Thomas de Maizière

Flüchtlingskrise 2015 "Der Weg war richtig"

Stand: 27.08.2020 04:41 Uhr

Kanzlerin Merkels "Wir schaffen das" würde der damalige Innenminister de Maizière heute etwas anders formulieren. Er findet aber, dass es 2015 richtig war, Tausenden Menschen Schutz zu bieten.

Von Michael Stempfle, ARD Berlin

Thomas de Maizière hat nicht viel Zeit für Interviews in diesen Tagen. Der Ex-Bundesminister leitet eine internationale Expertengruppe. Im Auftrag der NATO soll das Gremium klären, wie die Einheit des Militärbündnisses gestärkt werden könne. Also genau das Bündnis, das der französische Staatspräsident Emmanuel Macron zwischenzeitlich für "hirntot" erklärt hatte.

De Maizière kann auf viel Erfahrung zurückgreifen. Gerade auch aus seiner Zeit als Innenminister. Gemeint ist vor allem das Jahr 2015, in dem immer mehr Schutzsuchende nach Europa und vor allem nach Deutschland kamen.

Die Absprachen mit den EU-Amtskollegen wurden häufiger und heikler. Zwar war es der ungarische Ministerpräsident Victor Orban, der Deutschland Anfang September 2015 darum bat, Flüchtlinge aus Budapest aufzunehmen. Doch schon wenige Wochen später, beim Sondertreffen der EU-Innenminister, sprach sich ausgerechnet Ungarn gegen eine Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU aus.

Es folgte der umstrittene Mehrheitsbeschluss der EU-Innenminister: Die Verteilung von 120.000 Flüchtlingen - gegen den Willen vieler Osteuropäer. Zum ersten Mal fassten die EU-Innenminister also keine einmütige Entscheidung in einer so wichtigen Frage. Für de Maizière bleibt dies auch im Nachhinein richtig. Vielleicht habe diese Entscheidung zu einer Verhärtung der Positionen geführt. Nur dazu wäre es vermutlich sowieso gekommen, meint er.

"Stellen Sie sich mal vor, sie hätte gesagt: 'Wir schaffen das nicht'"

Eine EU-Asylreform ist bis heute nicht gelungen. Und auch das Verhältnis zwischen Deutschland und Ungarn, zwischen Merkel und Orban ist belastet.

Ob Merkels Satz "Wir schaffen das" unter diesen Umständen richtig war? De Maizière zeigt sich noch immer loyal gegenüber seiner damaligen Chefin: "Stellen Sie sich einmal vor, die Kanzlerin hätte gesagt: 'Wir schaffen das nicht!'" Und dann ist da doch ein bisschen Distanz herauszuhören. "Vielleicht hätte sie sagen müssen: 'Es gibt große Probleme, aber wir schaffen es trotzdem.'"

In der Tat, die Ereignisse überschlugen sich vor fünf Jahren. Der Ex-Minister kann sie alle auswendig aufzählen: Der Kühllaster auf der österreichischen Autobahn A4 mit 71 erstickten Flüchtlingen - Ende August. Der zweijährige syrische Flüchtlingsjunge Alan Kurdi, der Anfang September an der türkischen Küste angespült wird. Die Ankunft von rund 20.000 Menschen am Münchner Bahnhof kurz danach. Und dann die Prognose aus dem Innenministerium: 800.000 Menschen werden nach Deutschland kommen.

Großer Druck von vielen Seiten

Im Nachhinein gesteht de Maizière "Fehler" ein. Etwa, dass sich manche Asylbewerber Mehrfach-Identitäten zulegen und zu Unrecht Geld kassieren konnten. All diese Probleme musste sein Ministerium in den Griff bekommen - unter ständig wachsendem Druck. Etwa von Oppositionsparteien. Dass nicht nur die Asylverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu lange dauerten, sondern auch die Zeit zwischen Ankunft und Antragstellung, war offensichtlich.

Auch das Zusammenspiel zwischen Union und SPD, zwischen Ministerium und Koalitionsspitzen war für de Maizière eine dauerhafte Bewährungsprobe. So habe er vorgeschlagen: Syrische Flüchtlinge, die sowieso bleiben dürften, sollten vorerst nicht geprüft werden, sondern in erster Linie diejenigen Asylbewerber mit schlechter Bleibeperspektive. "Dann hätten wir weniger Probleme mit Abschiebungen bekommen", so der Ex-Minister.

Die Koalitionsspitzen hätten damals abgewunken. De Maizière protestierte nicht, er gehorchte. Dass für syrische Flüchtlinge zwischenzeitlich Schnellverfahren eingeführt wurden, versuchte die AfD immer wieder auszuschlachten, zu Unrecht. Das stellte sich längst durch nachträgliche Kontrollen heraus. Die Schnellverfahren haben nur sehr selten zu unrechtmäßigen Entscheidungen geführt.

"Das hat mich tief erschrocken"

Während die große Mehrheit der Bevölkerung 2015 die Flüchtlingspolitik der Regierung stützte, schürten Rechtsradikale immer mehr Hass auf Flüchtlinge - und auch auf Politiker. So zum Beispiel in Heidenau im August 2015. "Ich lebe in Sachsen, ich bin hier zu Hause. Die Gossensprache und der Hass - das hat mich tief erschrocken", so de Maizière.

Auch die Ungeduld der Innenexperten der Unionsfraktion im Bundestag bekam de Maizière im Herbst 2015 zu spüren. Sie verlangten von ihm ein rigoroseres Vorgehen, warben für schärfere Grenzkontrollen, für Asylentscheidungen an der Grenze oder für die Schließung der Balkanroute. Überhaupt war ihnen der Innenminister zu loyal gegenüber der Kanzlerin, die die Schließung der Balkanroute ablehnte und den EU-Türkei-Deal favorisierte.

Im Rückblick hält de Maizière etwa die Schließung der Balkanroute, die ohne deutsche Initiative umgesetzt wurde, für richtig - aber nur in Verbindung mit Merkels EU-Türkei-Abkommen. "Die Schließung allein hätte nicht zu einer Lösung geführt, weil sich sonst sehr viele Schutzsuchende in Griechenland gesammelt hätten." Es hätte zu "gewaltsamen Durchbrüchen" kommen können.

In Krisen nicht nach Umfragen richten

Für de Maizière ließ der Druck auch 2016 nicht nach, im Gegenteil. Wieder zählt er auf: die Silvesternacht von Köln, der Anschlag auf deutsche Touristen in Istanbul im Januar 2016. Die Straftaten von einzelnen Flüchtlingen und schließlich diverse Anschlagsplanungen von Islamisten und das Attentat vom Berliner Breitscheidplatz. "Das bleibt auch bei einem Innenminister in den Kleidern hängen, das hat mich tief bewegt. Gerade ein Innenminister muss dann auch mit heißem Herzen leben und mit kühlem Verstand entscheiden."

Alles in allem habe sich die Regierung vielleicht ein bisschen zu sehr von Stimmungen leiten lassen, sagt der Ex-Minister im Nachhinein. Für ihn sei wichtig: In Krisen solle man sich nicht nach Umfragen und Stimmungen richten, sondern danach, wovon man tief im Innersten überzeugt sei. Mit dieser Haltung wird er wohl auch die Gespräche mit den nicht ganz einfachen NATO-Partnern führen. An Selbstbewusstsein mangelt es ihm nicht. Unterm Strich sei der Weg der Bundesregierung vor fünf Jahren richtig gewesen.