In die Viktoriastrafle 100 in Essen-Katernberg schickt der deutsche Soldat Franz Schneider am 5. August 1944 eine Mitteilung. Seiner Mutter und seinem Bruder schreibt er, dass er wohlauf sei in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft unter der texanischen sengenden Sonne im Kriegsgefangenenlager.

Eben jene Mitteilung liest Franz' Enkel Martin auf dem Flug nach Texas, denn mit ihm wird Franz nun Jahrzehnte später an die Orte und Stationen seiner Kriegsgefangenschaft zurückkehren. Dabei stehen sich Enkel und Groflvater nicht unbedingt nah. So die Ausgangssituation in Hannes Köhlers Ein mögliches Leben. Trotz der Gefangenschaft, in der auch Traumatisches geschieht, bleiben die USA für Franz sein ganzes Leben lang eine Verheißung von Freiheit; eine Aussicht auf Rückkehr; der Ausblick auf ein mögliches Leben. Doch die Geburt von Tochter Barbara (Martins Mutter) durchkreuzt die Pläne des ehemaligen Essener Bergmanns. Er wollte ohne seine Frau in die USA auswandern. Seine Tochter will er jedoch nicht zurücklassen und entscheidet sich gegen die Freiheit in den Staaten und für das Leben mit Frau und Kind in Essen. Ein Umstand, der die Familie Schneider bis in die Gegenwart beeinflusst. Denn auch das Verhältnis von Barbara und Franz ist distanziert. Die Amerika-Reise wird für Franz im hohen Alter nicht nur eine Aufarbeitung seiner Vergangenheit. Der alte Mann öffnet sich zusehends und gewährt seinem Enkel und seiner Tochter den Zugang zu seinem Leben, der ihnen lange verwehrt geblieben war.

Ein mögliches Leben ist der zweite Roman des Berliner Autors Hannes Köhler. Die Inspiration für den Roman erhielt Köhler in der eigenen Familiengeschichte. Eine akribische Recherche, inklusive zweimonatiger USA-Reise, gingen dem Roman voraus.

lh

Köhler, Hannes: Ein mögliches Leben. Berlin: Ullstein 2017.

Link zur Karte