Zum Inhalt springen
Zur Ausgabe
Artikel 40 / 72

Spiegel Dokumentation Der Fall Guillaume

Bei Einstellung und Enttarnung des DDR-Agenten Günter Guillaume hat die Spionage-Abwehr der Bundesrepublik kaum einen Fehler ausgelassen. Gestützt auf die Ermittlungen des parlamentarischen Untersuchungsausschusses und auf eigene Recherchen, zeichnet der SPIEGEL nach, wie Verfassungsschutzamt, Bundesnachrichtendienst, Bundeskanzleramt und verantwortliche Politiker in der Spionage-Affäre Guillaume versagt haben.
aus DER SPIEGEL 41/1974

Anfang November 1969, nach Bildung der ersten SPD/FDP-Regierung in Bonn, fragt der Geschäftsführer der Frankfurter SPD-Stadtratsfraktion, Günter Guillaume, den neuen Leiter der Wirschaftsabteilung im Bundeskanzleramt, Herbert Ehrenberg, ob er für ihn eine Stelle in Bonn habe.

Wenige Tage später verwendet sich Ehrenberg für den Petenten, den er aus gemeinsamer Parteiarbeit seit 1964 kennt. Auf dem Flur des Palais Schaumburg spricht er Kanzleramts-Personalchef Karlheinz Ohlsson an: »Ich hab« da einen guten Mann in Frankfurt.« Ehrenberg, auf der Suche nach loyalen Mitarbeitern, empfiehlt die Einstellung Guillaumes als Hilfsreferent für die Verbindung zu Unternehmerverbänden und Gewerkschaften.

Schon wenige Tage nach der Unterhaltung Ehrenberg-Ohlsson wird Guillaume von Kanzleramts-Chef Horst Ehmke zur Vorstellung nach Bonn gebeten. Am 11. November macht der biedere Genosse bei seinem Vorstellungsbesuch auf Ehmke keinen sehr überzeugenden Eindruck. Aber der Kanzleramtsminister, vollauf damit beschäftigt, das Palais Schaumburg von CDU-Sympathisanten zu säubern, will seinem Abteilungsleiter Ehrenberg den neuen Mann ungern verwehren, wenn der ihn schon haben will.

Zwei Tage nach dem Vorstellungstermin schickt die Personalabteilung des Amtes den üblichen Fragebogen an den Bewerber in Frankfurt. Doch Guillaume, der neben Ehrenberg auch einen anderen Frankfurter Freund, den damaligen SPD-Verkehrsminister Georg Leber, um eine Beschäftigung in dessen Ressort angegangen hatte, läßt sich Zeit. Das ausgefüllte Formular geht erst 14 Tage später, am 28. November 1969, wieder im Kanzleramt ein. Der Bewerber brauchte so viel Zeit, so vermuten heute die Abwehrspezialisten, um die Angaben auf dem Personalbogen mit seinen Ost-Berliner Auftraggebern abzustimmen. Aber 1969 fällt die Verzögerung keinem auf, Guillaume wird nicht einmal nach Zeugnissen über seine Schul- und Berufsausbildung gefragt.

Die Personalabteilung gibt sich, trotz eines Einspruchs des Personalrats wegen mangelnder Qualifikation. mit Referenzen des SPD-Unterbezirks Frankfurt und der sozialdemokratischen Stadtratsfraktion zufrieden. Ohlssons Vorgesetzter, Ministerialdirektor Ernst Kern, deutet Druck von oben an: »Für uns hat sich das so dargestellt, daß Guillaume eingestellt werden sollte.«

Am 4. Dezember 1969 gehen die Personalunterlagen Guillaumes routinemäßig an den Sicherheitsreferenten des Kanzleramtes, Ministerialdirigent Franz Schlichter. Weil der Kandidat in seinem Fragebogen angegeben hat, daß er mit seiner Frau Christel am 12. Mai 1956 aus der DDR geflüchtet sei, fordert Schlichter vorschriftsgemäß im Notaufnahmelager Gießen die entsprechenden Akten an.

Eine Woche später, am 12. Dezember, gehen die Papiere im Sicherheitsreferat ein. Beim Studium der Akte unterlaufen Schlichter, wie später auch den Prüfern im Bundesamt für Verfassungsschutz, denen im Januar 1970 die Akten vorliegen, zwei gravierende Fehler: Sie erkennen nicht, daß die Eheleute Guillaume erst am 13. September 1956, vier Monate nach ihrer flucht im Mai, in Gießen das Notaufnahme-Verfahren beantragt hatten und damit mehr als ein Vierteljahr lang nicht als Bürger der Bundesrepublik aktenkundig waren.

Die Geheimschützer erkennen auch nicht die Widersprüche zwischen den Angaben Guillaumes beim Notaufnahme-Verfahren und im Fragebogen des Kanzleramtes: So hatte der vermeintliche DDR-Flüchtling in Gießen angegeben, er sei von 1949 bis 1955 im Ost-Berliner Verlag »Volk und Wissen« tätig gewesen; das Kanzleramt hingegen ließ er wissen, er habe von 1951 bis 1955 in dem Verlag als technischer Redakteur gearbeitet.

Während Schlichter noch auf die Akten aus Gießen wartet, leitet er am 8. Dezember die sogenannte einfache Kartei-Überprüfung beim Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz ein; zugleich bittet er den Bundesnachrichtendienst und die Bonner Sicherungsgruppe, als Spezialabteilung des Bundeskriminalamtes für Sicherheitsaufgaben im Palais Schaumburg zuständig, um Auskünfte. Die Sicherungsgruppe liefert nur eine Woche später, am 15. Dezember, ohne Kommentar ein Fernschreiben Nr. brnr 1348 des West-Berliner Polizeipräsidiums:

Der Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen teilte im Schreiben vom 22 11. 1955 mit, daß ein Günter Guillaume, ca. 1925 geb., wohnhaft: Birkenwerder (SBZ), beschäftigt als Fotograf beim Ostberliner Verlag »Volk und Wissen, der Agententätigkeit in Berlin (West) und der BRD verdächtigt wird. Im Juli 1956 soll Günter G. in die BRD geflüchtet sein. Personengleichheit kann vermutet werden.

Verfasser des Fernschreibens war Polizeiamtsrat Hugo Boehlke, Leiter des Zentralarchivs des West-Berliner Präsidiums. Er hatte die Anfrage seiner Bonner Kollegen nicht besonders wichtig genommen und daher nur einen Auszug aus einem längeren Original gefertigt, weil das Auskunftsersuchen der Sicherungsgruppe von seinem Vorgesetzten, Kriminaldirektor Eitner, nicht mit einem Kreuz, dem Zeichen für besondere Wichtigkeit, gekennzeichnet worden war.

Die Langfassung des Berichts der freiheitlichen Juristen? den Boehlke in seiner Kartei hatte und aus dem er nur eine wenig präzise Zusammenfassung fertigte, war so konkret, daß die Geheimdienst-Experten vor dem Bonner Guillaume-Untersuchungsausschuß, dem vollen Text konfrontiert, bekennen mußten: Wenn wir das gewußt hätten.

Gestützt auf eine Ost-Berliner Quelle, hatten die freiheitlichen Juristen folgendes vermerkt:

Mitarbeiter lenkt unsere Aufmerksamkeit auf einen Fotografen namens Günter Guillaume (SED). Dieser ist seit Jahren im Verlag, »Volk und Wissen« beschäftigt. Wohnt in der Gegend von Birkenwerder, ist etwa dreißig bis fünfunddreißig Jahre alt. Auffällig an diesem Mann war, daß er häufig unmotiviert nicht zum Dienst erschien. Als sich sein Abteilungsleiter aus Gründen der Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin dafür zu interessieren begann, wurde ihm von der SED-Parteileitung bedeutet, sich nicht um Dinge zu kümmern, die ihn nichts angingen. Schließlich kam Guillaume auf einen längeren Lehrgang. Obwohl in solchen Fällen ziemlich schnell bekannt wird, auf welche Schulen Lehrgangsteilnehmer delegiert werden, wurde dieser Fall mit großer Geheimniskrämerei behandelt. Mitarbeiter weiß, daß Guillaume schon vom Verlag häufig nach Westberlin geschickt wurde, um dort Aufnahmen von Exmittierungen, Verhaftungen von Demonstranten, Anbringen von kommunistischen Losungen usw. zu machen.

Die Bonner Geheimschützer hätten den vollem Text schon im Dezember 1969 kennen können, wenn sie nur aufmerksam gelesen hätten. Denn das Boehlke-Telex war erkennbar eine Zusammenfassung. Der Berliner Polizist führt nämlich einen Bericht der Juristen vom November 1955 an und verweist dann auf die Flucht Guillaumes acht Monate später, die folglich nicht im Juristenreport von 1955 vermerkt gewesen sein kann. Boehlke muß also mehrere Unterlagen zusammengezogen haben. Doch niemand stutzte, und keiner fragte beim Berliner Polizeipräsidium nach dem vollen Juristen-Text.

Zwei Tage nach Eingang des Boehlke-Fernschreibens im Kanzleramt erhielt Schlichter am 17. Dezember auch von der zweiten Stelle, die er um Auskunft gebeten hatte, dem BND, Nachricht über seinen Bewerber. Oberst Heinz Rafoth, stellvertretender Leiter des Bonner BND-Büros, übergab eine Meldung seiner Pullacher Zentrale: Nach einer auf ihren Wahrheitsgehalt hin nicht mehr überprüfbaren Karteinotierung vom April 1954 soll Günter G., geb. 1. 2. 27 in Berlin, damals wohnhaft Lehnitz, Florastraße 6, im Auftrag des Verlages »Volk und Wissen« die BRD mit dem Zweck bereist haben, um Verbindungen zu Verlagen, Druckereien und Personen herzustellen und diese dann östlich zu infiltrieren. Keine weiteren Erkenntnisse. Nachdem Schlichter diese Meldung gelesen hat, ruft er am 18. Dezember Rafoth an und fragt ihn nach der Güte der Quelle. Rafoth leitet diese Anfrage an die BND-Zentrale im Pullach weiter. Dort geht sie über den Schreibtisch des Regierungsdirektors Heinz Hagemann, der sie nach Überprüfung seiner Unterlagen mit der Bemerkung versieht: »Quelle ist zuverlässig, war zu der Zeit im gleichen Verlag und hatte entsprechende Einblicksmöglichkeiten.« Dieser Vermerk geht zusammen mit dem ersten Auskunftsersuchen Schlichters und der BND-Antwort auf dem Dienstweg zu BND-Chef Gerhard Wessel.

Am 19. Dezember möchte Schlichter es noch genauer wissen. Er ruft Rafoths Vorgesetzten, General Eschenburg (Geheimdienst-Deckname: Torgau) an und fragt ihn, ob denn die Quellen für die BND-Nachricht über Guillaumes Tätigkeit für »Volk und Wissen« mit der Quelle der freiheitlichen Juristen identisch sei. Pflichtgemäß leitet das Bonner BND-Büro die neue Schlichter-Anfrage nach Pullach weiter, wo sie wieder zu Hagemann kommt.

Hagemann, der gerade die vorhergehende Anfrage mit seinem Vermerk versehen und an Wessel weitergegeben hat, macht einen verhängnisvollen Fehler. Er liest nicht genau und legt das Eschenburg-Fernschreiben mit der Notiz ab: »Erledigt durch Vermerk an Präsidenten.«

Durch dieses Versagen bleibt das zweite Fernschreiben aus Bonn unbeantwortet. Die dem BND bis dahin unbekannten Verdächtigungen aus West-Berlin werden in Pullach nicht aktenkundig. Und Schlichter erfährt nicht, daß die Meldungen von BND und freiheitlichen Juristen, wie sich erst 1974 herausstellte, von zwei verschiedenen Informanten in Ost-Berlin stammen.

Schlichter, mißtrauisch geworden, macht dennoch Kanzleramtsminister Ehmke auf die Verdachtsmomente gegen Guillaume aufmerksam und verfügt, die Einstellungsprozedur bis zur weiteren Klärung zu stoppen. Nun schaltet sich Ehmke, Dienstvorgesetzter des BND und wie viele Sozialdemokraten skeptisch gegenüber Geheimdienst-Recherchen, selbst ein.

Er ruft am 22. Dezember Präsident Wessel an, fragt ebenfalls nach der Seriosität der BND-Quelle und fordert den BND-Chef auf, am kommenden Tag in Bonn auf einer ohnehin schon angesetzten Routine-Besprechung zu berichten. Doch der Präsident liegt krank zu Bett. Er verspricht, Ehmke am nächsten Tag telefonisch zu unterrichten. Am 23. Dezember dann liest Wessel seinem Vorgesetzten den Hagemann-Vermerk vor, daß »die Quelle zuverlässig« sei, Der Kanzleramtsminister bittet Wessel, seine Erkenntnisse schriftlich niederzulegen und ihm gleichzeitig zu empfehlen, wie im Fall Guillaume weiter verfahren werden soll. Schlichter nimmt zu Unrecht an, daß mit der Wessel-Berichterstattung auch die noch immer offene Frage erledigt werde, ob BND und freiheitliche Juristen sich auf unterschiedliche Quellen gestützt haben.

Wessel, der auf Grund des Hagemann-Fehlers nicht weiß, daß es neben der BND-Erkenntnis noch einen zweiten, davon unabhängigen Verdacht gibt, betont in seinem Fernschreiben an Ehmke, daß die BND-Meldung von 1954 »allein« nicht ausreicht. Wessel: Mein Votum;

a) G. gezielt fragen, ob die Behauptung stimme. Seine Reaktion wird vielleicht entsprechende Rückschlüsse zulassen. Er kann z. 8. den Auftrag nur zum Schein angenommen haben oder er kann alles zugeben und das Recht auf Irrtum in Anspruch nehmen, b) Wichtig wird Prüfung des Lebenslaufs von G. nach 1954 sein -- hier nicht bekannt.

c) Verwendung im BK (Bundeskanzleramt) ist auf jeden Fall »herausgeschoben«. Ich schlage Prüfung der Verwendung in einer anderen Behörde vor.

d) Die BND-Meldung von 1954 gibt allein keinen ausreichenden Grund für etwaige Benachteiligung, zwingt aber zur eingehenden Hintergrundsüberprüfung durch den Verfassungsschutz. gez. Wessel

Was Wessel bei seinem Rat nicht weiß: Seine Beamten in Pullach haben noch -- andere schwerwiegende Kunstfehler begangen. Aus ihrer Zentralkartei haben sie nur die Karte »Guillaume« mit dem Hinweis auf dessen Tätigkeit beim Ost-Berliner Verlag »Volk und Wissen« herausgezogen, es aber unterlassen, unter dem Stichwort des Verlages »Volk und Wissen« weiter nachzuprüfen. Dort hätten sie lesen können:

Der Verlag steuert jetzt die Erziehungs- und Schulungskurse für Volkskorrespondenten und 550-Agenten, die in Schierke (Harz) und im Erholungszentrum »Solidarität« in Heringsdorf (Insel Usedom) stattfinden. Die SSD-Seite der Angelegenheit bearbeitet im Verlag der Chefredakteur Tscheschner.

Weiterer Fehler im BND: Die Auswerter übersehen, daß in einem Schrank eine auf Mikrofilm aufgenommene ältere Kartei einer früheren Außenstelle aufbewahrt wird. Darin ist vermerkt, daß ein »Guiome(phon.)« oder »Guillaume« als Mitglied der Ost-Berliner Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft im Westen eingesetzt werde.

Kanzleramts-Chef Ehmke, durch den Wessel-Brief verunsichert, reicht vor Antritt eines Kurzurlaubs Ende Dezember 1969 die Akte Guillaume an den damaligen Kanzleramts-Staatssekretär Egon Bahr weiter. Der wird nach dem Studium des Materials ebenfalls stutzig und legt am 30. Dezember in einem handschriftlichen Vermerk für Ehmke nieder: »Selbst wenn Sie einen positiven Eindruck haben, bleibt ein gewisses Sicherheitsrisiko gerade hier.«

Nach Rückkehr aus dem Weihnachtsurlaub will Ehmke es nun genau wissen. Er zitiert Guillaume Zum 7. Januar 1970 nach Bonn, um ihn im Beisein von Schlichter und Abteilungsleiter Ehrenberg nach Wessels Rat »gezielt« zu befragen. Der Bewerber, nach Ehmkes Eindruck sehr viel selbstsicherer als bei seiner ersten Vorstellung, bestreitet energisch jede Tätigkeit für östliche Geheimdienste. Ehmke will ein übriges tun und bittet Guillaume, seinen sehr lückenhaften Lebenslauf schriftlich zu ergänzen.

Am 12. Januar 1970, in seiner schriftlichen Stellungnahme, macht Guillaume dann eine Angabe, die im Widerspruch Zu seinen bisherigen Erklärungen steht und die Geheimdienstexperten hätte stutzig machen müssen. Er habe, so Guillaume, 1955 seine Stellung heim Verlag »Volk und Wissen« aufgegeben: »1956 arbeitete ich noch einmal einige Monate zum Schein freiberuflich als Journalist in Berlin, um möglichst unauffällig und unkontrolliert meine Flucht in die Bundesrepublik betreiben zu können.«

Gerade eine freiberufliche Tätigkeit vor der Flucht aber, so die Erfahrung der Abwehrspezialisten schon damals, ist eine Legende, die andere vorher enttarnte DDR-Agenten benutzt haben, um ein Alibi für ihre letzte Intensiv-Schulung vor dem West-Einsatz vorweisen zu können.

Guillaume schreibt in seinem nachgereichten Lebenslauf außerdem in Ergänzung zu seinen früheren Angaben, in Ost-Berlin nicht nur Mitglied des DDR-Gewerkschaftsbundes FDGB gewesen zu sein, sondern auch eine Funktion -- Vorsitzender der Abteilungsgewerkschaftsleitung der Hauptabteilung Berufsausbildung des Verlages -- gehabt und an »Solidaritätseinsätzen« in West-Berlin teilgenommen zu haben.

Am 13. Januar 1970 ruft Schlichter den Leiter der Abteilung V (Geheimschutz) im Bundesamt für Verfassungsschutz, Johann Gottlieb Hermenau, zu sich. Er, übergibt dem Verfassungsschützer die erste BND-Meldung aus Pullach, den Polizeibericht aus West-Berlin mit den Erkenntnissen der freiheitlichen Juristen, das Wessel-Fernschreiben, eine Aktennotiz Schlichters über Ehmkes Gespräche mit Guillaume vom 7. Januar und schließlich Guillaumes schriftliche Ergänzungen zu seinem Lebenslauf.

Doch ebenso wie die Kollegen in Pullach mißachten die Kölner Beamten Grundregeln ihres Geschäfts. Geheimschutz-Leiter Hermenau versäumt es, wie bei Spionageverdacht vorgeschrieben, die Abteilung IV (Spionageabwehr) einzuschalten. Folge: Die Abteilung Hermenaus erfährt so nicht, was die Abteilung Spionageabwehr schon seit Jahren weiß, aber bislang nicht in der Zentralkartei des Amtes gespeichert hat: einen schwerwiegenden Verdacht gegen den ehemaligen Guillaume-Arbeitgeber »Volk und Wissen«.

1961 war in Brüssel eine Dr. Ursula Nenninger als DDR-Spionin verhaftet worden. Sie gab an, durch den Verlag »Volk und Wissen« angeworben worden zu sein.

Außerdem hätte die Abteilung IV der Hermenau-Abteilung V noch mitteilen können, daß sie seit Ende der fünfziger Jahre nach einem »G.« auch »Georg« genannt, fahndet, der 1956 in die Bundesrepublik eingeschleust und auf Gewerkschaften und Sozialdemokratische Partei angesetzt worden sei.

Obwohl das Kölner Amt Anfang der 60er Jahre sogar die damalige SPD-Spitze eingeschaltet hatte, war oder »Georg« nie gefunden worden.

Statt die Abteilung IV zu konsultieren, fragt die Abteilung V bei Prüfung der Guillaume-Akten im Januar 1970 lediglich bei der Abteilung III (Kommunismus) an und erhält von dort nur die Auskunft. bei »Volk und Wissen« handele es sieh um einen Schulbuchverlag, der schon einmal in Hamburg ausgestellt habe. BfV-Präsident Hubert Schrübbers (CDU) und sein Vize Günther Nollau erfahren von den Vorgängen in ihrem Amt nichts, obwohl es eine Dienstanweisung gibt, daß die Amtsspitze in Fällen von politischer Bedeutung einzuschalten sei. Die Geheimdienstler im Bundesamt schreiben am 19. Januar an das Gesamtdeutsche Institut in West-Berlin, das die Akten des inzwischen aufgelösten Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen verwahrt. Und erneut verpassen sie die Chance, endlich die Langfassung des Berichts der Freiheits-Juristen zu bekommen.

Leitender Regierungsdirektor Walter Rosenthal von dem Berliner Institut gibt nämlich die Auskunft, alle Unterlagen des Untersuchungsausschusses über Guillaume seien längst an die West-Berliner Polizei weitergeleitet worden, sonst liege nichts vor. Rosenthal konnte nicht wissen, daß Polizist Boehlke nur einen unvollständigen Auszug aus der Akte der freiheitlichen Juristen gefertigt hatte, der volle Text daher in Köln nicht bekannt war.

Während das Kölner Amt weiter an Guillaume vorbeirecherchiert und vier Genossen in der Frankfurter SPD befragt, die Guillaume in seinem Personalbogen als Referenz angegeben hat, versucht Ehmke sich in Bonn weiter abzusichern. In einer Kabinettssitzung spricht er den damaligen Verkehrsminister und Frankfurter SPD-Abgeordneten Georg Leber an: »Du, Schorsch, wir haben Schwierigkeiten bei der Sicherheitsüberprüfung von Guillaume.« Leber, der Guillaume als Wahlhelfer in Frankfurt schätzen gelernt hat, ist überrascht: »Für den lege ich meine Hand ins Feuer.«

Der vorsichtige Ehmke will es aber auch noch schriftlich haben. Und schreibt am 17. Januar 1970 an den »lieben Georg":

Ich habe Herrn G. in einem Gespräch am 7. Januar über die aufgetauchten Sicherheitsbedenken und die dadurch notwendig gewordene Sicherheitsüberprüfung eingehend unterrichtet. Seine Angaben über seinen beruflichen Werdegang in der DDR, zu seiner dortigen politischen Tätigkeit und zu den Verdachtsmomenten selbst waren wenig ergiebig ...

Arglos stellt Leber einen Persilschein aus und antwortet am 22. Januar: Er hat sich stets durch Fleiß und Hingabe in der Erfüllung seiner Aufgaben bewährt und sie mit Geschick, Erfahrung und Intelligenz bewältigt. Das, was ich an ihm immer besonders geschätzt habe, sind seine Zuverlässigkeit und sein verantwortungsbewußtes Geradestehen für die freiheitliche Lebensart und die Demokratie. Er hat mir in vielen schwierigen Situationen seine uneingeschränkte Vertrauenswürdigkeit bewiesen.

Eine weitere Unbedenklichkeitsbescheinigung für Guillaume geht am 27. Januar aus Köln im Kanzleramt ein. Im Verfassungsschutzamt hatte Regierungsdirektor Hans Otto seinem Abteilungsleiter Hermenau den »Abschlußbericht der umfassenden Sicherheitsüberprüfung« des Günter Guillaume vorgelegt. Kernsatz: »Die umfassende Karteiüberprüfung und die Sicherheitsermittlungen sind abgeschlossen. Sie haben keine Erkenntnisse erbracht, die einer Ermächtigung zum Umgang mit Verschlußsachen bis »geheim« entgegenstehen.«

Zuvor ist sich Autor Otto nicht ganz sicher, vertraut aber sein »ungutes Gefühl« in einem Gespräch nur Abteilungsleiter Hermenau an.

Hermenau unterschreibt den Otto-Bericht dennoch. Otto aber, immer noch mißtrauisch, bringt am nächsten Tag den Bericht selbst ins Kanzleramt und wiederholt auch gegenüber Schlichter sein »ungutes Gefühl«. Er regt an, weitere Nachforschungen anzustellen, vor allem bei Leuten, die Guillaume von früher her kennen. Schlichter hört sich den Otto-Vortrag an und bescheidet den Beamten, wenn man noch Nachteiliges über Guillaume erfahre, solle man es dem Kanzleramt mitteilen.

Zurück in seiner Kölner Behörde, schreibt der vorsichtige Otto ohne Abstimmung mit Schlichter einen in sich sehr widersprüchlichen Aktenvermerk für seinen Chef Hermenau:

1. Herrn Schlichter wurde mitgeteilt, daß die Möglichkeit besteht, über das NA-Lager Gießen geflüchtete Personen ausfindig zu machen, die in den Jahren 1949 bis 1954 bei den Verlag »Volk und Wissen« gearbeitet haben. Sie könnten noch zusätzlich befragt werden über das politische Verhalten von Herrn Guillaume in der DDR.

2. Herr Schlichter bittet, vorerst davon Abstand zu nehmen. Sollten jedoch Erkenntnisse politischer Art über Herrn G. anfallen, dann müßten derartige Befragungen noch zusätzlich durchgeführt und das Ergebnis dem Bundeskanzleramt mitgeteilt werden. 3. Vorerst sieht er die Überprüfung als abgeschlossen an. Er wird das Ergebnis mit Herrn Minister Ehmke persönlich besprechen.

Schon einen Tag später, am 28. Januar 1970 -- Ehmke ist inzwischen von Schlichter kurz unterrichtet worden -, tritt Guillaume seinen Dienst in der Wirtschaftsabteilung des Kanzleramtes als Hilfsreferent für Verbindungen zu Unternehmerverbänden und Gewerkschaften an. Gehalt wird ihm rückwirkend vom 1. Januar 1970 an gezahlt. Der anstellige und fleißige Mitarbeiter macht rasch Karriere. Schon am 8. 7. 1970 verfügt Ehmke, daß Guillaume in die dem Chef des Bundeskanzleramtes direkt unterstehende »Verbindungsstelle« versetzt und daß sein Aufgabenbereich erweitert wird. Er hat jetzt die Kontakte zu Parlament, Parteien, Kirchen und Verbänden zu halten.

Dort bewährt er sich als Organisator. Und als der bisherige Parteireferent Willy Brandts, der heutige SPD-Bundestagsabgeordnete Peter Reuschenbach, im Herbst 1972 selbst in den Wahlkampf zieht, springt Guillaume ein -- zunächst inoffiziell. Am 1. Dezember 1972 wird er dann offiziell, zusätzlich zu seinen Aufgaben in der Verbindungsstelle, mit dem Reuschenbach-Job betraut. Am 1. Juni 1973 folgt die formelle Ernennung zum Referenten für Partei und Verbände im Büro von Bundeskanzler Willy Brandt.

Inzwischen hat ihm der Verfassungsschutz nach einer erneuten Sicherheitsüberprüfung am 8. September 1970, die keine neuen Erkenntnisse bringt, die Ermächtigung erteilt, auch mit »streng geheimen« Akten umzugehen.

Die Beamten haben die Recherchen gegen Guillaume dabei nicht allzu intensiv betrieben. Sie versuchen, ehemalige Nachbarn aus der Choriner Straße in Ost-Berlin, dem letzten Wohnsitz der Guillaumes in der DDR vor der Flucht, nach dem Kanzler-Referenten zu befragen -- ohne Erfolg. Lediglich eine Mitbewohnerin des Hauses Choriner Straße 81, in dem die Guillaumes lebten, erinnert sich an Günter Guillaume, weiß aber nichts Nachteiliges zu berichten.

Enttarnt wurde der DDR-Agent im Kanzleramt durch einen Zufall. Ende Februar/Anfang März 1973 überprüft der Oberamtsrat Heinrich Schoregge in der Abteilung IV (Spionageabwehr) des Kölner Verfassungsschutzamtes den Spionageverdacht gegen den Frankfurter Photographen Gersdorff. Dabei fällt ihm der Name Guillaume auf, auf den er vorher schon zweimal gestoßen ist: bei den Ermittlungen gegen den für Ost-Berlin spionierenden Düsseldorfer DGB-Sekretär Wilhelm Gronau und gegen das Frankfurter Ehepaar Harry und Ingeborg Sieberg, das 1966 wegen Agententätigkeit für die DDR verurteilt wurde. Guillaume hatte Frau Sieberg eine Stelle als Sekretärin beim SPD-Bezirk Hessen-Süd vermittelt, außerdem waren die Eheleute Sieberg mit Guillaume gut befreundet.

Als im September 1972 bei einem Treff Gronau und sein DDR-Führungsoffizier Kuhnert in West-Berlin verhaftet wurden, stießen die Kripo-Beamten ebenfalls auf Guillaume. Sie fanden bei Kuhnert einen Zettel mit dem Namen des Kanzleramts-Referenten. Auch in Gronaus Adreßbuch entdeckten sie später Guillaumes Anschrift. In beiden Fällen wurde der Kanzler-Referent vernommen, doch es kam nichts dabei heraus.

Als Oberamtsrat Schoregge in seinem Kölner Büro noch darüber nachsinnt, ob es denn mit rechten Dingen zugehen könne, daß der Name Guillaume in den drei Spionagefällen Gronau, Sieberg und Gersdorff auftaucht, tritt sein Kollege, Regierungsrat Helmut Bergmann, zum Kaffeeplausch ins Zimmer. Schoregge verkündet: »Ich glaube, ich hab« da einen krummen Hund.«

Bergmann erinnert sich sofort, daß seit Ende der fünfziger Jahre ein auf die SPD angesetzter »G.« oder »Georg« gesucht wird, und fragt Schoregge, ob jener G. nicht mit jenem dreifach genannten Guillaume identisch sein könne.

Der Verdacht der Beamten erhärtet sich schon nach den ersten Recherchen. Die DDR übermittelt ihren Agenten über Kurzwelle fast täglich Weisungen. Einer dieser Zahlencodes wurde 1970 geknackt. Am 1. Februar 1971 kam ein Zahlenspruch, der Geburtstagsglückwünsche für »G« enthielt.

Schoregge von der Abteilung Spionageabwehr fragt in der Abteilung Geheimschutz nach, ob dort ein Guillaume geführt wird. Die Kollegen schicken die Überprüfungsakte des Hufsreferenten Günter Guillaume. Überrascht stellen Bergmann und Schoregge fest, daß der Referent ausgerechnet am 1. Februar des Jahres 1927 geboren wurde, daß also die am 1. Februar 1971 aufgefangenen Geburtstagswünsche aus der DDR ihm gegolten haben können.

Außerdem stoßen sie beim Aktenstudium auf die Meldung des BND und des Ausschusses Freiheitlicher Juristen, die bei Guillaumes Einstellung im Kanzleramt eingegangen sind.

Bergmann weiht seinen Gruppenleiter, den Leitenden Regierungsdirektor Hans Watschounek ein, und der bittet ihn, alles aufzuschreiben. Am 11. Mai 1973 legt Bergmann seinem Vorgesetzten ein Zwanzig-Seiten-Papier vor, das in 30 Punkten alle gegen Guillaume vorliegenden Verdachtsmomente enthält. Bergmanns Ergebnis: »Aufgrund des Ergebnisses dieser Auswertung muß angenommen werden, daß die Eheleute Guillaume Mitte des Jahres 1956 im Auftrag der HVA (Hauptverwaltung Aufklärung der DDR) in die Bundesrepublik eingeschleust worden sind.«

Der Verfassungsschützer schlägt folgende Alternativen vor:

Die Bundesanwaltschaft sofort einzuschalten, um durch »unmittelbaren Zugriff« den Verdächtigen zu überraschen und sich dadurch Beweisstücke zu sichern;

Guillaume zunächst nicht zu verhaften, sondern ihn nachrichtendienstlich zu observieren, um etwaige Verbindungen zu erforschen: wenn beides wegen der Stellung Guillaumes nicht möglich sein sollte, ihn gezielt durch Experten zu befragen.

Am 17. Mai 1973 erweitert Watschounek das Bergmann-Papier auf insgesamt 54 Seiten, ohne freilich in der Substanz Neues hinzuzufügen. Watschounek informiert dann am 21. Mai den Leiter der Spionageabwehr-Abteilung, den Leitenden Regierungsdirektor Albrecht Rausch, der nach der Lektüre der 54 Seiten zu dem Ergebnis kommt: »Guillaume ist ein Agent.«

Am 23. Mai schließlich landen die 54 Seiten von Watschounek und die 20 Seiten von Bergmann auf dem Schreibtisch des Verfassungsschutz-Vizepräsidenten Hans Bardenhewer. Nach kurzer Lektüre vermerkt Badenhewer auf der Akte: »Ich rege mündliche Erörterung an.

Jetzt erst, am 23. oder 24; Mai 1973, wird BfV-Präsident Günther Nollau erstmals über den Fall Guillaume unterrichtet. Nach eigener Erinnerung sah Nollau lediglich das 20-Seiten-Papier von Bergmann, Watschounek und Rausch dagegen erinnern sich, daß Nollau auch die 54-Seiten-Expertise zu Gesicht bekam. Nollau über seine Lektüre: »Ich hatte den Eindruck, daß ein dringender Verdacht vorlag.« Er ordnet für den 28. Mai eine Besprechung mit seinem Vizepräsidenten Bardenhewer, dem Abteilungsleiter Rausch und dem Gruppenleiter Watschounek an. Die Runde ist sich einig, den Dienstvorgesetzten der Kölner Behörde, Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher, zu informieren.

Nicht erörtert wird von den Herren, ob auch Bundeskanzler Willy Brandt von dem Verdacht gegen den Mitarbeiter in seiner Regierungszentrale unterrichtet werden soll. Nicht besprochen wird auch die genaue Funktion Guillaumes im Kanzleramt. Leichtfertig stützen sich die Spitzen des Bonner Geheimdienstes auf ihren Referenten Bergmann, der in seinem 20-Seiten-Papier Guillaume immer noch als (Hilfs-)Referenten im Kanzleramt« führt. Und dies, obwohl »Bild am Sonntag« am 20. Mai 1973, acht Tage vor der Besprechung, in einem Artikel über die »heimlichen Herrscher von Bonn« Guillaume als »persönlichen Referenten« von Bundeskanzler Brandt genannt hat und Bergmann selbst den ausgeschnittenen Artikel in den Aktengang gegeben hat. Die übliche bürokratische Verzögerung führte dazu, daß der Ausschnitt bei der Besprechung noch nicht bei der Akte Guillaume lag.

Die Abwehrleute verabreden, zunächst Guillaumes Ehefrau Christel zu überwachen. Sie vermuten, daß sie für ihren Mann konspirative Kontakte zu den Ost-Berliner Auftraggebern hält, etwa als Kurier. Guillaume werde sich, so mutmaßen die BfV-Beamten freihändig, auf die Beschaffung der Nachrichten im Kanzleramt beschränken, so daß sich seine Überwachung zunächst erübrige. Auch halten sie es vorerst für unangebracht, den privaten Telephon-Anschluß des Verdächtigen, anzuzapfen. Die Experten halten sich an den Lehrsatz, daß Agenten für verfängliche Telephongespräche nicht ihren häuslichen Apparat benutzen, sondern öffentliche Fernsprecher.

Gleich nach Ende der Besprechung (Nollau: »Mir langt es dicke") ruft der Präsident den Innenminister in Bonn an und bittet dringend um einen Termin. Am 29. Mai 1973 um 10.30 Uhr wird dann mit Hans-Dietrich Genscher erstmals ein prominenter Bonner Politiker über den konkreten Verdacht gegen Guillaume unterrichtet.

Wer an diesem Tage wen worüber informiert hat, ist ungeklärt. Nollau widerspricht Genscher, Genscher widerspricht Nollau, Ex-Kanzler Brandt stützt die Version seines damaligen Innenministers.

Unstreitig ist lediglich, daß beim Treffen in Genschers Arbeitszimmer Nollau in Anwesenheit des Ministerbüro-Leiters Klaus Kinkel mitgeteilt hat, gegen einen Mitarbeiter des Kanzleramts mit Namen Günter Guillaume lägen zwei Verdachtsmomente vor: der geknackte Funk-Code mit dem Hinweis auf den Geburtstag am 1. Februar (von allen Beteiligten immer nur »Methode X« genannt) und Guillaumes ungeklärte freiberufliche Tätigkeit vor seiner Flucht. Nollau begnügt sich mit diesen beiden Punkten, obwohl er in seinem Aktenkoffer das Bergmann-Papier mit 30 Verdachtsmomenten mit sich führt.

Der Innenminister seinerseits will von Nollaus Vortrag so »elektrisiert« gewesen sein, daß er sofort vorschlägt, den Bundeskanzler zu unterrichten. Ohne erkennbaren Grund aber weicht der sonst stets wißbegierige Genscher von seinem Drang ab, auch noch das letzte Detail zu erforschen. Genscher, der sich schon in weniger wichtigen Spionagefällen sofort die Akten hat kommen lassen, sich in seinem Ressort auch um unwichtigen Kleinkram kümmert und sogar Fernsehsendungen aufzeichnen läßt, die er nicht sehen konnte -- dieser Minister verspürt bei seiner Unterhaltung mit Nollau, in der es immerhin um einen Spion in der Bonner Regierungszentrale geht, keinerlei Wünsche nach weiterer Aufklärung.

Ungeklärt ist auch, wer in dem Gespräch als erster die genaue Funktion Guillaumes im Kanzleramt erwähnt hat. Nollau will über die eigentliche Bedeutung des Spions, seine Nähe zu Willy Brandt als dessen persönlicher Referent, erst von Genscher und Kinkel unterrichtet worden sein. Genscher hingegen behauptet, Nollau habe ihn auf die brisante Tätigkeit Guillaumes hingewiesen.

Genscher und Kinkel beschuldigen ihren Gesprächspartner außerdem, er habe den Innenminister davon abhalten wollen, Kanzler Brandt sofort über den Verdacht gegen Guillaume zu informieren. In einer Aktennotiz vom 29. Mai 1973 über die Unterhaltung vermerkt Kinkel:

»Dr. Nollau erklärte ..., daß dies alles unbedingt der strengsten Geheimhaltungspflicht unterliegen müsse, und er rege an, niemanden davon zu unterrichten. Der Minister und der Unterzeichner machten hiergegen Bedanken geltend und wiesen darauf hin, daß es wohl nicht angängig sei, den Bundeskanzler über einen so schwerwiegenden, allerdings bisher in keiner Waise erhärteten Verdacht gegenüber einem seiner engsten Mitarbeiter nicht zu unterrichten.«

Nach diesem Schlüsselgespräch bleibt offen:

* Warum enthält Nollau seinem Chef Genscher das Bergmann-Papier vor?

* Warum will Genscher gerade in diesem Fall keine weiteren Details wissen?

* Warum möchte Nollau unbedingt verhindern, daß Bundeskanzler Willy Brandt von dem Spion in seiner Nähe erfährt?

Gegen den Rat Nollaus beeilt sich Genscher, seinen Kanzler zu unterrichten. Nach dem wöchentlichen Koalitionsessen, am 29. Mai, nimmt der Innenminister den Regierungschef beiseite und fragt: »Haben Sie einen Mitarbeiter mit französisch klingendem Namen?« Brandts Antwort: »Ja, es gibt einen solchen Referenten namens Guillaume.« Auf Genschers zweite Frage, welche Tätigkeit dieser Guillaume ausübe, antwortete Brandt, daß er innerhalb des Kanzlerbüros für seine, Brandts, Kontakte zur SPD zuständig sei. Nun macht Genscher, der selbst von den 30 Verdachtspunkten des Bergmann-Papiers nur zwei kennt, aus unerklärlichen Gründen seinen Gesprächspartner Brandt nur mit einem vertraut: mit der »Methode X«, dem Funk-Code-Verdacht. Überdies schwächt er das Gewicht seiner Nachricht auch so ab -- die »Methode X« habe freilich kürzlich erst versagt.

Brandt fragt Genscher, was zu tun sei. Der Sicherheitsminister gibt ohne eigene Stellungnahme nur den Rat des Verfassungsschutzes weiter: sich nichts anmerken zu lassen und Guillaume an seinem Platz weiter zu beschäftigen. Da fällt dem Kanzler ein -- so Brandts und Genschers Erinnerung -, daß er Guillaume schon für den Sommer-Urlaub im norwegischen Vangsasen als Begleiter eingeteilt hat. Genscher sagt zu, in dieser Frage noch einmal Nollau zu konsultieren. Am folgenden Tag, dem 30. Mai, will Genscher dem Kanzler dann mitgeteilt haben, Nollau habe gegen eine Mitnahme Guillaumes in den Urlaub nichts einzuwenden.

Nollau freilich erinnert sich völlig anders: Er will von der Norwegen-Reise erst erfahren haben, nachdem Brandt und sein Begleiter Guillaume den Urlaub am 2. Juli 1973 schon angetreten hatten.

Die Frage ist:

* Irren sich Genscher und Brandt, oder will Nollau der Verantwortung ausweichen, daß der Spion in Norwegen nicht observiert wurde und daß es ihm möglich war, einen Brief Nixons an Brandt in die Hände zu bekommen?

* Warum hat Genscher bei der ersten Unterrichtung Brandts nur ein Verdachtsmoment genannt und dabei auch noch die Qualität dieser Erkenntnis heruntergespielt?

Zurück aus dem Norwegen-Urlaub, kann Guillaume unbehelligt von Verfassungsschutzleuten im Kanzleramt weiterarbeiten. Genschers Erklärung dafür: Eine Überwachung im Kanzleramt sei nicht in Frage gekommen, weil dies gleichzeitig eine Kontrolle des Bundeskanzlers bedeutet hätte. So trägt Genscher die Verantwortung dafür, daß Guillaume nur außerhalb seiner Arbeitszeit überwacht wurde und nicht im Kanzleramt, an dem Platz, wo er Brandt gefährlich werden konnte.

Am 30. Januar endlich drängt der Innenminister in einem Gespräch mit Nollau darauf, die Ermittlungen endlich abzuschließen: »So oder so!«

Nollau bittet sich noch eine Vier-Wochen-Frist aus und legt am 1, März 1974 den Abschlußbericht über seine Ermittlungen vor -- einen Bericht, der so dürftig ausgefallen ist, daß der am 7. März unterrichtete Generalbundesanwalt es zunächst ablehnt, einen Haftbefehl gegen den DDR-Mann zu beantragen.

Brandt will es auch am 1. März immer noch nicht glauben, als Genscher und Nollau ihm den Abschlußbericht vorlegen. Nollau spricht in seinem Vortrag von zwei Kindern Guillaumes und muß sich nach neunmonatiger Beschattung der Guillaumes vom Kanzler belehren lassen, daß sein Guillaume nur einen Sohn hat. Brandt bleibt skeptisch -- nicht zuletzt deshalb, weil er in den zurückliegenden Monaten mehrfach nach dem Stand der Dinge hat fragen lassen, mit dem Ergebnis -- so Brandt später: »Null-Komma-Null«.

Erst Anfang März wird endlich die Sicherungsgruppe Bonn, Hilfsorgan der Bundesanwaltschaft, in die Nahbeobachtung Guillaumes mit einbezogen. Im April reist Guillaume zu einem Urlaub an die Côte d"Azur. Ein Großaufgebot Bonner Späher fährt mit. Die Beobachtungen bringen nichts ein.

Bei der Rückkehr überfällt die Beschatter Sorge, Guillaume könne gewarnt worden sein und sich absetzen. Mit dem Hinweis auf angeblich drohende Fluchtgefahr läßt sich der Generalbundesanwalt jetzt dazu bewegen, Haftbefehl zu erwirken.

Am Mittwoch, dem 24. April 1974, 6.32 Uhr, wird Guillaume in seiner Bad Godesberger Wohnung festgenommen. Er erklärt feierlich: »Ich bin Offizier der Nationalen Volksarmee der DDR und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Ich bitte, meine Offiziersehre zu respektieren.«

Noch heute rätseln die westdeutschen Agentenjäger, warum sich ihnen Guillaume mit seinem erstaunlichen Geständnis ausgeliefert hat.

Hätte Guillaume gewußt, mit wem er es zu tun hatte -- er hätte wohl geschwiegen.

Zur Ausgabe
Artikel 40 / 72