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Sascha Lobo

Künstliche Intelligenz und Arbeitsmarkt Wo bleibt Ihr Aufruhr?

Sascha Lobo
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Glauben Sie wirklich, künstliche Intelligenz könne Sie auf Ihrem schönen Kreativarbeitsplatz nicht ersetzen? Sie werden sich wundern.
AI-Schriftzug (Artificial Intelligence) beim Mobile World Congress: Spektakuläre Fehleinschätzung der Wirkmacht

AI-Schriftzug (Artificial Intelligence) beim Mobile World Congress: Spektakuläre Fehleinschätzung der Wirkmacht

Foto: Josep Lago / AFP

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Alle paar Jahre habe ich diesen wiederkehrenden Albtraum: Ich befinde mich in einer Welt, die der realen fast vollständig gleicht. Bis auf ein Detail, das dafür aber komplett anders ist. Die Details können unterschiedlich sein, zum Beispiel, dass die Farben der Verkehrsampeln nicht Rot, Gelb und Grün, sondern Rot, Gelb und Blau waren. Das ist alles, nur dieser minimale Unterschied. Der Traum fühlt sich vor allem wie ein Albtraum an, weil alle Menschen um mich herum so tun, als sei das normal. Dabei sind doch Ampeln grün!

Am Ende geht es darum, dass entweder Normalität vorgetäuscht wird, wo keine ist. Oder, dass die absolute Außergewöhnlichkeit einfach nicht erkannt wird. Ein ungefähr diesem Albtraum entsprechendes Störgefühl hat sich bei mir in den letzten Wochen verfestigt, und ich möchte ihm nachspüren. Es lässt sich zusammenfassen als: Wo bleibt der KI-Aufruhr?

Dahinter steht meine feste Überzeugung, dass wir soeben den öffentlichen Start einer Revolution miterleben, die mindestens so groß wird die Industrialisierung oder die flächendeckende Einführung der Elektrizität. Mein Störgefühl speist sich daraus, dass unglaublich wenige Menschen zu realisieren scheinen, wie radikal die Umwälzungen durch künstliche Intelligenz sein werden. Insbesondere auch solche, die es eigentlich wissen müssten.

In den letzten Wochen habe ich mit vielen Menschen gesprochen, deren berufliche Hauptaufgabe es ist, Texte zu verfassen. Nicht eine einzige Person darunter hat auch nur den Anflug einer Sorge um den gegenwärtigen Job erkennen lassen, obwohl sich viele der Gespräche um KI und deren Fähigkeiten gedreht haben.

Soeben hat der Verlag Axel Springer seinen Umbau angekündigt – insbesondere wegen künstlicher Intelligenz, die »Journalismus und Mediengeschäft revolutionieren« werde, und weil KI den Journalismus »unterstützen oder ersetzen« könne. Die Rede ist von Automatisierung der journalistischen Produktion. Eigentlich müsste das eine Nachricht von größter Sprengkraft sein, aber sie wird von potenziell unmittelbar betroffenen Journalist*innen fast wie eine Nebensächlichkeit diskutiert.

Man spürt förmlich die Haltung: »Haha, ja klar, welche KI soll mein großartiges Textwerk denn ersetzen?«. Und natürlich singt die Gewerkschaft das Lied von der Überlegenheit der menschlichen Leistung, wörtlich: »journalistische Vielfalt« , die offenbar nur mit menschlicher Intelligenz möglich sei.

Das halte ich für eine spektakuläre Fehleinschätzung der Wirkmacht dieser Technologie. Es ist eine Frage der Zeit, bis im SPIEGEL regelmäßig Artikel erscheinen, die von einer künstlichen Intelligenz produziert werden. Und Podcasts. Und Filme.

Ein Teil des Journalismus kann sofort durch KI ersetzt werden

Die gesellschaftliche Debatte und die Leute, die sie führen, sind schon immer schlecht darin, die Wirkmacht von Technologien richtig einzuschätzen. Insbesondere in Deutschland. Über Twitter wurde 2008 diskutiert, als käme es direkt aus der Hölle und würde Gehirne fressen. Google Street View löste 2010 eine Debatte aus, als hätte Google angekündigt, Deutschlands Badezimmer sämtlich mit öffentlichen Livekameras auszurüsten. Ab etwa 2012 wurde wegen Instagram einer ganzen Generation unterstellt, narzisstisch, egoistisch, depressiv und überhaupt psychisch krank zu sein.

Noch 2014 lachte man über die abgedrehten Knalltüten, die auf Elektromobilität setzten, 2016 ergossen sich Häme und Massenverachtung über die Leute, die Pokémon Go spielten und so weiter – praktisch jedes Mal entstanden große, gesellschaftliche Debatten über Für und Wider, über Konsequenzen und Umgangsstrategien. Es ist also nicht so, als könne Deutschland nicht groß über Techthemen debattieren, auch wenn das meiste davon abwehrend, negativ, pessimistisch ist. Aber im Vergleich etwa zur hyperventilierenden Gigantodiskussion über Google Street View samt X Talkshows und Titelseiten ist die gegenwärtige KI-Debatte winzig, harmlos und irrelevant.

Wir erahnen gerade erst mit Instrumenten wie ChatGPT den Anfang einer Alltag prägenden künstlichen Intelligenz. Jeder Techkonzern ist dabei, eigene KI-Produkte oder gleich ganze Systemlandschaften zu entwickeln. Zuletzt hat Meta-Chef Mark Zuckerberg eine eigene »generative AI« angekündigt . Die Basis dafür ist »LLaMA«, ein eigenes »LLM«, was Large Language Model heißt und im Kern daraus besteht, Sprache computernutzbar zu machen.

ChatGPT zum Beispiel ist ein LLM. Es funktioniert über eine lernende Mustererkennung, die Wahrscheinlichkeiten berechnet, etwas vereinfacht gesprochen: Welches Wort kommt wie wahrscheinlich in einem Text über Kartoffeln nach dem Wort »kochen«? Auf diese Weise wringt die KI einen statistischen Sinn aus den Abermilliarden Worten und Wortteilen, die sie im Training ausgewertet hat.

Ich kann nur wiederholen, dass jede Person umgehend ausprobieren sollte, wie ChatGPT funktioniert. Das geht auch auf Deutsch, und wenn man nicht abwehrend herangeht, wird man einerseits sehr fasziniert sein. Und andererseits sehr alarmiert, wenn man auf die verschiedenen beruflichen Aufgaben schaut. Ein Teil des Journalismus kann nämlich sofort durch KI ersetzt werden, Gewerkschaft hin oder her. Ein Teil schöpferischer Textarbeiten, ein Teil juristischer Textarbeiten, ein Teil klassischer Büro- und Organisationsarbeiten ebenso.

Bis vor einiger Zeit haben viele Leute, selbst Expert*innen, behauptet, »Kreativität« sei eine der Stärken, die die Maschine niemals ersetzen könne, weshalb man beruflich auf Kreativität setzen solle, um sich zukunftssicher aufzustellen. Das war schon damals Unfug, weil zum Beispiel in klassischen deutschen Konzernen »Kreativität« nur selten und erst recht nicht in allen Abteilungen gefragt ist.

Jetzt ist es doppelt Unfug, weil KI schöpferisch tätig ist. Und das jetzt schon, ganz am Anfang, in einer Qualität, die viele Menschen gar nicht erreichen. Spaßeshalber hier eine sehr unvollständige Aufzählung von Tätigkeiten, für die Menschen bisher bezahlt werden, die inzwischen Maschinen viel günstiger hinbekommen: Übersetzungen, Betriebsanleitungen und Anleitungsbücher schreiben, Verträge abgleichen und auswerten, Texte oder ganze Bücher zusammenfassen, Symbolfotos, Funktionszeichnungen oder Illustrationen anfertigen, Fragen zur Funktionsweise von Software beantworten, Excel-Tabellen strukturieren, Nachhilfe leisten, Nutzwert- oder Informationsartikel verfassen, eine Videokonferenz strukturiert zusammenfassen, Werbeanzeigen und ganze Kampagnen erstellen, buchen und ausliefern, Logos entwerfen, Drehbücher schreiben, Musik produzieren, Anleitungsvideos erstellen, Apps und Websites programmieren.

KI ist für den Fachkräftemangel ein Segen

Für fast jede dieser Aufgaben gibt es unterdessen Dutzende Anbieter. Wer sich dafür näher interessiert, schaut auf einer der vielen KI-Toolsammlungsseiten wie eluna.ai oder futurepedia.io nach. Natürlich sind manche der KI-Instrumente qualitativ noch nicht optimal aufgestellt, um es sanft auszudrücken. Trotzdem ist es kein sinnhaftes Argument mehr zu sagen: Dieser KI-Artikel ist zu schlecht, um eine Autorin zu ersetzen, oder diese App ist viel schlechter in Nachhilfe als unser Nachhilfelehrer.

Denn das entscheidende Wort lautet: noch. Es gibt seit Jahren eine immer besser werdende KI-Therapeutin namens Cass . Sie hat einen großen Vorteil: Sie ist immer verfügbar. Manchmal ist schon heute eine mittelgute, verfügbare Maschinentherapeutin besser als eine wirklich großartige, sehr erfahrene menschliche Therapeutin, die erst in acht Monaten einen Probetermin anbieten kann.

Es ist oft die Rede davon, dass Technologie keine Jobs vernichte, sondern nur verschiebe, und das trifft im Großen und Ganzen wahrscheinlich auch auf künstliche Intelligenz zu. Aber diese Verschiebung bedeutet in Zeiten von KI für die Betroffenen oft, dass ihre wichtigsten Fähigkeiten weniger wert werden. Natürlich ist KI für den Fachkräftemangel ein Segen, weil hinter diesem Mangel oft ein anderer Mechanismus steht: Wir brauchen jemanden mit Fähigkeit X; die Person einzustellen, lohnt sich aber nur, wenn sie maximal Y verdient. Mit künstlicher Intelligenz aber bekommt man plötzlich hohe Qualität zum Preis einer Arbeitskraft, die die Arbeit selbst nicht beherrschen muss, sondern nur eine Maschine verwaltet. Oder hundert Maschinen verwaltet.

Wir stehen vor einer KI-Revolution, mindestens so groß wie die Industrialisierung, und sie wird in den nächsten fünf Jahren Leute betreffen, die heute nicht einmal davon albträumen, durch Maschinen ersetzt zu werden. Oder eben: in schlechter bezahlte Jobs verschoben zu werden. Das ist der vielleicht größte Unterschied zu allen bisherigen Automatisierungen durch Technologie: Bisher waren von Automatisierung vor allem Leute in Fabriken und Werkstätten betroffen, also Arbeiter. Diesmal sind die Leute in den Büros betroffen, die mit Abitur und Studium, mit Karriereplan und Assistenz, mit Anzug und Kostüm.

Wo also bleibt der KI-Aufschrei? Wo bleibt die große KI-Debatte? Wo bleibt der KI-Aufruhr? Oder sind Ampeln wirklich blau?