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Kultur

Alles kann, nichts muss

Herausgeberin Literarische Welt
Von Roche bis Boetticher: Selten wurde in Deutschland lebhafter über Intimitäten geredet als in diesem Sommer. Warum aber wirkt die Unverkrampftheit so zwanghaft?

In Deutschland gibt es kein ästhetisches Bewusstsein von Öffentlichkeit. Diese Erkenntnis gehört nicht nur zu den Grundpfeilern jener Theoriegebilde, die elegant zwischen Philosophie, Kulturkritik und Zeitdiagnostik stehen. Sie wird auch, als praktische Antwort auf die spitzen Rufe nach mehr Verständlichkeit, Wirklichkeitsbezug und Anwendbarkeit von Wissenschaft, tagein tagaus gelebt.

Etwa an Sommertagen, an denen die morgendliche U-Bahnfahrt dem Betrachten eines Otto-Dix-Gemäldes gleicht: hornhautstarre Füße quellen aus Sandalen, strähnige Haare schwitzen auf teigiger Haut fest, jemand öffnet ein Glas Bockwürste, um mit ihnen konzentriert im mitgebrachten Halblitereimer Kartoffelsalat zu gründeln. Alltagssurrealismus eben, geleitet vom Anspruch, nur ja keinen Gesetzen zu folgen, sondern allein einem Gebot: So "sein" zu dürfen "wie man eben ist", wie es in der elastischen Entspanntheitsrhetorik heißt, möglichst "zwanglos" eben.

Doch jede Öffentlichkeit hat eine Physiognomie, die etwas über sie aussagt, auch wenn sie noch so vehement versucht, alle Festlegungen zu vermeiden. Sieht man sich also um in Deutschland und seinen Debatten, zeigt sich vor allem eins: eine gefühlige Intimität, die ihren Ausdruck irgendwo zwischen dem scheuen Voyeurismus eines Professors, der zum ersten Mal einen Swingerclub besucht, und der krachenden Erzähllust einer Mittvierzigerin auf der Therapeutencouch findet.

Bereits zu Beginn des Sommers war die Zeitungslandschaft durchzogen vom Hauch des Privaten. Erst erschienen Dossiers, die sich mit den "Gefühlswelten" von Frauen beschäftigten, Attraktivitätsgedanken, Sehnsüchten, Mutterschaftsproblemen. Dann folgten Wochenmagazine mit Titelgeschichten über "verletzte Seelen" oder "Lippenbekenntnissen" zur Untreue, unterlegt von Bildern einer Rothaarigen mit ätherisch verschleiertem Rehblick oder einem kirschig-prallen Lipglossmund. Zuletzt folgte die Diskussion um weibliche Begierde und Körperlichkeit anlässlich des neuen Buches von Charlotte Roche.

Sicher: Erst einmal sind das Geschichten, Fragen und Inhalte, die aufkommen und wieder verschwinden. Aber in dieser nach Außen gekehrten Innerlichkeit liegt noch mehr - und es ist weder der Terror der Intimität, wie man ihn noch vor einiger Zeit bezeichnet hat, als die Talkshows über Partnertausch und Analsex aufkamen, noch die gedrosselte Hysterie um die Tatsache, dass auch Frauen Phantasien haben können, die man altväterlich als "schmutzig" oder "unanständig" bezeichnen würde.

Bezeichnet "Öffentlichkeit" aber nicht gerade einen Ort, an dem die Fragestellungen des Individuellen überwunden sind, wo das Private also gerade keine Rolle spielt? Man muss nicht so weit gehen wie Albert Camus, der in seinem Tagebuch schrieb, kein Volk könne außerhalb der Schönheit leben und daraus in gouvernantenhafter Strenge die Forderung nach einer Vorstellung von Öffentlichkeit ziehen, in der die Erscheinung auch einen Wert hat oder wenigstens einen Platz, der nicht krampfhaft eingeräumt werden muss, sondern der ihr selbstverständlich zukommt - einer Vorstellung also, der dieser Tage das allgegenwärtige Tragen von Miniaturrucksäcken ebenso entgegensteht wie die Sitte, selbst geschäftliche Emails mit "Lieben Grüßen" zu unterzeichnen.

Es geht nicht mehr nur um den Vorwurf eines Zuviels an Intimdetails, aus dem sich dann die Aufforderung zur Zurückhaltung ergibt, allein weil man die euphemistischen Floskeln von "Rubensfrauen" oder "Seelenstriptease" nicht mehr hören mag, wie überhaupt jede aufgeklärte Schmusigkeitssprache.

Es geht viel eher um die Perspektive eines staunenden Entdeckens, wie es sich gerade in der Reaktion auf Charlotte Roches Buch gezeigt hat. So unterschiedlich die Besprechungen waren, durchzog beinahe jede ein doppelter Boden - die Botschaft nämlich, wie unverkrampft man selbst über Sexualität sprechen könne, in einem Ton, der zwischen renitenter Rechtfertigung, Eigentherapie und schnauzbärtigem Conaisseurtum schwankte. Warum diese Aufgeregtheit, die doch so auffällig still und berechenbar bleibt?

Es wäre eine zu brachiale Pointe, den allerletzten Fall öffentlichgemachter Privatheit anzuführen und die Reaktion auf die Affäre Boetticher - voyeuristische Neugier am Bruch eines moralischen Tabus und Kritik an der Obszönität des Karrieristen - als weiteres Phänomen einer Gleichsetzung von Öffentlichkeit und Intimsphäre zu werten. Vielmehr tritt hier der Unterschied zwischen den Gesetzten des politischen Skandals und der lebensnahen Debattensphäre der Zwanglosigkeit hervor.

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Sicher ließe sich auch daraus eine Kollektivismustheorie deutscher Gefühligkeitskultur stricken - nicht von ungefähr existieren über kein anderes Volk mehr Thesen zum kollektiven Verhalten als über die Deutschen. In letzter Konsequenz entstünde so das Bild einer Öffentlichkeit, die in ihrer Physiognomie immer weicher wird, fleischiger, intimer.

Eines will man dem schon jetzt entgegenhalten: Gilt hier nicht die alte Weisheit, dass das, was verhüllt ist, immer interessanter, aufreizender ist als das Nackt-Direkte, das einem ins Gesicht gehalten wird? Das Ahnen ist das Gegenteil des naiven Bestaunens, in der Wirklichkeit wie in der Vorstellung. Die Pornographen, Obszönen, Elegant-Vulgären der Literatur haben es vorgemacht: Georges Bataille, Marquis de Sade, Nicholson Baker oder auch Vladimir Nabokov, dessen Meisterwerk "Lolita" nun als falsch platziertes Label für die Affäre eines Regionalkonservativen herhalten muss. Eben diese Grundkonstante des Intimen auszublenden bedeutet: in einer Zwanglosigkeit schwelgen, die wenig mehr ist als die intellektuelle Entsprechung eines Swingerclubgängers, der sich, unten ohne auf einem Hocker, ein gepflegtes Pils genehmigt.

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