Überhöhte Entgeltforderungen in besonderen Wohnformen

Zuletzt bearbeitet 8.8.2023

Die Reform der Eingliederungshilfe durch das Bundesteilhabegesetz trat vor gut drei Jahren in Kraft. Der Gesetzgeber wollte die Institutionenzentrierung der Eingliederungshilfe überwinden und ein System personenzentrierter Leistungen schaffen. Im Dezember legte die Bundesregierung eine Zwischenbilanz vor. Darin heißt es:

Weder in noch außerhalb von besonderen Wohnformen konnten bislang Veränderungen im Leistungsgeschehen beobachtet werden.” (Bundestagsdrucksache 20/5150, S. 13)

Doch das ist nicht alles. Seit 1.1.2020 haben auch Bewohnerinnen und Bewohner von besonderen Wohnformen Anspruch auf Grundsicherung nach dem SGB XII. Sie bekommen zwar nur den Regelsatz der Stufe 2 (451 € monatlich), aber das ist deutlich mehr als der Barbetrag und die Bekleidungspauschale, die sie früher bekamen.

Wenn sie Verpflegung durch die Einrichtung in Anspruch nehmen, müssen sie aus dem Regelsatz die Nahrungsmittel bezahlen, die die Einrichtung einkauft. Das kostet ungefähr 150 € im Monat (siehe: Teilnichtige Wohn- und Betreuungsverträge als Folge der „budgetneutralen Umstellung“ der Eingliederungshilfe, ASR (Heft 5) 2021, 195-21). Vielleicht sind es mittlerweile 160 €. Dazu mögen noch ein paar Euro für Hygieneartikel kommen, aber das war es dann.

Tatsächlich aber fordern die Leistungserbringer viel höhere Beträge von den Bewohnerinnen und Bewohnern. Damit finanzieren sie nicht nur Nahrungsmittel und Hygieneartikel, sondern auch einen Teil der Fachleistung, die eigentlich der Träger der Eingliederungshilfe bezahlen sollte. Im Bericht der Bundesregierung findet sich dazu die folgende Passage:

Die Leistungsberechtigten in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erhalten nunmehr die Regelbedarfsstufe 2. Ihre Barmittel ergeben sich nach Abzug der Kosten für den Lebensunterhalt in der besonderen Wohnform. Die in den Ländern überwiegend geltenden Übergangsregelungen sahen eine vereinfachte Bestimmung der neuen Barmittel vor. Eine dezidierte Auseinandersetzung, welche Leistungen in welcher Höhe vom Regelsatz bzw. Einkommen in Abzug gebracht werden, fand vor diesem Hintergrund in der Regel bisher nicht statt. Im Übergangszeitraum orientierte sich die Höhe der freien Barmittel am alten Barbetrag zzgl. Bekleidungspauschale, etwaiger Mehrbedarfe und verbleibenden Einkommens.” (Bundestagsdrucksache 20/5150, S. 13)

Im Klartext: Die Leistungserbringer nehmen den Leistungsberechtigten so viel Geld ab, dass ihnen genauso wenig bleibt wie zuvor.

Die Bundesregierung spricht hier von „geltenden Übergangsregelungen”, aber: Es gibt gar keine Übergangsregelungen, jedenfalls keine „geltenden” (BSG, 28.1.2021, B 8 SO 9/19 R, Rn. 19). Was es gibt, das sind sogenannte „Übergangsvereinbarungen”. In einigen steht tatsächlich, dass die Leistungserbringer den Leistungsberechtigten so viel Geld wegnehmen sollen, dass ihnen so wenig bleibt, wie sie früher hatten. Doch es gibt keine gesetzliche Ermächtigung für solche Vereinbarungen. Soweit sie die Frage betreffen, wie hoch die Entgelte sind, die die Leistungserbringer von Leistungsberechtigten verlangen, handelt es sich um Verträge zu Lasten Dritter, die keine Wirkung entfalten können (§ 57 SGB X).

Die überhöhten Forderungen werden in der Regel im Wohn- und Betreuungsvertrag (WBVG-Vertrag) vereinbart. Doch auch das kann die Leistungsberechtigten nicht binden. Das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG) ist zwingendes Recht. Wenn ein Vertrag dagegen verstößt, ist das unwirksam (§ 16 WBVG).

7 Absatz 2 Satz 1 WBVG schreibt vor, dass eine Einrichtung von den Bewohnern nur ein Entgelt verlangen kann, das im Verhältnis zur Gegenleistung angemessen ist. Das heißt: Überhöhte Forderungen können nicht wirksam vereinbart werden. Wenn das trotzdem passiert (und wenn die überhöhten Entgelte auch gezahlt werden), können die Bewohnerinnen und Bewohner verlangen, dass die Einrichtung das, was überzahlt ist, zurückzahlt – und zwar rückwirkend und mit Zinsen (§ 812 BGB, § 819 BGB).

Die Verjährung beginnt erst, wenn die Leistungsberechtigten von ihrer Forderung wissen (oder wissen müssen, § 199 Absatz 1 BGB). Die Verjährungsfrist beträgt drei Jahre (§ 195 BGB). Sie endet also für Forderungen aus dem Jahr 2020 frühestens Ende 2023. Da kaum jemand erkennen kann, dass die Forderungen oft überhöht sind, wird die Verjährungsfrist in den allermeisten Fällen später beginnen.

Was können Betroffene tun?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich gegen überhöhte Forderungen der Leistungserbringer zu wehren. Man kann vom Leistungserbringer verlangen, dass er zurückzahlt, was er ohne Recht bekommen hat. Dabei kann man es sich leicht machen, indem man aufrechnet: Man zahlt solange gar nichts an den Leistungserbringer, bis es aufgeht. Dann zahlt man nur noch den angemessenen Betrag. Das sollte man dem Leistungserbringer mitteilen, z.B. so:

[Schreiben an den Leistungserbringer]

Das WBVG ist Verbraucherschutzrecht. Daher kann man sich auch an eine Verbraucherzentrale wenden und um Unterstützung bitten, z.B. mit einem solchen Schreiben:

[Schreiben an die Verbraucherzentrale]

Auch die Heimaufsicht sollte Betroffene unterstützen. Um die Heimaufsicht anzuschreiben, steht dieses Musterschreiben zur Verfügung:

[Schreiben an die Heimaufsicht]

Eine Möglichkeit, die einen gewissen Witz hat, liegt darin, sich an den Träger der Eingliederungshilfe zu wenden. Der Träger der Eingliederungshilfe ist verpflichtet, Leistungsberechtigte bei der Inanspruchnahme von Leistungen und bei der Aushandlung und dem Abschluss von Verträgen mit Leistungserbringern zu unterstützen (§ 106 Absatz 3 Nummern 5 und 8 SGB IX). Wenn er das nicht (oder nicht richtig) tut, kann die leistungsberechtigte Person ihn vor dem Sozialgericht auf Unterstützung verklagen:

[Schreiben an den Träger der Eingliederungshilfe]

Praktische Erfahrungen

Bislang wehren sich nur Einzelne gegen überhöhte Forderungen von Leistungserbringern, aber es kommt vor.

Aus einer Großeinrichtung in Baden-Württemberg wurde folgende Vorgehensweise bekannt: Wenn ein Bewohner oder eine Bewohnerin sich gegen zu hohe Forderungen wehrt, wird zunächst mit anwaltlichem Schriftsatz die Kündigung des WBVG-Vertrages angedroht. Wer stand hält, wird zu einem Gespräch eingeladen. Dann erfolgt das Angebot, dass der Eigenanteil, der aus dem Regelsatz gezahlt wird, nur noch 160 € (statt ungefähr 330 €) beträgt. Einzige Bedingung ist, dass darüber Stillschweigen bewahrt wird.

Eine große Einrichtung in Hessen hat es darauf ankommen lassen und einer jungen Frau mit einer geistigen Behinderung den WBVG-Vertrag Frist gekündigt. Die junge Frau hat die Einrichtung verklagt. Vor dem Landgericht nahm die Einrichtung die Kündigung zurück.

Fachaufsätze zum Thema

Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema enthalten die folgenden Aufsätze zum Thema der überhöhten Entgelte. Die Aufsätze haben große Überschneidungen setzen aber unterschiedliche Schwerpunkte.

  1. Schwerpunkt: Besondere Regelungen im SGB XII für sog. besondere Wohnformen
    Teil 1: Besondere Regelungen im SGB XII für sogenannte besondere Wohnformen – Teil I: Durchbrechung der Trennung der Leistungen der Eingliederungshilfe im SGB XII, Beitrag A26-2021 unter www.reha-recht.de; 20.9.2021, [Download_Rosenow_Reha-Recht_A26-2021]
    Teil 2: Besondere Regelungen im SGB XII für sogenannte besondere Wohnformen – Teil II: Folgen für WBVG-Verträge, Beitrag A27-2021 unter www.reha-recht.de; 22.9.2021, [Download_Rosenow_Reha-Recht_A27-2021]
  2. Schwerpunkt: Auswirkungen auf die WBVG-Verträge
    Rechtsgrundlose Zahlungen der Leistungsberechtigten in Einrichtungen der Eingliederungshilfe an die Leistungserbringer? – Zur „budgetneutralen Umstellung” der Eingliederungshilfe, Beitrag A28-2021 unter www.reha-recht.de; 22.09.2021 [Download_Rosenow_Reha-Recht_A28-2021]
  3. Umfassende Darstellung des Problems
    Teilnichtige Wohn- und Betreuungsverträge als Folge der „budgetneutralen Umstellung“ der Eingliederungshilfe, ASR (Heft 5) 2021, 195-211
  4. Schwerpunkt: Verbraucherschutzrecht/Möglichkeiten der Verbraucherzentralen
    Rückforderungsansprüche von Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen der Eingliederungshilfe?, VuR (Heft 10) 2021, 372-381
  5. Schwerpunkt: Praxis in Baden-Württemberg/Mehrbedarfszuschlag nach § 30 Abs. 1 SGB XII
    Eine Rechnung ohne das Verbraucherschutzrecht. Zur „budgetneutralen Umstellung” der Eingliederungshilfe in Baden-Württemberg, NDV 2021, 602-608
  6. Schwerpunkt: Auseinandersetzung mit ersten Entscheidungen der Sozialgerichte zum Thema
    Überhöhte Forderungen der Leistungserbringer als Folge der „budgetneutralen Umstellung” der Eingliederungshilfe und die Anpassung des Regelsatzes nach § 27a Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SGB XII, ZfF 2022, 73-89