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Geschichte Attentat auf Hitler

Ein Kilo des geheimen Sprengstoffs war zu wenig

Die Bombe, die am 20. Juli 1944 Hitler töten sollte, bestand aus Plastit W, einem neu entwickelten Supersprengstoff. Eine verhängnisvolle Fehleinschätzung ließ das Attentat des Widerstands scheitern.
Widerstand gegen den Nationalsozialismus

Millionen Deutsche waren Mitglieder der NSDAP oder gleichgeschalteter Organisationen. Doch es gab auch Menschen, die gegen die braune Diktatur Widerstand leisteten. Oft unter Einsatz ihres Lebens.

Quelle: WELT

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Die Ermittler blieben vage: „Kombiniertes deutsch-englisches Sprengmaterial“, schrieben die Mitglieder der „Sonderkommission 20. Juli“ in ihren Bericht vom 10. August 1944: „Mit diesem Sprengmaterial ist Attentat durchgeführt.“

Doch was bedeutete „deutsch-englisches Sprengmaterial“? Was genau befand sich in der Aktentasche von Claus Schenk Graf Stauffenberg, die er an jenem Donnerstag bald nach 12.30 Uhr unter den großen Kartentisch in der Lagebaracke des Führerhauptquartiers Wolfsschanze in Ostpreußen stellte? Was genau detonierte etwa zehn Minuten später?

Stauffenberg-Attentat auf Adolf Hitler

Am 20. Juli 1944 platziert Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg bei einer Besprechung eine Bombe am Kartentisch neben Adolf Hitler. Die Sprengladung detoniert. Doch Adolf Hitler hat überlebt.

Quelle: STUDIO_HH

Den Ermittlern, darunter neben Gestapo-Beamten mehrere Fachleute des Kriminaltechnischen Instituts der Sicherheitspolizei, half ein Zufall: Der Fahrer, der Stauffenberg und seinen Adjutanten Werner von Haeften nach der Explosion eilig zum nächstgelegenen Feldflugplatz gebracht hatte, erinnerte sich: Einer der beiden hatte während der Fahrt etwas aus dem Wagenfenster geworfen.

Nach kurzer Suche wurde ein Päckchen am Rand der Straße gefunden. Es handelte sich um einen in Wachspapier eingeschlagenen, 975 Gramm schweren und etwa 32 mal acht mal drei Zentimeter großen Klumpen knetbaren Materials, außerdem zwei Standardsprengkapseln und einen Metallstift mit Beschriftung in Englisch.

Stauffenbergs Aktentasche (Rekonstruktion der Gestapo)
Rekonstruktion von Stauffenbergs Aktentasche durch die Gestapo
Quelle: NARA / Public Domain

Die Untersuchung zeigte, dass es sich bei dem knetbaren Material um ein deutsches Fabrikat handelte. Schon im ersten Bericht der Sonderkommission vom 26. Juli 1944 hieß es: „Die kriminalpolizeiliche Untersuchung des gefundenen zweiten Sprengstoffs hat ergeben, dass es sich um einen Spezialsprengstoff handelt (Hexogenit). Er ist einem englischen Sprengstoff nachgebildet und bei einfacherer Struktur noch größer in der Wirkung.“

Wie aber kam Stauffenberg an diesen Spezialsprengstoff? Der deutsche Historiker Peter Hoffmann, der jahrzehntelang in Montreal gelehrt hat, fand es heraus. Recherchen bei der Wasag Chemie ergaben, dass der „Spezialsprengstoff“ entweder in deren Werk Reinsdorf (Sachsen-Anhalt) oder Sythen (Münsterland) produziert worden sein musste – und zwar im Frühjahr 1944.

Die Wasag hatte den Auftrag bekommen, einen wohl beim britischen Kommandounternehmen gegen St. Nazaire von der Wehrmacht in erheblicher Menge erbeuteten Plastiksprengstoff nachzubilden und am besten weiterzuentwickeln. Er sollte im Gebrauch sicher sein, also stabil genug, um nicht vorzeitig zu explodieren. Gleichzeitig sollte das Material sicher zünden. Die Formbarkeit war ebenfalls wichtig. Und natürlich eine möglichst hohe Sprengwirkung.

Die Chemiker kamen schließlich zu einer komplexen Mischung. Zwei Drittel waren Hexogen, chemisch Cyclotrimethylentrinitramin, ein schon Ende des 19. Jahrhunderts entwickelter Sprengstoff, der in reiner Form allerdings schon durch den kleinsten Impuls zur Explosion gebracht werden konnte, also zu unsicher war.

Deshalb stellten deutsche Sprengstofffabriken jahrelang eine Mischung aus 88 Prozent Hexogen und zwölf Prozent Vaseline her. Doch diese Kombination detonierte zwar, war aber nicht zufriedenstellend: Bei niedrigen Temperaturen war sie zu hart und rissig, bei hohen Temperaturen zu weich und konnte vorzeitig zünden.

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Angeregt durch den erbeuteten britischen Sprengstoff, forschten die Wasag-Chemiker weiter und fanden eine neue Mischung: knapp 64 Prozent Hexogen, 24 Prozent Dinitrotoluol, neun Prozent Mononitronaphtalin, drei Prozent Kollodiumwolle und eine Spur Dinitronapthalin.

Hitlers Kanzleichef Bormann (l.) und Göring (2. v. l.) bei der Besichtigung der zerstörten Baracke in der Wolfsschanze
Hitlers Kanzleichef Bormann (l.) und Göring (2. v. l.) bei der Besichtigung der zerstörten Baracke in der Wolfsschanze
Quelle: picture alliance / dpa

Durch viele Versuche stellten die Sprengstoffforscher fest, dass diese Kombination einerseits eine große Detonationswirkung hatte, andererseits flexibel und temperaturunabhängig war. Besonders wichtig: Die Mischung war sehr stabil gegen Stöße oder andere Einwirkungen, explodierte jedoch mit einem richtigen Zünder zuverlässig. Sie gaben dem Material den Namen Plastit W.

Es galt als geheim und wertvoll. Vorerst bekam nur die Abwehr, der militärische Geheimdienst des Oberkommandos der Wehrmacht, Zugang zu dem neu entwickelten Stoff. Das war auch der Wissensstand der „Sonderkommission 20. Juli“ sechs Tage nach dem gescheiterten Attentat.

In der Abwehr gab es, das war der Gestapo spätestens seit der Verhaftung des dort tätigen Juristen Hans von Dohnanyi im April 1943 bekannt, eine aktive Widerstandszelle. Auch der langjährige Abwehrchef Wilhelm Canaris stand im Verdacht, ein Hitler-Gegner zu sein. Er war am 23. Juli 1944 verhaftet worden. Stammte also Stauffenbergs Sprengstoff von der Abwehr?

Canaris und der Widerstand gegen Hitler

Wilhelm Canaris baute die Abwehr zu einem Zentrum des Widerstandes aus und gewährte Oppositionellen in seiner Organisation Unterstützung. Dafür wird er am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg hingerichtet.

Quelle: STUDIO_HH

Das war möglich, aber denkbar war ebenfalls ein anderer Weg – über eine persönliche Schiene. Denn Stauffenbergs direkter Vorgesetzter war Generaloberst Friedrich Fromm, als dessen Chef des Stabes er amtierte. Das Reinsdorfer Wasag-Werk wiederum leitete als Direktor Willi Fromm, ein Vetter des Generalobersten. Gut denkbar, dass so das Plastit W in Stauffenbergs Hände kam.

Friedrich Fromm war eingeweiht in die Attentatspläne, hatte sich aber nicht festgelegt und wechselte nach der Nachricht, dass Hitler überlebt hatte, die Seiten. Vermutlich um seine Mitwisserschaft zu verschleiern, ließ er in der Nacht zum 21. Juli 1944 Stauffenberg, seinen Adjutanten Haeften und zwei weitere hohe Offiziere aus dem Bendlerblock standrechtlich erschießen.

Einigermaßen geklärt ist hingegen, woher der englisch beschriftete Metallstift stammte, ein Standardsäurezünder aus britischer Produktion: Anfang Juli 1944 hatte ein Beamter des Reichskriminalpolizeiamtes mehrere solche Zünder beim Kriminaltechnischen Institut abgeholt – dort wurden erbeutete feindliche Spezialgerätschaften gelagert. Wahrscheinlich auf Weisung von Arthur Nebe, dem Chef des Reichskriminalpolizeiamtes, übrigens einem Mitverantwortlichen für den Holocaust und direkt am Mord an mindestens 45.000 Juden beteiligt. Nebe war am 24. Juli 1944 untergetaucht, wurde Mitte Januar 1945 festgenommen und Anfang März hingerichtet.

Claus Schenk Graf Stauffenberg einige Tage zuvor bei Hitler in der Wolfsschanze, das einzige Foto mit beiden
Claus Schenk Graf Stauffenberg einige Tage zuvor bei Hitler in der Wolfsschanze, das einzige Foto mit beiden
Quelle: Universal Images Group via Getty
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Der Zünder bestand aus einem Schlagbolzen mit Feder und einer kleinen Zündkapsel. Gespannt wurde die Feder durch einen Draht, neben dem eine Glasampulle mit Säure steckte. Wurde diese zerdrückt, zerfraß die Säure binnen 15 bis 30 Minuten den Draht, dann trieb die Feder den Schlagbolzen auf die Zündkapsel.

Wie lange genau es bis zur Zündung dauerte, konnte nicht vorhergesagt werden – es hing von der Umgebungstemperatur ab und von der schwankenden Stärke des Drahtes. Diese Ungewissheit machte der Zünder durch den Vorteil wett, absolut lautlos zu sein.

Ebenfalls Nebe hatte sich Anfang 1944 bei einem Chemiker des Kriminalwissenschaftlichen Instituts erkundig, wie viel Kilogramm Sprengstoff nötig seien, um Stalin zu töten. Der Chemiker antwortete, fünf Kilo wären ausreichend, mit weniger als zwei Kilogramm jedoch sei „überhaupt nichts zu machen“.

Das zweite Sprengstoffpaket, das Stauffenberg oder Haeften aus dem Wagen geworfen hatten
Das zweite Sprengstoffpaket, das Stauffenberg oder Haeften aus dem Wagen geworfen hatten
Quelle: NARA / Public Domain

Am 20. Juli 1944 hatte Stauffenberg zwei Blöcke Plastit W bei sich, zusammen rund zwei Kilogramm. Die Neuentwicklung galt als deutlich brisanter als normaler Plastiksprengstoff. Außerdem zwei Säurezünder und mehrere Standardzündkapsel. Aus unerfindlichen Gründen jedoch packte er nur einen der Klumpen in seine Aktentasche, als er in die Lagebaracke ging; den anderen behielt Haeften bei sich.

Peter Hoffmanns Recherchen legen nahe: Wenn das zweite Sprengstoffpaket sich ebenfalls in Stauffenbergs Aktentasche befunden hätte, wäre durch die Zündung des einen das andere wohl mit explodiert. Dann hätte in der Lagebaracke niemand überlebt. Dies unterlassen zu haben erwies sich als verhängnisvolle Fehlentscheidung.

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Vermutlich aber wäre wohl eine Ladung ausreichend gewesen, Hitler zu töten, wenn die Besprechung entweder in Hitlers Bunker stattgefunden hätte oder wenn Stauffenberg seine Tasche direkt zu Hitlers Füßen hätte platzieren können. Doch die Besprechung fand am 20. Juli 1944 in der vergleichsweise leicht gebauten Baracke statt – so dass viel Explosionsdruck entweichen konnte. Und Stauffenberg kam dort eben nicht nahe genug an Hitler heran.

Vielmehr musste er seine Ladung rechts neben dem Fuß des schweren Kartentisches abstellen – Hitler stand links davon und beugte sich darüber. So fingen die Stütze und die Tischplatte einen Großteil der Detonationsenergie ab. Ansonsten hätte vermutlich auch ein Kilogramm Plastit W in der Baracke gereicht, den Tyrannenmord gelingen zu lassen.

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