Waldorflernt

#waldorflernt – analog, hybrid, digital

Ulrike Sievers
Foto: © Tatiana Kutina / photocase.de

Nach dem ersten Schock ging es zunächst ums »Überleben«, galt es doch möglichst schnell das nach Hause verlegte Lernen zu gestalten, Materialien zu übermitteln und je nach Altersstufe digitalen Unterricht durchzuführen. Die von vielen am stärksten erlebte Herausforderung war der Wunsch, trotz schwieriger Umstände auch im Fernunterricht Waldorfpädagogik zu betreiben. So galt es, genau hinzuschauen, denn nur wenn wir wissen, wo wir hinwollen und verstehen, was wir tun, können wir überlegen, ob und wie wir auf anderen Wegen an das gleiche Ziel gelangen, nämlich Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu begleiten und zu fördern, sie zur Entfaltung ihrer Individualität zu ermutigen, ihnen Gelegenheit zu geben, ihre eigene Stimme zu entwickeln und sich für ihre Aufgaben in der Welt zu stärken. Vielerorts begannen Lehrkräfte mit dem, was Rudolf Steiner die Erforschung des eigenen Unterrichts nannte und was heute als Praxisforschung bezeichnet wird. Unterricht wird geplant, durchgeführt und dann anhand des Erlebten reflektiert. Die gesammelten Beobachtungen werden ausgewertet und bilden den Ausgangspunkt für Verbesserungen. Dort, wo diese Praxisforschung im kollegialen Miteinander geschieht, findet lebendiges Lernen statt, was sich unter anderem in kollegialer Kooperation und Teambildung ausdrückt, aber auch zu vielfältigen neuen Unterrichtsprojekten geführt hat.

Eine lernende Gemeinschaft

Um die Idee einer lernenden Waldorf-Gemeinschaft über die einzelnen Schulen hinaus zu verbreiten und Kollegen aus aller Welt zu einem Dialog und Erfahrungsaustausch einzuladen, entstand im Frühjahr 2020 auf der Onlineplattform www.e-learningwaldorf.de der Kurs »Waldorf digital: gemeinsam kreativ gestalten«, der Hintergrundinformationen zum Fernunterricht bereitstellt und Lehrkräfte einlädt, Beispiele aus ihrer Praxis vorzustellen, Erfahrungen miteinander zu teilen, sich in Foren auszutauschen und gemeinsam Lösungen zu finden. Im Sommer 2020 ist daraus #waldorflernt geworden, eine Kooperation zwischen elewa-eLearningWaldorf e.V. und der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen. Unser gemeinsames Anliegen ist es, Lehrkräfte durch verschiedene Online-Angebote zu unterstützen. Dazu gehören derzeit wöchentlich stattfindende live-online Treffen zu verschiedenen Aspekten des Fernlernens und Unterrichtens, Hintergrundmaterialien auf der Lernplattform und vielfältige Praxisbeispiele für analogen und mediengestützten Fernunterricht. Unser Ziel ist es, trotz der schwierigen Umstände Waldorfpädagogik gemeinsam weiter zu entwickeln, auch in einen digitalen Raum hinein. Wir wollen die Chancen erforschen, die diese Krise für uns mit sich bringt. Ein gestärktes Bewusstsein für die Bedeutung der Gemeinschaft, ein tieferes Verständnis für Lernprozesse bei Lehrkräften, Eltern und Jugendlichen, aber auch die Möglichkeit einer stärkeren  Anbindung von Lerninhalten an die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen seien als einige Beispiele genannt. Diese und andere Themen zu vertiefen, ist das Anliegen der Kurse auf www.e-learningwaldorf.de.

Themen, die es zu erforschen gilt

Aus den Beiträgen von Teilnehmern und Gesprächen in den regelmäßig stattfindenden #waldorflernt-Sprechstunden haben sich einige zentrale Fragestellungen herauskristallisiert, zu denen wir mit digitalen Kursangeboten wie »Waldorf digital« und »Waldorfpädagogik fürs 21. Jahrhundert« Anregungen geben und Lösungswege zusammen entwickeln wollen:

Lernen in der Gemeinschaft

Mit Blick auf die Kinder stellt sich die Frage, wie wir trotz physischer Distanz soziale Nähe schaffen und durch Gruppenarbeit und Lernpartnerschaften die Gemeinschaft stärken können. Wie lassen sich  Videokonferenzen als Begegnungsräume gestalten? Und wie kann es gelingen, auch im Kollegium die Teambildung und fächerübergreifende Zusammenarbeit als Entlastung und Chance zu verstehen und umzusetzen?

Lernen mit Kopf, Herz und Hand

Haben wir den Mut, uns auf die im Waldorflehrplan beschriebenen Entwicklungsaufgaben zu besinnen, liebgewonnene Gewohnheiten, z.B. in Bezug auf Inhalte und Vorgehensweisen, loszulassen und neue Wege zu gehen? Wie können wir schulisches Lernen differenziert gestalten und dabei an häusliche Realitäten und persönliche Lebenssituationen anpassen? Wie lassen sich durch synchrone und asynchrone Lernphasen gesunde Tagesrhythmen schaffen, durch abwechslungsreiche Aufgaben die Selbsttätigkeit der jungen Menschen fördern und in fächerübergreifenden Projekten multiperspektivisches Lernen einladen?

Nachhaltige, verändernde Lernprozesse gestalten

Was bedeutet es, Entwicklungsaufgaben klar zu formulieren und entsprechende, altersgemäße Wege des Lernens und Unterrichtens zu finden? Gelingt es uns, Aktivitäten so inklusiv zu gestalten, dass sie von allen verstanden und ausgeführt werden können? Wie können wir, auf der Grundlage eines waldorfpädagogischen Verständnisses der Lernprozesse, Räume für nachhaltiges Lernen schaffen? Lassen sich Ideen wie dreischrittiges Lernen, entdeckendes Lernen, und die Entwicklung der Urteilsfähigkeit auch im digitalen Raum verwirklichen? Und wie kann es gelingen, eine lebendige Feedbackkultur zu pflegen?

Analoge und digitale Arbeitsformen erforschen

Welche analogen und digitalen Medien eignen sich für das Lernen zu Hause? Wie können wir Methodenvielfalt im digitalen Raum entwickeln?  Was brauchen wir, um Audio- und Video-Materialien selber zu erstellen – nicht perfekt, aber »persönlich«? Und wo lassen diese sich sinnvoll einsetzen? Welche Kriterien ziehen wir heran, um die vorhandenen Materialien hinsichtlich ihrer Eignung bewerten?

Das Spektrum der Themen ist weit und berührt grundsätzliche pädagogische Fragen. Ich meine, wir können diese Zeit als Herausforderung verstehen, uns der grundlegenden Ideen und Anliegen der Waldorfpädagogik neu bewusst zu werden.

Waldorf für die Zukunft gestalten

Kursteilnehmer von »Waldorf digital« berichten, dass gerade der über die eigene Schule hinaus gehende offene Dialog zum Perspektivenwechsel einlädt, Anregungen gibt und Mut macht. Für Kinder und Jugendliche, die wir jetzt in der Schule unterrichten, werden digitale Räume und das Internet wesentlicher Bestandteil ihres zukünftigen Lebens und Arbeitens sein. Deshalb ist es wichtig, dass wir durch unsere Pädagogik dazu beitragen, dass sie sich der Gefahren und der Möglichkeiten dieser Räume bewusst werden und gleichzeitig viel Gelegenheit zu realer Weltbegegnung bekommen. Gerade wenn die Arbeit am Bildschirm an Bedeutung gewinnt,  ist es wichtig, dass wir unseren Unterricht in diesem Raum so gestalten, dass junge Menschen nicht nur lernen, passiv zuzuhören oder Aufgabenzettel hin und her zu schicken, sondern dass wir die Kompetenz entwickeln, mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Werkzeuge und Methoden unsere Schülerinnen und Schüler zu Eigenaktivität einzuladen und ihre Kreativität zu fördern. Anregungen für vielfältige Möglichkeiten finden sich ebenfalls im Kurs »Waldorf digital: gemeinsam kreativ gestalten«.