Neun Monate im Krieg, ohne einmal zu schiessen

Der Erste Weltkrieg ist im Comic abgearbeitet. Erst jetzt aber entdecken französische Comicautoren die Zeit zwischen 1939 und 1944: Blitzkrieg, Besetzung und Widerstand.

Christian Gasser
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Drei französische Soldaten liegen bäuchlings im Gras, die Köpfe unter den verschränkten Armen, während ein deutsches Jagdgeschwader über sie hinwegbraust und Bomben sät. «War’s das?», fragt einer, als die Stukas sich entfernen. Von Heroismus keine Spur.

Pascal Rabaté gewährt seinen Figuren keine Chancen, sich als Helden aufzuspielen. (Bild: PD)

Pascal Rabaté gewährt seinen Figuren keine Chancen, sich als Helden aufzuspielen. (Bild: PD)

Dieses erste Bild gibt den Ton an in Pascal Rabatés Graphic Novel «Zusammenbruch», die von ein paar heissen Tagen im Juni 1940 handelt. Hitlers Wehrmacht überrollt Frankreich. Innert weniger Tage und ohne echte Gegenwehr wird das Land besetzt, geteilt und gedemütigt. Die Zeit der schmachvollen Besetzung und der nicht minder schmachvollen Kollaboration beginnt.

Zeuge des Todes

Im Mittelpunkt von «Zusammenbruch» steht der Lehrer und Soldat Amédée Videgrain. Weil sein Motorrad den Geist aufgibt, verliert er seine Einheit und muss einsam und zu Fuss eine endlose Landstrasse abmarschieren. Dabei überholt er andere Verbände und wird Zeuge, wie Soldaten Tote im Strassengraben verscharren. Immer wieder kommen ihm auch Kolonnen von Menschen entgegen, die mit ihrem Hab und Gut fliehen. Kaum aber hat Videgrain seine Truppe eingeholt, ergibt sich diese kampflos. So beginnt der lange Marsch in die Kriegsgefangenschaft.

Mit Comics über den Ersten Weltkrieg könnte man ganze Bibliotheken füllen. Der Zweite Weltkrieg hingegen scheint die französischen Comic-Schaffenden bisher kaum inspiriert zu haben. Dabei handelt es sich bei Sitz- und Blitzkrieg, Occupation und Collaboration um dramatische Themen, die in Film und Literatur seit Kriegsende auch immer wieder bearbeitet wurden. Weshalb also nicht auch in Comics? Liegt es womöglich daran, dass der Zweite Weltkrieg aus französischer Perspektive – abgesehen von der verklärten Résistance – kaum Stoff für Heldengeschichten bietet? Wo sollte man charismatische Identifikationsfiguren finden, wie spektakuläre Kampfszenen zeigen für die actiongeladene Unterhaltung?

Allein dafür aber schien der Comic lange zuständig, für schlicht gestrickte Abenteuer. Das hat sich geändert, seit er sich von der Zuschreibung auf reine Zerstreuung gelöst hat. Folgerichtig entdecken mehr und mehr Autoren den unrühmlichen Zeitabschnitt von 1939 bis 1944 nun nicht als eine Epoche militärischer Abenteuer, sondern als Geschichte menschlicher Dramen, moralischer Konflikte und Verwerfungen.

Die Gemeinschaft zerfällt

In «Zusammenbruch» (dessen französischer Titel «La Déconfiture» endgültiger und sarkastischer klingt) werden keine kriegerischen Aktionen gezeigt – abgesehen von ein paar abstürzenden Flugzeugen. «Neun Monate Krieg, und ich habe nicht ein einziges Mal geschossen», so die Feststellung eines unbekannten Soldaten nach der Kapitulation. Rabaté gewährt seinen Figuren eben keine Gelegenheiten, sich als Helden aufzuspielen, auch Pathos und Klischees meidet er konsequent.

«Zusammenbruch» rückt vielmehr die Erbärmlichkeit einer Armee ins Bild, die sich in Auflösung befindet. Material und Ausrüstung sind obsolet, die Befehlslage ist unklar, und niemand zeigt auch nur den geringsten Ehrgeiz, sich der militärischen Naturgewalt Deutschlands entgegenzustellen. Erzählt wird das beiläufig; Rabaté verzichtet auf Erklärungen, historische Fakten und Zusammenhänge. Stattdessen nimmt er den Blickwinkel der Soldaten ein.

Diese Graphic Novel bleibt nicht Kriegsfreske oder historisches Panorama, sondern zoomt direkt in den unspektakulären Kriegsalltag hinein. Der Leser steckt mittendrin und belauscht die Gespräche der Soldaten, Gespräche von beklemmender Banalität und Ehrlichkeit. Wobei Rabaté als begnadeter Satiriker französische Mediokrität auf die Schippe nimmt und seine Bildergeschichte immer wieder mit schwarzem Humor ansäuert. Man würde lachen, wüsste man nicht, dass die jungen Männer in dieser verlorenen Situation um ihr Leben bangen.

Und während sie sodann in einer schier endlosen Kolonne nach Deutschland marschieren, zerfällt ihre Gemeinschaft, bis jeder nur noch an sich selbst denkt. Zuletzt flieht der scheinbar solidarische Videgrain und überlässt einen Kumpan dabei dem sicheren Tod. Keine Spur von Heroismus.

Vater und Sohn

Dem Berufssoldaten René Tardi blieb die Flucht aus einer Marschkolonne verwehrt. Im dreibändigen «Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB» setzt sein Sohn, Jacques Tardi, dort ein, wo Rabaté aufhört. Der Comiczeichner, der nicht zuletzt für seine Geschichten über den Ersten Weltkrieg berühmt wurde, hat hier die Kriegsgefangenschaft seines Vaters nachgezeichnet. Dabei konnte er sich auf dessen Notizen stützen: drei eng beschriebene Tagebücher.

56 Monate lang hatte René Tardi in einem Stammlager in Pommern für das «Dritte Reich» zu arbeiten. Er war nicht allein. Die Nazis hatten über 1,8 Millionen französische Männer verschleppt. Diese Deportation wurde in Frankreich lange verdrängt, desgleichen all die persönlichen Dramen, die sich nach der Heimkehr der Gefangenen abspielten. Die jungen Männer kamen in eine Welt zurück, in der es für viele keinen Platz mehr gab: Sie hatten ihre Arbeitsstellen, Studienplätze und nicht selten auch ihre Partnerinnen verloren. Und dass sie als Verlierer gebrandmarkt und für Frankreichs Niederlage verantwortlich gemacht wurden, erschwerte ihre Wiedereingliederung zusätzlich.

Es ist eine wichtige Geschichte, die Tardi erzählt. Aber die familiäre Nähe zwischen dem Erzähler und seinem Protagonisten erweist sich auch als problematisch. Der Sohn wagt es nicht, die Erlebnisse des Vaters in einer Erzählung zu verdichten, in der die Bilder den Rhythmus der Narration bestimmen. Stattdessen wird der Vater frontal zum Leser ins Bild gesetzt, um zu erzählen und zu beschreiben, was ihm widerfahren ist. Meistens steht Jacques Tardi als Jugendlicher neben dem Papa und souffliert ihm mit seinen Fragen die Stichworte für weitere Exkurse.

Belehrung

Was der Vater nicht alles aufzählen kann: Namen, Ortschaften, Daten, Fakten – alles zweifellos korrekt. Aber das Protokoll wirkt unangenehm didaktisch. Und die Panels tragen die Handlung nicht, sie illustrieren sie bloss. Während es Jacques Tardi in seinen Comics über den Ersten Weltkrieg schaffte, den Leser in den knietiefen Morast der Schützengräben zu versetzen, kommt er aus Respekt zu seinem «Alten» (O-Ton Tardi) nun nicht über einen flachen Dokumentarstil hinaus. So wähnt man sich im Diavortrag eines verlebten, verbitterten Mannes.

Trotz ästhetischen Schwächen erfreut sich «Ich, René Tardi» in Frankreich eines überwältigenden Erfolgs. Und gewiss hat dieser Band Signalwirkung. Der Zweite Weltkrieg, die Zeit von Besatzung, Kollaboration und Widerstand, dürfte im Comics künftig vermehrt zum Thema werden. Für Heroismus, Pathos, Frontkitsch und Selbstmitleid gibt es dabei keinen Platz.

Pascal Rabaté: Zusammenbruch. Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Reprodukt, Berlin 2019. 216 S. – Jacques Tardi: Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIb. Aus dem Französischen von Christoph Schuler. Edition Moderne, Zürich 2019. 3 Bände, je 120–200 S.

Dank «Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIb» dürfte der Zweite Weltkrieg im französischen Comics vermehrt zum Thema werden. (Bild: PD)

Dank «Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIb» dürfte der Zweite Weltkrieg im französischen Comics vermehrt zum Thema werden. (Bild: PD)

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