Ganztagsschulen sind ein Versprechen an die Eltern für die verlässliche Betreuung ihrer Kinder. Ab 2026 sollen sie einen Rechtsanspruch für ihre neu eingeschulten Grundschulkinder erhalten. Hunderttausende Betreuungsplätze müssen geschaffen, Räume um- oder neu gebaut, Personal in Zeiten von Erzieher- und Lehrermangel eingestellt werden. Gleichzeitig sollen Ganztagsschulen für mehr Gerechtigkeit in der Bildung sorgen, also die Kinder besser fördern, deren Eltern sie nicht gut unterstützen können. Die Studien dazu waren bisher allerdings eher ernüchternd. Der Sozialarbeiter Markus Sauerwein forscht zu dem Thema und wünscht sich statt mehr Förderkurse in Mathe und Deutsch eine kindgerechte Ganztagsschule, die darauf setzt, die Kinder mitentscheiden zu lassen.

ZEIT ONLINE: Herr Sauerwein, fünf Jahre noch, bis jedes Grundschulkind ein Anrecht auf einen Ganztagsschulplatz hat. Viel zu lange hin oder viel zu wenig Zeit? 

Markus Sauerwein: Die Bundesländer sind unterschiedlich weit. In Baden-Württemberg, Bayern und in Schleswig-Holstein ist der Nachholbedarf groß. Die Stadtstaaten und die ostdeutschen Bundesländer bieten hingegen schon jetzt in den Grundschulen fast flächendeckend eine Ganztagsbetreuung. In Ostdeutschland konnte vielerorts auf die bestehende Hortstruktur aufgebaut werden. In westlichen Bundesländern, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, sind viele Horte zugunsten der offenen Ganztagsschule abgeschafft worden.

ZEIT ONLINE: Heißt das, die ostdeutschen Länder müssten bis 2026 auch auf die Ganztagsschule umstellen?

Sauerwein: Nein. Im Gegenteil: Da der Anspruch auf einen Ganztagsschulplatz in der Sozialgesetzgebung veranschlagt wird und nicht bei den Schulbehörden, könnten sogar wieder neue Horte entstehen.

ZEIT ONLINE:
Im Hort spielt das Lernen im Nachmittagsangebot oft keine große Rolle. Müssten nicht im Sinne der Bildungsgerechtigkeit verpflichtende Ganztagsschulen das Ziel sein?

Sauerwein:
Das kommt darauf an, was man unter Bildungsgerechtigkeit und Lernen beziehungsweise Bildung versteht. Zunächst gibt es auch in Horten eine Hausaufgabenbetreuung, nur sind dort keine Lehrkräfte angestellt. Allerdings ist die schulische Organisation des Ganztags kein Garant dafür, dass Leistungsdefizite kompensiert werden. Unsere Studien zeigen, dass Ganztagsschule insgesamt keine leistungssteigernden Effekte hat. Relevant ist hingegen die Teilnahmemotivation. Nehmen Schüler und Schülerinnen Angebote freiwillig in Anspruch, kann dies durchaus auch die Leistung verbessern. Eine verpflichtende Teilnahme an Förderangeboten kann hingegen stigmatisierend wirken und so genau das Gegenteil bewirken. Ebenso ist es kontraproduktiv, wenn die beste Freundin das Kletterangebot besucht, während ich im Matheförderangebot schwitze.
Bildung sollte jedoch nicht nur auf Schulfächer begrenzt verstanden werden, sondern kann auch die Teilhabe an sportiven, kulturellen oder freizeitorientierten Angeboten beinhalten. Sinnvoll ist eine weniger strenge Auslegung der KMK-Definitionen in offene und gebundene Ganztagsschulen, sondern Flexibilität, wie sie viele Schulen bereits praktizieren. Eine Kernzeit bis circa 14 Uhr und danach optionale Nachmittagsangebote.

ZEIT ONLINE: Warum?

Sauerwein: Zum einen sind gebundene Ganztagsschulen politisch in Deutschland gar nicht durchsetzbar, weil sie die Rechte der Eltern einschränken, und zum anderen sind freiwillige Angebote kindgerechter.

ZEIT ONLINE: Inwiefern kindgerechter?

Sauerwein: Die Kindheit ist eine eigene Lebensphase, in der das Recht auf Spiel den gleichen Stellenwert haben sollte wie das Recht auf Schulbildung. Kinder sollten nicht nur in der Erwachsenenlogik funktionieren müssen, in der es um Schulnoten und Jobchancen geht. Sie lernen auch, wenn sie spielen. Qua Gesetzestext zu den Ganztagsschulen ist aber leider nur die Betreuung für die Eltern gesichert – und das ohne jede Qualitätsstandards. Und es ist leider nicht verankert, die Kinder selbst zu beteiligen. Ihre Wünsche werden nicht berücksichtigt. Dies ist letztlich abhängig von der Schule und den Mitarbeitern.

ZEIT ONLINE: Zum Beispiel?

Sauerwein: Aktuell befragen wir für die AWO in Düsseldorf Kinder und auch die Forschung von Kollegen und Kolleginnen kommt zu ähnlichen Befunden. Natürlich wünschen sich einige, im Nachmittagsbereich mit der Playstation oder mit der Xbox spielen zu dürfen – aber was ist so schlimm daran? Oft sind es aber auch relativ einfach umzusetzende Wünsche wie zum Beispiel härtere Bälle statt der Softbälle. Die sollen vor Verletzungen schützen, mit denen kann man aber gar nicht richtig Fußball spielen. Kinder wünschen sich außerdem echte Beziehungen mit ihren Betreuerinnen auf Augenhöhe: Sie wollen gefragt werden, was sie machen wollen. Und sehr viele wollen längere Pausen, in denen mal nichts stattfindet. Und Rückzugsmöglichkeiten. Darauf aber sind Schulen gar nicht eingerichtet. Lässt man Kinder Fotos von ihren Lieblingsorten in den Schulen machen, dann fotografieren sie zum Beispiel einen dunklen, engen Raum unter der Treppe einer Turnhalle. Da ist es vielleicht nicht schön, aber dort lässt sich in Ruhe mit den Freundinnen reden. Ganztagsschule heißt für viele Kinder nämlich auch, ständig unter Beobachtung zu sein, und dem möchten sie entkommen.

ZEIT ONLINE: Trotzdem bleibt ja der Anspruch an die Ganztagsschule, die Kinder besser zu fördern, die zu Hause nicht dieselbe Unterstützung bekommen wie privilegierte Kinder. Wie geht das, wenn freiwillige Angebot nicht die erreichen, die sie dringend brauchen?

Sauerwein: Pädagogen kommen nicht darum herum, am Nachmittag Projekte anzubieten, die Spaß machen. Sonst besuchen nur die ohnehin leseaffinen Gymnasiastinnen das Leseangebot. Die Kollegen und Kolleginnen vom IFS Dortmund haben zum Beispiel ein Leseförderprogramm, den Detektiv-Club, entwickelt für die Grundschule. Es geht nicht nur ums Lesen, das Fördernde steht nicht im Vordergrund, sondern die Detektivarbeit, das Spiel. Das Angebot ist sehr beliebt und hat trotzdem deutlich ausgleichende Effekte.