukiz’15 (3,7%) die 5-Prozent-Hürde verpasst haben. Die verbleibenden Listen, einschließlich der linken Lewica Razem (Linke gemeinsam) mit 1,2% und der Polexit-Koalition mit 0,06% spielen politisch keine Rolle.

Zunehmende gesellschaftliche Polarisierung um nationale Deutungshoheit

Diese Stimmenverteilung spiegelt die anhaltende gesellschaftliche Polarisierung und das zunehmend ermüdende Ringen um die politische Interpretationshoheit wider. Allerdings wird auch ein gewisses Veränderungspotential erkennbar. Dafür spricht auch die mit ca. 45% historisch hohe Wahlbeteiligung, die sich im Vergleich zur letzten Europawahl beinahe verdoppelt hat (2014: 24%). Die verfügbaren Informationen zur Verteilung der gesellschaftlichen Unterstützung der wichtigsten Gruppierungen bestätigen dabei einen schon seit geraumer Zeit sichtbaren Trend:

Ihm gemäß findet die primäre Auseinandersetzung zwischen PiS und KE vor allem unter Angehörigen jener älteren Generationen statt, die die Zeit seit der Gründung der gewerkschaftlichen Freiheitsbewegung Solidarność (dt. Solidarität) aus persönlichem Erleben kennen und aktiv mitgestaltet haben. Dabei spricht die derzeitige Regierungspartei vor allem die im Transformationsprozess vernachlässigte und traditionell konservativere ländliche Provinz und die Kleinstädte sowie Familien an, während die KE in den Metropolenregionen und Großstädten überproportional stark vertreten ist. Obwohl unter den jüngeren Generationen die Bereitschaft zur Unterstützung anderer Parteien deutlich stärker ausgeprägt ist, ist auch hier die Auseinandersetzung stark ideologisch aufgeladen und sozial polarisiert, wie die Beispiele von Wiosna (gut ausgebildetes Stadtbürgertum, Frauen) und Konfederacja (fast ausschließlich männliche Neu- und Jungwähler) zeigen.

Es geht um die anstehenden nationalen Parlamentswahlen

Der Wahlkampf war für alle wichtigen Listen materiell und personell sehr intensiv, gleichzeitig aber in gewisser Hinsicht ungewohnt und voller Ungewissheiten. Überall war zu spüren, dass es um mehr ging als „nur“ die Europawahlen, sondern sich alle bereits für die im Herbst anstehenden Parlamentswahlen positionieren wollten und deswegen innenpolitische Themen in den Vordergrund stellten. Die PiS, weil sie dann aus systemischen und innerparteilichen Gründen ihre absolute Mehrheit unbedingt verteidigen muss. Die Bürgerplattform, weil sie ein gutes Ergebnis der KE braucht, um dieses Wahlinstrument zu verstetigen, das ihre eigene relative Schwäche kompensiert, zumal die KE eben doch einen Teil der Wählerschaft der sie bildenden Einzelparteien (vor allem bei PSL und SLD) an andere verliert. Die neugegründeten Gruppierungen Wiosna und Konfederacja müssen hingegen beweisen, dass es in Polen in naher Zukunft eine reale Möglichkeit für Politik außerhalb des alten Duopols gibt und die Stimmen für sie in der Wahlarithmetik nicht „verschwendet“ sind.

Wahlentscheidend: Soziales, Propaganda, Verteidigung nationaler Souveränität

Dass die PiS weiterhin, gerade auch im europäischen Vergleich, nach vier an Aufregungen reichen Regierungsjahren solch starke Ergebnisse einfährt, überrascht dennoch angesichts ihrer zunehmenden Probleme – angesichts einer zuletzt steigenden Anzahl von (Korruptions-)Affären und ihrer Vielfrontenstrategie bei wichtigen Reformanliegen (Justiz, Bildung, Renten, Gesundheit, Steuersystem, Wirtschaftspolitik, Regionalentwicklung) waren einige Beobachter davon ausgegangen, dass die Nationalkonservativen merklich an Ausstrahlungskraft und Dynamik einbüßen würden. Zudem konnte die ideologisch eher eklektische Konfederacja die PiS auf ihrem ureigenen Territorium angreifen, wenn sie auf eine unmissverständliche Verteidigung katholischer Werte pocht und die Doppelzüngigkeit der PiS im Bereich Migration bloßstellt, die Bürgerkriegsflüchtlinge ablehnt, aber weit mehr als eine Million Arbeitsmigranten ins Land gelassen hat.

Wahlentscheidend war dann wohl aber doch die (bislang) gute wirtschaftliche Konjunktur und die äußerst populäre Umverteilungspolitik im sozialen Bereich, die vermutlich bisherige Nichtwählerinnen und Nichtwähler mobilisiert hat. Gerade hier hatte die PiS im Wahlkampf mit „Kaczyńskis Fünferpack“ nochmals massiv nachgelegt und unter anderem das Kindergeld ausgeweitet, einen 13. Rentenmonat versprochen und jungen Beschäftigten bis zum 26. Lebensjahr eine Streichung der Einkommenssteuer in Aussicht gestellt. Dass die PiS-Finanzministerin Teresa Czerwińska dieses Programm für unbezahlbar und wirtschaftlich unvertretbar hielt und deswegen zurücktreten wollte, hat offenbar wenige Wählerinnen und Wähler irritiert. Zudem sollte auch die Strahlkraft der „symbolischen Souveränitätspolitik“ der PiS, die in der europäischen Zusammenarbeit und auf internationalen Parkett ostentativ Respekt, Anerkennung und mehr direkte Einflussnahme für Polen einfordert, in breite gesellschaftliche Gruppen hinein nicht unterschätzt werden.

Die PiS hat erneut unmissverständlich gezeigt, dass sie ihre Machtinstrumente – die von der Regierung gelenkten Staatsmedien, die oppositionelle Kräfte tagtäglich diskreditieren, die Strafverfolgungsbehörden und Geheimdienste, die sich nicht zu schade sind „politische Fälle“ zu produzieren, sowie das Erkaufen von politischer Unterstützung – rücksichtslos zum Einsatz zu bringen gewillt ist. Die Liberalen und Progressiven in KE und Wiosna haben sich bemüht, trotz des klaren Willens zur Rücknahme der kontroversen PiS-Reformen im Justizsektor, Themen mit Bezug auf Regionalentwicklung und Nachhaltigkeit in den Vordergrund zu stellen und damit einen längerfristigen gesamtgesellschaftlichen Trend aufzunehmen.

Außerdem war ein ungewöhnlich starker Nachdruck auf gesellschaftspolitischen Themen (Frauenrechte, säkularer Staat) zu erkennen, der auf den letzten Metern der Kampagne auch durch das „polnische Spotlight“, den unabhängig finanzierten Dokumentarfilm „Tylko nie mów nikomu“ (dt. „Nur sag es keinem!“) der Brüder Sekielski, unterstützt wurde. Trotz der über 20 Mio. Menschen, die diesen breit und heftig kommentierten Film über sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche in den vergangenen zwei Wochen gesehen haben, hat dies allen Erwartungen zum Trotz der eng mit dem Klerus verbündeten PiS nicht schaden können. Vermutlich auch deswegen, weil die Regierungspartei viel stärker in den Regionen präsent ist und die dort breit konsumierten Staatsmedien solche schwierigen Themen nicht transportieren.

Transformation der PiS von der „europaskeptischen“ zur „konservativen“ Partei?

Die Aussichten für die Parlamentswahlen sind damit äußerst spannend, wobei viele Faktoren im Moment noch unvorhersehbar sind. So bleibt unter anderem abzuwarten, ob die KE dem gewachsenen Druck standhalten kann, wie sich das Verhältnis zur auf einen Alleingang setzenden Wiosna entwickeln wird und inwieweit beide Gruppierungen vor allem auch neue (Nicht-)Wählerschichten erreichen können. Aber auch die langfristige europapolitische Relevanz des polnischen Ergebnisses muss sich noch zeigen. Mit Gewissheit lässt sich sagen, dass nach dem 26. Mai 2019 niemand im Europaparlament mehr behaupten kann, dass der „Souveränitäts“-Kurs der polnischen Nationalkonservativen, gerade auch im Hinblick auf Visionen zum europäischen Integrationsprozess, keine breite gesellschaftliche Unterstützung habe und deshalb ignoriert werden könne. Zudem wird die mit 27 Personen verhältnismäßig große Delegation der PiS von politischen Schwergewichten strotzen, die dieses Narrativ entscheidend mitgestaltet haben, auch wenn sie persönlich kaum europapolitische Erfahrungen haben.

Allerdings wird sich erst zeigen müssen, welche tatsächliche Schlagkraft sie im neuen Europaparlament entfalten können, auch weil die Fraktionsbildung noch nicht abgeschlossen ist. Mit der durch die PiS zuletzt betonten Distanz zu Le Pen und Salvini kommt auch eine Rückkehr zur EVP-Familie erneut auf die Agenda. Polen steht damit auch quer zum Aufstieg linker oder progressiver Kräfte, der in einigen europäischen Ländern zu verzeichnen ist. Die S&D bekommen lediglich eine achtköpfige Verstärkung der in der KE gestarteten SLD (5) und Wiosna (3) aus Polen. Und die Grünen müssen weiterhin Geduld aufbringen, bis sie bei sich polnische Parteikolleginnen und -kollegen willkommen heißen können.