Das Wunder von Wulsdorf
Vor wenigen Jahren galt der Stadtteil in Bremerhaven als hoffnungslos verwahrlost. Heute ist er Vorzeigeobjekt. Der Trick: Neue Einfamilienhäuser lockten neue BürgerSogar an ein korrektes Recycling von Baustoffen wurde in Bremen gedacht
Dank üppiger Förderung wurden die alten Wohnblocks aufwendig saniert und energieeffizient ausgebaut. Alle Alt-Mieter konnten bleiben
Eintönige Wohnblocks mit grauen, graffitibesprühten Wänden, überall Müll, dazwischen Abstandsgrün, das auch keinen besseren Namen verdient: Wer noch vor einigen Jahren zu Besuch in Bremerhaven-Wulsdorf war, sah zu, dass er das Viertel spätestens bei Einbruch der Dunkelheit verlassen hatte. Die Siedlung am südlichen Rand der Stadt war zum sozialen Brennpunkt verkommen, Kriminalitäts-, Arbeitslosen- und Sozialhilfequoten lagen doppelt so hoch wie im restlichen Stadtgebiet. Der Niedergang von "Flachdachhausen", einer ehemaligen Arbeitersiedlung, die aus der Wohnungsnot der Nachkriegszeit entstanden war, hatte mit der Fischerei- und Werftenkrise in den 1970er-Jahren eingesetzt. Wer jung und flexibel war, zog weg. Auf dem fünfeinhalb Hektar großen Areal blieb zurück, wer keine andere Wahl hatte.
Es war nicht Altruismus, sondern schiere Not, die den Bremerhavener Senat nach Jahren der Passivität Ende der 1990er-Jahre zum Handeln zwang. Von den 400 Wulsdorfer Wohnungen standen 130 leer, im restlichen Stadtgebiet waren es 5000. In Wulsdorf spiegelte sich die Misere der strukturschwachen Region an der Nordsee wie in einem Brennglas. Da musste der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Stäwog das vom Bundesbauministerium gerade aufgelegte Förderprogramm "Stadtumbau West" wie der lang erwartete Rettungsring erschienen sein. Endlich konnte die notorisch finanzschwache Gemeinde vom Geldsegen des Stadtförderungsprogramms profitieren. Ähnlich dem zehn Jahre zuvor initiierten "Stadtumbau Ost", der dem wendebedingten Leerstand von 1,3 Millionen Ost-Wohnungen entgegenwirken wollte, sollte nun der Umbau strukturschwacher Städte im Westen vorangetrieben werden.
Die Bilanz des Stadtumbaus Ost ist, soweit man diese nach elf Jahren überhaupt schon ziehen kann, eher durchwachsen. Vor allem der brachiale "Rückbau", die euphemistische Umschreibung der Stadtplaner für "Abriss", auch von historischer Bausubstanz wie er etwa in Chemnitzer Gründerzeitvierteln ohne Rücksicht auf den Denkmalschutz betrieben wurde, stieß auf heftigen Bürgerprotest und sorgte bundesweit für Schlagzeilen. Insgesamt wurden im Zuge des Umbaus Ost 300 000 Wohnungen "rückgebaut", bis zum Ende des Förderprogramms in drei Jahren ist der Abriss von weiteren 250 000 Wohnungen geplant. Allerdings betrifft dies zum größten Teil Plattenbauten am Stadtrand. Die industriell vorgefertigten Neubausiedlungen waren, anders als die Altbauten der Innenstädte, am stärksten vom Abwanderungsprozess ihrer Bewohner seit der Wiedervereinigung betroffen. Es gibt aber auch Erfolgsgeschichten wie die Ahrensfelder Terrassen, ein gelungenes Facelifting im nördlichen Marzahn, der größten Plattenbausiedlung der DDR. Durch den gestaffelten Abriss von oberen Stockwerken der Hochhäuser ist eine großzügige Terrassenlandschaft entstanden, die auch dank der neuen, warmen Farben beinahe mediterranes Flair verbreiten und neue Käufer und Mieter anziehen konnte.
Dies ist in Bremerhaven-Wulsdorf auch gelungen, und zwar so erfolgreich, dass es für einige Wohnungstypen schon Wartelisten von Mietinteressenten gibt. Wer heute die Ringstraße mit ihren sorgfältig gestutzten Buchenhecken und gepflegten Vorgärten entlanggeht, kann sich kaum vorstellen, dass die in strahlendem Weiß und sonnigem Gelb leuchtenden Fassaden noch vor wenigen Jahren grau und zerlöchert waren. Auf dem mit dem Deutschen Spielraumpreis ausgezeichneten Abenteuerspielplatz "1001 Nacht", der verkehrsgeschützt zwischen den Häuserblocks liegt, toben kleine Kinder. Es sind viele ausländische Kinder dabei, aber neuerdings kommen immer mehr deutsche Kinder dazu - aus den neu gebauten Einfamilienhäusern gleich nebenan. Diese hat die Stäwog an der Stelle einiger abgerissener Wohnblocks dank Fertigbauweise zum günstigen Preis von rund 140 000 Euro gebaut und sofort Käufer gefunden. Es ist vor allem der Initiative des kreativen und charismatischen Stäwog-Architekten Hans-Joachim Ewert zu verdanken, dass Wulsdorf zur Modellstadt für eine "Soziale Stadt" wurde und Stadtplaner aus ganz Deutschland inzwischen anreisen, um sich das "Wunder von Wulsdorf" erklären zu lassen.
Denn es ist viel mehr als nur die Ästhetik, die sich radikal geändert hat. Der Ehrgeiz des Sozio-Öko-Architekten Ewert lag darin, nicht nur die Kriminalität zu senken und das Zusammenleben der Bewohner zu verbessern, sondern Wulsdorf obendrein noch zu einem Vorzeigeviertel in Sachen Energieeffizienz zu machen. Durch wärmedämmende Maßnahmen und den Einsatz von erneuerbaren Energien konnten die Heizkosten mehr als halbiert und der CO2-Ausstoß um 90 Prozent reduziert werden. "Wir sind heute das einzige Massenwohnquartier, das aus einem ehemaligen sozialen Brennpunkt zu einem Vorreiter der Energiewende geworden ist", sagt Ewert. Aus "Flachdachhausen" ist "Flugdachhausen" geworden, denn Ewert hat mit geringem finanziellem Aufwand den ungeliebten Flachdächern aufgeständerte Flugdächer aus Holz und Eternit aufgesetzt. "Die Menschen, die sich früher geschämt haben, hier zu wohnen, sind jetzt richtig stolz auf ihr Viertel." Und es zieht keiner mehr weg. Es kommen vielmehr immer noch neue Bewohner dazu. Nicht nur junge Familie ziehen wieder aus dem Umland in die Stadt nach Wulsdorf, auch Demenzkranke und junge alleinerziehende Mütter, die in "Anderland", einem schön restaurierten dreiteiligen Wohnkomplex im Viertel, eine völlig neue Form des Zusammenlebens erproben. In den neuen, liebevoll gepflegten Mietergärten trifft man sich im Sommer und spricht miteinander - ganz ohne trennenden Gartenzaun. Und wer mal Sorgen mit seinem Nachbarn hat, kann sich jederzeit an einen der Sozialarbeiter in der sogenannten Wohnung in einem der Mietshäuser wenden, einer gern besuchten Institution.
Besonders stolz ist Hans-Joachim Ewert auf die Tatsache, dass es gelungen ist, trotz der jahrelangen Sanierungsarbeiten keinen der alten Mieter zu verlieren. Für die Stäwog kam, auch wenn die Nachbarn der unbeliebten Siedlung das damals gern gesehen hätten, ein Abriss des Viertels nicht infrage. "Wir wollten in Wulsdorf nicht 'Verschiebebahnhof' spielen für Menschen, die hier schon 40 Jahre gelebt und ihre Heimat gefunden haben, was besonders Sinti, Roma und türkische Familien betroffen hätte."
Ewert ärgert sich darüber, dass in Deutschland pro Kopf und Jahr 17 Tonnen Baumaterial verbaut werden und jedes Jahr durch Abrissmaßnahmen Bauschutt von 31 Millionen Tonnen anfällt. Und er ist froh, in Wulsdorf auch in Sachen Baustoff-Recycling ein Exempel statuieren zu können. Der Architekt weiß: "Für die Bestandssanierung wird meist nur ein Drittel des Materials benötigt wie für den Neubau." Untersuchungen zeigten zudem, dass die notwendige Energie für die Herstellung der Baustoffe, für die Erstellung der Gebäude, für den späteren Abriss und die Entsorgung von ähnlicher Bedeutung ist wie die eigentliche Betriebsenergie. Nur die ganzheitliche Betrachtungsweise des Lebenszyklus eines Gebäudes würde den wahren Energieaufwand angeben.
Vielleicht hatten die Bewohner von Wulsdorf aber auch einfach Glück. Denn entscheidend war am Ende wohl auch, dass alle Häuser einer Wohnungsbaugesellschaft gehörten und die Pläne deshalb aus einer Hand kamen. In Leipzig dagegen scheiterte die Sanierung der problembehafteten Plattenbausiedlung Leipzig-Grünau am Streit der unterschiedlichen Eigentümer, die sich nicht auf einen Sanierungsstandard einigen konnten. Ob Stadtumbau Ost oder West: Üppige Förderung führt nicht automatisch zum Ziel.