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Offener Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz

    Netzwerk Ella – Unabhängige Interessenvertretung von Frauen aus der Prostitution
    Homepage: netzwerk-ella.de, E-Mail: post@netzwerk-ella.de

    Offener Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz

    Sexkauf ist inakzeptabel – Nordisches Modell jetzt!

    Schlangenbad, 21.11.2023

    Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

    als Zusammenschluss von Frauen aus der Prostitution begrüßen wir Ihre am 15.11.2023 öffentlich geäußerte Position zum Thema „Prostitution und Sexkaufverbot“ von ganzem Herzen! Ihre Worte bestätigen sowohl unsere jahrelange Erfahrungen und Positionen als auch die Positionen und Empfehlungen des Europäischen Parlaments sowie anderer unzähliger Organisationen und Experten in Deutschland und im Ausland.

    Netzwerk Ella, als unabhängige Interessenvertretung von Frauen aus der Prostitution, ist das Sprachrohr für diejenigen, die keine Stimme haben – etwa, weil sie kein Deutsch sprechen –, die kein Gehör finden oder, die von Organisationen, welche Prostitution und Pornografie befürworten, nicht repräsentiert werden. Wir profitieren nicht von Prostitution Dritter und kooperieren nicht mit Profiteuren der Sexindustrie oder deren Interessenvertretern.
    Unser Fokus liegt auf der Situation von Frauen in der Prostitution. Aufgrund unserer sozio-ökonomischen Analysen und eigener Erfahrungen setzen wir uns dafür ein, dass Prostitution als ein System geschlechtsspezifischer Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung – das insbesondere Frauen trifft – erkannt und abgeschafft wird. Netzwerk Ella engagiert sich für eine Gesellschaft, in der Sexkauf geächtet wird, wobei Prostituierte entkriminalisiert werden und umfassende Unterstützung für ein Leben außerhalb der Prostitution bekommen, nach dem Vorbild solcher Länder wie Schweden, Frankreich oder Israel.

    Das Prostituierten-Schutzgesetz von 2017 ist, wie auch schon das Prostitutions-Gesetz von 2002, mehr als problematisch. Einerseits werden Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung in der Prostitution erkannt, andererseits wird die Annahme, Prostitution sei eine Dienstleistung nicht hinterfragt. Die inneren frauenverachtenden Strukturen der Sexindustrie blieben unangetastet und wurden sogar gestärkt. Den Prostituierten werden zudem Pflichten, Vorschriften und Sanktionen auferlegt, die kaum zu bewältigen sind und die Betroffenen in eine noch größere Not bringen. So kostet die Anmeldung in München 35 Euro – für eine Frau in einer Notlage ist das eine ernsthafte Hürde. Für Prostitution ohne Anmeldung droht aber ein Bußgeld von 1.000 Euro!
    Im Mittelpunkt der Maßnahmen steht nicht der Schutz von Prostituierten, sondern ihre Verwaltung, Reglementierung und Sanktionierung. Dadurch werden die Betroffenen weiter in Prostitution gehalten, denn um ihre Steuerschulden oder Bußgelder abzuzahlen, bleibt ihnen oft keine andere Option, als weiterhin der Prostitution nachzugehen. Gleichzeitig sind Wuchermieten und ungeschützter Sex allgemeine Praxis. Die Folgeschäden werden meist auf die Prostituierten selbst oder auf ihre Herkunftsländer abgewälzt. Davon profitieren sowohl die Staatskasse als auch Freier, Zuhälter, Bordellbetreiber und andere Akteure der Sexindustrie.

    Diese Praxis steht in einem grundlegenden Widerspruch zu mehreren politischen Dokumenten, von
    denen hier nur einige exemplarisch genannt werden:

    1. Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (1979)
    2. Entschließung des Europäischen Parlaments zur sexuellen Ausbeutung, zur Prostitution und deren Auswirkung auf die Gleichstellung der Geschlechter (2014)
    3. Entschließung des Europäischen Parlaments zur Umsetzung der Richtlinie 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer (2021)
    4. Entschließung des Europäischen Parlaments zur Regulierung der Prostitution in der EU: ihre grenzübergreifenden Auswirkungen und die Konsequenzen für die Gleichstellung und die Frauenrechte (2023)

    Seit der Legalisierung im Jahr 2002 sind mindestens 110 Frauen in der deutschen Prostitution gewaltsam gestorben. [1] Da hauptsächlich ausländische Frauen als Prostituierte in Deutschland tätig sind, ist die Lage so, dass viele von ihnen Mütter sind. Wenn diese Frauen sterben, bleiben ihre Kinder allein zurück. Oft ist dann niemand mehr für sie da…
    Die aktuelle Gesetzgebung kann nicht verhindern, dass deutsche Prostitution weitere Gewaltopfer und Waisenkinder zur Folge hat. Je länger diese akzeptierende Haltung gegenüber dem Sexkauf und der Sexindustrie insgesamt anhält, desto mehr Schaden tragen die Prostituierten davon, desto mehr Leben und Familien werden zerstört – in Deutschland und im Ausland. Auch die Ergebnisse der Evaluation des Prostituierten-Schutzgesetzes im Sommer 2025 werden daran nichts ändern…

    Aus unserer Sicht ist die effizienteste Lösung diejenige, die die Wurzel des Problems erkennt und dagegen angeht: Ohne das Geld der Freier kann das System der Prostitution nicht existieren. Alle Betreiber, Zuhälter, Menschenhändler und andere Profiteure hätten dann keinen Anreiz mehr…
    So wichtig Schutz und Unterstützung für Prostituierte auch sind, so ist eine erfolgreiche Einstiegs-Prävention auf lange Sicht strategisch entscheidend – noch bevor der Schaden angerichtet wurde. Die beste Prävention der Prostitution und sexueller Ausbeutung lautet: Nachfrage bekämpfen.
    Unserer Meinung nach erfordert die aktuelle Situation der Prostituierten schnelles Handeln für die gesamte Bundesrepublik Deutschland, auf allen Ebenen – jetzt – statt in zwei Jahren. Denn es gibt bereits erprobte systemische Lösungen und Deutschland ist in der glücklichen Lage, von den Erfahrungen anderer europäischer Länder, wie Schweden oder Frankreich, profitieren zu können. Auch das israelische Beispiel ist bemerkenswert. Es gibt einen Ausweg aus der aktuellen Misere – es ist das Nordische Modell.

    Profiteure aus Prostitution Dritter sprechen nicht in unserem Namen. Ihre Ziele und Forderungen widersprechen den Interessen von Prostituierten, stehen diesen sogar entgegen.
    Nach 22 Jahren liberaler Gesetzgebung ist es klar: Prostitution produziert Tote und Waisenkinder. Wir sehen, dass Sexkauf normalisiert wurde. Dass Freiwilligkeit sowohl die Freier-Gewalt als auch die Sanktionen gegen Prostituierte letztlich nur legitimieren soll. Die Notlagen und das Leid der prostituierten Frauen werden ignoriert, sie werden allein gelassen. Das ist unser Alltag. Das darf ein Rechts-Staat nicht zulassen.
    „Dies sollte dem Gesetzgeber Anlass genug sein, eine substanzielle Änderung der Gesetzeslage herbeizuführen, denn seit der Reglementierung von Prostitution im Jahre 2002 trägt der deutsche Gesetzgeber einen erheblichen Anteil an den Gefahren für Leib und Leben der Menschen in der Prostitution und persistiert die Möglichkeit von Grundrechtsverletzungen durch Dritte. Der Staat kommt seinen Gewährleistungspflichten für die Grundrechte in der Prostitution auch mit dem ProstSchG in keiner Weise ausreichend nach.“ [2]

    Deutschland muss aussteigen – endlich aussteigen aus dem System Prostitution!

    Mit freundlichen Grüßen

    Pani K.
    im Namen von Netzwerk Ella

    Quellen:
    [1] Schon: Ausverkauft! Prostitution im Spiegel von Wissenschaft und Politik (2021), S. 348-349
    [2] Mack, Rommelfanger: Sexkauf. Eine rechtliche und rechtsethische Untersuchung der Prostitution (2023), S. 187

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