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Artikel 18 / 83

PÄTSCH-URTEIL Wägen, wägen

aus DER SPIEGEL 13/1966

Der Bundesgerichtshof war väterlich und furchtbar, rück- und fortschrittlich, weise und zu weise - alles gleichzeitig. Diese salomonische Tat vollbrachte der 3. Strafsenat in der jetzt vorliegenden schriftlichen Begründung des am 8. November 1965 gefällten Urteils gegen den Ex-Verfassungsschützer Werner Pätsch.

Auf 113 Schreibmaschinen-Seiten haben die Richter den Kasus für die bundesdeutsche Rechtsgeschichte festgehalten - unter 44maliger Verwendung des in Großbuchstaben geschriebenen Wortes »Geheim«, das an Stelle eines auch heute noch geheimzuhaltenden Namens aus der Pätsch-Story des Jahres 1963 steht.

Damals hatte Werner Pätsch, Angestellter im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), dem Rechtsanwalt Dr. Augstein in Hannover und dem SPIEGEL anvertraut, was die BfV -Männer in den Verdacht illegaler, im Dritten Reich erlernter Tätigkeit brachte:

- daß das Kölner Amt eine Heimstatt

ehemaliger Nationalsozialisten sei,

- daß die Telephone deutscher Staatsbürger mit Hilfe der Alliierten in verfassungswidriger Weise überwacht würden.

Zur Erhärtung seiner Angaben präzisierte Pätsch die von den Ex-Nazis besetzten BfV-Stellen und nannte Details aus der Arbeit der Telephonhorcher. Als diese Mißstände im SPIEGEL (30/1963) und später auch im »Stern« enthüllt wurden, glaubte sich Informant Pätsch gefährdet und flüchtete zu seinem Anwalt Augstein. Er wurde aus dem BfV entlassen und in Karlsruhe angeklagt.

Nach zwölftägiger Verhandlung sprach ihn der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs von der Anklage des Landesverrats frei und verurteilte ihn lediglich »wegen vorsätzlicher Verletzung der Amtsverschwiegenheit« zu vier Monaten Gefängnis mit Bewährung.

So einsichtsvolle Richter Pätsch fand, so erleichtert der kleine Angestellte wieder aus der Rolle des Prozeß-Stars ins normale bürgerliche Leben zurückkehrte - er ist heute Programmierer in Köln -, so verschreckt müssen alle potentiellen Pätsche sein, wenn sie mit dem Gedanken umgehen, ein rechtswidriges Staatsgeheimnis öffentlich aufzudecken. Das Pätsch-Urteil belehrt sie über viele Seiten, in welch diffiziler Weise sie vor einem solchen Schritt ihr Gewissen befragen, ihre Intelligenz anstrengen und Rechtskenntnisse erwerben müssen, wenn sie nicht riskieren wollen, weit härter gestraft zu werden als der vom Glück begünstigte Pätsch.

Denn die Richter des 3. Senats scheuten sich, die Grundfrage des Prozesses eindeutig zu entscheiden: Gibt es ein illegales Staatsgeheimnis, ein Staatsgeheimnis, das im Widerspruch zum Gesetz oder gar zur Verfassung steht, aber gleichwohl geheimzuhalten ist?

Der BGH hatte diese Frage bis dahin noch nie zu judizieren. Die Meinung der Rechtslehre ist geteilt. SPD-Kronjurist Adolf Arndt postulierte: »Für einen Rechtsstaat (ist es) schlechthin eine Selbstverständlichkeit, daß schutzwürdig einzig ein Geheimnis sein kann, das nicht nur mit seiner Verfassung, sondern überhaupt mit seinem Recht in Einklang steht.« Die Strafjuristen Mezger und Kleinknecht dagegen halten die Preisgabe eines Staatsgeheimnisses stets für strafbar, selbst wenn dieses Staatsgeheimnis verfassungswidrig ist.

Hier beschritten die Bundesrichter zum erstenmal einen Mittelweg, der später in ein Labyrinth von Mittelwegen einmündete: Einerseits soll der Staatsbürger, von der Verfassung »zu tätiger Mitarbeit am Staate« aufgerufen, einen Mißstand auch anprangern dürfen, wenn dieser ein Geheimnis berührt, andererseits kann einem Sachverhalt »nicht allein schon deshalb, weil ihm irgendein Verstoß gegen die Rechtsordnung anhaftet, die rechtliche Bewertung als Staatsgeheimnis ... schlechthin abgesprochen werden«.

Freilich: Das Wort »schlechthin« ist unterstrichen, muß also betont werden und besagt dann: In bestimmten Fällen genießen diese pervertierten Geheimnisse doch keinen rechtlichen Schutz mehr. Das Karussell der Einschränkungen und Gegeneinschränkungen gewinnt Fahrt.

Einerseits, so schreiben die Richter, wollen sie nicht einer Staatsräson das Wort reden, »der gegenüber, sobald Staatsgeheimnisse in Frage stehen, jeder zu schweigen hat«. Andererseits aber »lassen es die tatsächlichen Lebensnotwendigkeiten eines Staates ... als nicht angängig erscheinen, ... jegliches Staatsgeheimnis ... ohne weiteres öffentlich zu rügen«.

Hier sind die Vokabeln »jegliches« und »öffentlich« unterstrichen. Mit anderen Worten: Gewisse, besonders schwere Geheimnisse dürfen nicht gerügt werden, besonders leichte vielleicht; wenn ein besonders schweres aber doch gerügt wird, dann jedenfalls - was bei einem leichten angängig wäre - nicht ohne weiteres öffentlich.

Die öffentliche Rüge eines an sich geheimzuhaltenden Mißstandes ist immer nur dann zulässig, wenn das näherliegende, unschädlichere Mittel versagt hat: Anrufung der zuständigen Behörde und Offenbarung gegenüber einem Volksvertreter.

Allerdings: Nur ein zuständiger Volksvertreter darf ins Vertrauen gezogen werden: Für Staatsgeheimnisse des Bundes ist ein Abgeordneter des Bundestags, nicht etwa eines Landtags zuständig.

An diesem Punkt angelangt, kommt ein Staatsdiener, der einen geheimnisbedürftigen Mißstand anprangern möchte, wieder in den Genuß einer Gegeneinschränkung: Die Forderung, mit der Rüge nicht sogleich an die Öffentlichkeit zu treten, kann »nicht ausnahmslos gelten«. Wenn ein illegales Staatsgeheimnis den »Kernbereich der Verfassung« berührt, hat jeder das Recht, »sofort und ohne jeden Umweg die Öffentlichkeit anzurufen«.

Als diesen Kernbereich definierten die Bundesrichter Grundsätze wie Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Ablösbarkeit der Regierung - Prinzipien also, die allenfalls bei einem revolutionären Umsturz in Frage gestellt werden.

Anstatt nun aber wenigstens angesichts des sakrosankten »Kernbereichs« das Karussell des Einerseits-Anderseits abzustoppen, fanden die Bundesrichter doch noch eine Einschränkung: »Freilich muß dieser Verstoß von einer gewissen Bedeutung, also von einer gewissen Schwere sein.«

Denn: »Die Rücksicht auf die staatlichen Lebensnotwendigkeiten verlangt, daß nicht etwa unbedeutende Verstöße gegen die verfassungsmäßige Ordnung zur Preisgabe von vielleicht höchsten Staatsgeheimnissen führen können.«

Ein Beamter, der - wie Pätsch einen für geheim erklärten Mißstand aufdecken will, muß also zunächst wägen, wägen wie ein Bundesrichter in Strafsachen. Entschließt er sich dennoch zum Handeln, weiß er immer noch nicht - einschlägige Rechtskenntnisse stets vorausgesetzt -, wie sein Anschlag auf die Staatssicherheit schließlich bewertet wird: Beseitigt der illegale Ruch des Staatsgeheimnisses gänzlich die Tatbestandsmäßigkeit, so daß gar kein Geheimnis im Sinne des Gesetzes mehr übrigbleibt, oder wird lediglich die Rechtswidrigkeit der Bekanntgabe des - an sich intakten - Staatsgeheimnisses aufgehoben?

Antwort des BGH: Einerseits, andererseits. Einerseits wäre es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen schwer vereinbar, wenn ein Verfassungsverstoß gleichwohl das Staatsgeheimnis als solches bestehen ließe. Andererseits würde der Verfassungsverstoß - wenn er die Tatbestandsmäßigkeit beseitigt - auch »einem niedrigen Verräter zugute kommen«. Dieser könnte mangels Tatbestands nicht mehr verfolgt werden, wohl aber, wenn der Verfassungsverstoß lediglich die Rechtswidrigkeit beseitigt: Auf sie kann sich der Verräter wegen seiner bösen Absicht nicht berufen.

Hier kapitulierte der Senat: Er ließ die Frage unentschieden. Allerdings nicht ohne ein Dritterseits: Nur im Fall einer wirklich schweren Verfassungsverletzung kann die Tatbestandsmäßigkeit schwinden. Bei einem leichteren Verstoß bleibt das Staatsgeheimnis, was es ist: staatlich reserviertes Heiligtum, bei dessen öffentlicher Bloßstellung lediglich die Rechtswidrigkeit entfallen kann.

Aus dem Labyrinth der Entweder -Oder zogen die hohen Richter sich, den kleinen Pätsch und die Kölner Verfassungsschützer mit Eleganz auf übersichtliches Terrain: Ob das Kölner Amt sich eines schweren oder leichten Verfassungsverstoßes schuldig gemacht habe, könne unentschieden bleiben, da jedenfalls nach Pätschens »Vorstellungsbild ein schwerer Verstoß« vorgelegen habe.

Um es sich aber nicht zu leicht zu machen und wahrscheinlich auch, um künftige Pätsche abzuschrecken, die sich leichtfertig »schwere« Verfassungsverstöße suggerieren könnten, nötigten sich die Richter noch ein letztes Aber ab: Durch die Mitteilung der Dienststellen der Ex-Nazis im Amt - »naturgemäß« nicht durch die Bezeichnung ihrer Vergangenheit - gegenüber dem SPIEGEL wurde das Staatswohl gefährdet, »selbst dann gefährdet, wenn die Mitteilungen zunächst nur zur Nachprüfung auf ihre Richtigkeit gemacht wurden«.

Hinwiederum: Pätsch würde überfordert, wollte man von ihm verlangen, er hätte »dem Rechtsanwalt Dr. Augstein erklären müssen, er lehne es ab, den SPIEGEL-Vertretern Rede und Antwort zu stehen«.

Die Anklage auf Landesverrat fiel in sich zusammen. Höchstrichterliche Milde umflutete den Angeklagten - allerdings nicht ganz von ungefähr: Nach dem mündlichen Spruch hatte Rechtsanwalt Augstein gegen das Urteil Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben, Arndt zerrupfte es.

Daraufhin geschah etwas Seltsames: In der schriftlichen Urteilsbegründung, die Anfang März in Karlsruhe fertiggestellt wurde, wichen die Bundesrichter verschiedentlich von schriftlich gefaßten »Grundzügen« der Urteilsbegründung ab, die sie am Ende des Prozesses an die Presse verteilt hatten.

Bangten sie damals beispielsweise auf Seite vier, daß bei zu großer Liberalität eine »nicht zu verantwortende Lücke im Staatsschutzrecht entstehen« könne, so tauchte die Lücken-Formulierung in den schriftlichen Urteilsgründen auf Seite 74 nur mehr als Sorge des Freiburger Rechtsprofessors Jescheck auf. Dessen Ansicht schloß sich das Gericht an - offenbar in der Hoffnung, das Urteil damit noch nachträglich gegen die Verfassungsbeschwerde abzusichern.

Ex-Verfassungsschützer Pätsch

Auf 113 Seiten 44mal »Geheim«

SPD-Jurist Arndt

Ein Labyrinth von Mittelwegen

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