Warum sind die USA fast zahlungsunfähig?

Finanzministerin Janet Yellen hat gewarnt, dass der US-Regierung bereits Mitte Oktober das Geld ausgehen könnte. Die Folgen wären verheerend: Bis zu 50 Millionen amerikanische Rentner würden vergeblich auf ihren monatlichen Scheck von der Sozialversicherung warten, Familien bekämen kein Kindergeld, und Soldaten blieben ohne Sold. Der Grund für die drohende Zahlungsunfähigkeit ist die Schuldenobergrenze. Sie definiert einen Höchstbetrag, mit dem die Regierung in Washington sich verschulden darf. Festgelegt wird dieses Limit durch den Kongress. Nur durch die Zustimmung der Mehrheit in beiden Kammern, also im Repräsentantenhaus und im Senat, kann die Schuldengrenze angehoben werden.

Laut Yellens Ministerium beläuft sich der nationale Schuldenstand aktuell auf 28,5 Billionen Dollar. Das entspricht 125 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes. Die Schuldenobergrenze war nach einem Beschluss des Kongresses von 2019 bis zum Juli dieses Jahres vorübergehend ausgesetzt worden. Ab August gilt wieder die Obergrenze von 22 Billionen Dollar – plus die Schulden, die während der Zeit aufgenommen wurden, in der die Obergrenze ausgesetzt war.

Wenn der Kongress den aktuellen Schuldendeckel nicht anhebt, kann Yellen keine neuen Staatsanleihen ausgeben. Sie braucht die Einnahmen aus diesen Schuldverschreibungen aber dringend, um die laufenden Ausgaben zu decken. In den vergangenen Wochen hat Yellen bereits Pensionsrückstellungen für Beamte aufgeschoben. Doch solche "außerordentlichen Maßnahmen", die das Finanzministerium nutzen kann, dürften bald ausgereizt sein. Dann stehen Ausgaben an, die sich nicht vertagen lassen.

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Warum kommt es in Amerika immer wieder zu solchen Situationen?

Eingeführt wurde die Schuldenobergrenze schon 1917. Sie sollte die Gegner des Kriegseintritts der USA beruhigen, die eine Überschuldung fürchteten. Im Zweiten Weltkrieg verschaffte die Schuldenobergrenze der Regierung mehr Spielräume bei der Finanzierung der Militärausgaben. Zuvor musste sie für jede Ausgabe von Staatsanleihen die Genehmigung des Kongresses einholen. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich aus dem Schuldendeckel jedoch ein Ritual, das beide Parteien für ihre Zwecke nutzen. Seit 1960 hat der Kongress den Schuldendeckel 78-mal angehoben oder ausgesetzt.

Im vergangenen Jahr verabschiedete der Kongress mit den Stimmen der Republikaner unter Präsident Donald Trump billionenschwere Covid-Hilfspakete. Sie wurden durch Kredite finanziert und sprengten den Schuldendeckel. Nun weigern sich die Republikaner jedoch, die Obergrenze entsprechend anzuheben, um die verabschiedeten Ausgaben tatsächlich zu finanzieren. Das weckt ungute Erinnerungen an 2011, als die Republikaner die anstehende Erhöhung der Schuldenobergrenze nutzten, um Präsident Barack Obamas Agenda zu blockieren. Erst Stunden bevor die USA in die Zahlungsunfähigkeit gerutscht wären, einigten sich die Parteien doch noch. Dennoch stufte die Ratingagentur S&P in der Folge die Kreditwürdigkeit der USA von AAA auf AA+ herunter.

Um die Begrenzung von neuen Ausgaben geht es den Parteien nicht unbedingt. So etwa als die Demokraten – darunter Joe Biden – 2006 ihre Zustimmung zu einer Erhöhung verweigerten. Sie wollten dadurch die politische Verantwortung für die Kosten von Präsident George W. Bushs Steuerreform sowie den Kriegen in Afghanistan und dem Irak alleine den Republikanern zuschieben.

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Welche ökonomischen Folgen hat der Kampf um die Staatsschulden?

Wenn das Risiko besteht, dass die USA ihrem Schuldendienst nicht mehr pünktlich nachkommen, könnten Investoren höhere Zinsen für die US-Schuldscheine verlangen. Dann müssten die amerikanischen Steuerzahler mehr für den Schuldendienst aufbringen. Die Herabstufung 2011 durch die Ratingagentur S&P etwa kostete allein in diesem Fiskaljahr zusätzliche 1,3 Milliarden Dollar an Zinsen, so der Rechnungshof des Kongresses. Zudem leiten sich Zinsen für Kredite und andere Wertpapiere von den Renditen für die US-Anleihen (Treasuries) ab. In der Folge würden also auch die Zinsen für private Schulden wie Hypotheken, Autokredite und Kreditkarten schlagartig anziehen. Die höheren Kosten träfen auf diesem Wege auch die US-Konsumenten. Wird die Obergrenze nicht rechtzeitig erhöht, könnte das Finanzministerium sich außerdem gezwungen sehen, rund 40 Prozent der Zahlungen der Bundesregierung für Millionen US-Haushalte und Unternehmen einzustellen, also etwa für Sozialleistungen oder offene Rechnungen für Staatsaufträge, kalkulierte die Investmentbank Goldman Sachs.

Erreicht der Kongress keinen Kompromiss, droht neben den realwirtschaftlichen Effekten auch eine Finanzkrise. Als die USA im Jahr 2011 nahe an die Zahlungsunfähigkeit rückten, brachen die Aktienmärkte um knapp 20 Prozent ein. Allein der Schock über die politische Dysfunktion und Unsicherheit könnten die USA in eine Rezession fallen lassen, fürchten Ökonomen. Die Ratingagentur Moody’s etwa prognostiziert, dass im schlimmsten Fall sechs Millionen Jobs und 15 Billionen Dollar an Vermögenswerten vernichtet werden.

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Wie wahrscheinlich ist es, dass es tatsächlich zur Insolvenz kommt?

Bisher hat der Kongress es nie zur Zahlungsunfähigkeit kommen lassen. Im Repräsentantenhaus verfügen die Demokraten aktuell über genug Stimmen, um die Schuldenobergrenze zu erhöhen. Dort haben sie vergangene Woche bereits einen Gesetzesentwurf verabschiedet, der die Schuldenobergrenze bis Ende 2022 aussetzen würde.

Am Montag ist das Gesetz im Senat jedoch an den Republikanern gescheitert. Die Republikaner wollen die Demokraten zwingen, die Erhöhung der Schuldenobergrenze mit der Verabschiedung des 3,5 Billionen Dollar schweren Infrastruktur- und Sozialpakets von Präsident Biden zu verknüpfen. Das könnten die Demokraten alleine über einen legislativen Sonderweg verabschieden, der nur für Gesetze mit Haushaltsbezug gilt. Doch Bidens teuerstes Vorhaben ist in seiner eigenen Partei umstritten. Käme die Schuldengrenze in dieses Paket hinein, wäre die eigene Mehrheit noch wackliger. Am wahrscheinlichsten dürfte sein, dass die Demokraten die höhere Schuldengrenze separat als Gesetz mit Haushaltsbezug durch die Kammer bringen. Dann reichen ihre eigenen Stimmen im Senat. Allerdings dürften die Republikaner die Abstimmung im kommenden Kongresswahlkampf 2022 nutzen, um die Demokraten als Verschwender von Steuergeldern darzustellen.

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Was bedeutet die Situation für den Rest der Welt?

Eine Insolvenz – und sei es auch nur aus politischen Gründen – hätte Auswirkungen weit über die USA hinaus. Die US-Staatsanleihen bilden die Basis für die globalen Finanzmärkte. Treasuries gelten immer noch als sicherstes Finanzinstrument der Welt, als Hafen, in den Investoren von überall auf der Welt mit ihrem Geld fliehen, wenn es dort zu Turbulenzen kommt. Würde sich deren Ausfallrisiko schlagartig erhöhen, könnte das zu einer Panik führen. Die Krise würde mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur US-Finanzinstitute, sondern auch die internationalen Banken erfassen, die für ihre Geschäfte Treasuries als Sicherheiten einsetzen.

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