Mit der Verabschiedung der beiden Antidiskriminierungsrichtlinien auf der Grundlage von Artikel 13 EGV im Jahr 2000 begann mit dem Start in das neue Jahrtausend auf europäischer Ebene eine neue Ära des rechtlichen Schutzes des Einzelnen vor Diskriminierung. Richtlinie 2000/43/EGFootnote 1 (die Antirassismusrichtlinie) verbietet alle Formen der Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft und Richtlinie 2000/78/EGFootnote 2 (die Rahmenrichtlinie Beschäftigung) verbietet alle Formen der Diskriminierung aus Gründen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters und der sexuellen Ausrichtung.

Der Schutzbereich der beiden Richtlinien ist allerdings unterschiedlich: Richtlinie 2000/78/EG deckt lediglich die Bereiche Beschäftigung und Beruf ab (Artikel 3 RL 2000/78/EG), während der Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/43/EG viel weiter gefasst ist und neben Beschäftigung und Beruf auch den Sozialschutz einschließlich der sozialen Sicherheit und der Gesundheitsdienste, soziale Vergünstigungen, die Bildung sowie den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich von Wohnraum, umfasst (Artikel 3 RL 2000/43/EG).

Seit ihrer Verabschiedung wurden Versuche unternommen, den Anwendungsbereich dieser beiden Richtlinien anzugleichen. Am 2. Juli 2008 schlug die Europäische Kommission eine Richtlinie vor, die Diskriminierung aus Gründen des Alters, einer Behinderung, der Religion oder Weltanschauung und der sexuellen Ausrichtung in allen Zuständigkeitsbereichen der EU verbietet.Footnote 3 Allerdings konnte bislang keine Einigkeit über diesen Vorschlag erzielt werden und er wird weiterhin von mehreren EU-Ländern blockiert.

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) spielte bei der Entwicklung dieses Bereichs des EU-Rechts eine entscheidende Rolle. In seiner Rechtsprechung hat der EuGH die Richtlinien immer wieder interpretiert und damit für eine Klärung verschiedener offener Fragen gesorgt. Einige der wichtigsten Urteile, die der EuGH in den letzten 20 Jahren gefällt hat, befassten sich mit den folgenden Fragestellungen:

Unmittelbare Diskriminierung ohne identifizierbares Opfer

Am 10. Juli 2008 fällte der Europäische Gerichtshof das Urteil in der Rechtssache \(C-54\)/07 Centrum voor gelijkheid van kansen en voor racismebestrijding gegen Firma Feryn NY und beschäftigte sich darin mit der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der unmittelbaren Diskriminierung. Im zugrunde liegenden Fall behauptete die belgische nationale Gleichbehandlungsstelle, dass Feryn, ein belgisches Vertriebs- und Installationsunternehmen, nach öffentlichen Äußerungen seines Direktors bezüglich einer generellen Weigerung, Immigranten in seinem Unternehmen einzustellen, eine diskriminierende Einstellungspolitik verfolgt habe. Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, dass eine unmittelbare Diskriminierung auch dann vorliegen kann, wenn ein bestimmtes Opfer nicht identifiziert werden kann. Eine öffentliche Erklärung eines Arbeitgebers, er werde keine Mitarbeiter einer bestimmten nationalen Herkunft einstellen, ist danach geeignet, bestimmte Bewerber von der Einreichung ihrer Bewerbungen abzuhalten und ihren Zugang zum Arbeitsmarkt zu behindern. Eine solche Erklärung stelle eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne der Antirassismusrichtlinie dar. Der Gerichtshof kommt ferner zu dem Schluss, dass nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie eine öffentliche Äußerung dieser Art eine Beweislastumkehr auslösen könne und es somit dem Arbeitgeber obliege, die Vermutung zu widerlegen, dass er eine unmittelbar diskriminierende Einstellungspolitik betrieben hat.

Der Gerichtshof bestätigte seine Rechtsprechung aus Feryn später auch für Richtlinie 2000/78/EG, wie in den Urteilen zur Rechtssache \(C-81\)/12 ACCEPT vom 25. April 2013 und zur Rechtssache \(C-507\)/18 NH gegen Associazione Avvocaturaper i diritti LGBTI ersichtlich. Beide vorgenannten Fälle betreffen homophobe Äußerungen und eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung.

Diskriminierung durch Assoziierung

In der Rechtssache \(C-303\)/06 S. Coleman v Attridge Law and Steve Law vom 17. Juli 2008 beschäftigte sich der EuGH mit der Frage, ob eine unmittelbare Diskriminierung wegen einer Behinderung auch dann vorliegen kann, wenn die betreffende Person nicht selbst behindert ist, sondern deren Kind. Im vorliegenden Fall ging es konkret um eine Mutter, die behauptete, dass sie wegen der Behinderung ihres Kindes am Arbeitsplatz diskriminiert und belästigt worden sei. Der Gerichtshof entschied, dass das Verbot der unmittelbaren Diskriminierung und Belästigung nicht auf Personen beschränkt ist, die selbst behindert sind, sondern auch die ungünstigere Behandlung eines Arbeitnehmers aufgrund der Behinderung seines Kindes einschließt, dessen Betreuung in erster Linie von dem Arbeitnehmer wahrgenommen wird.

Mittelbare Diskriminierung durch Assoziierung

Das Konzept der Diskriminierung durch Assoziierung wurde in der Rechtssache \(C-83\)/14 CHEZ Razpredelenie Bulgaria AD vom 16. Juli 2015 weiter ausgeweitet. Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde: In bestimmten Gebieten in Bulgarien, in denen überwiegend Personen mit Roma-Herkunft leben, sind Stromzähler in 6 Meter Höhe über dem Boden angebracht, während solche Zähler in Gebieten, in denen nicht überwiegend Roma leben, lediglich in 1,7 Meter Höhe angebracht sind. Der Energieversorger CHEZ führte als Begründung dafür an, damit Manipulationen an Stromzählern und illegale Stromentnahme verhindern zu wollen. Eine Ladenbesitzerin, selbst ohne Roma-Herkunft, aus einem der vorwiegend von Roma bewohnten Gebiete argumentierte, dass sie durch die Höhe der Stromzähler besonders benachteiligt sei, da sie den Zähler nicht einsehen könne. Daher könne sie keine Ablesungen selbst vornehmen, was dazu führe, dass die ihr erteilten Abrechnungen höher seien, als sie sein sollten. In seinem Urteil bestätigte der EuGH das Konzept einer mittelbaren Diskriminierung durch Assoziierung und entschied, dass eine Einzelperson einen Anspruch auf mittelbare Diskriminierung geltend machen kann, obwohl sie selbst nicht das geschützte Merkmal (in diesem Fall Rasse) anderer, die eine Benachteiligung erleiden, teilt. Das Urteil ist außerdem wegweisend, weil der EuGH darin zum Begriff der ethnischen Herkunft feststellt, dass dieser „auf dem Gedanken beruht, dass gesellschaftliche Gruppen insbesondere durch eine Gemeinsamkeit der Staatsangehörigkeit, Religion, Sprache, kulturelle und traditionelle Herkunft und Lebensumgebung gekennzeichnet sind“.

Behinderungsbegriff

Richtlinie 2000/78/EG enthält keine Definition des Begriffs der Behinderung. In den letzten Jahren hat der EuGH diese Lücke gefüllt und den Begriff Behinderung in mehreren Entscheidungen diskutiert. Die Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNCRPD) durch die Europäische Union im Dezember 2010 führte zu einem klaren Wendepunkt in der Rechtsprechung: Der Gerichtshof wechselte vom so genannten medizinischen Modell zum sozialen Modell der Behinderung.

In seinem Urteil in der Rechtssache \(C-13\)/05 Chacón Navas vom 11. Juli 2006, also vor der Ratifizierung der UNCRPD, definierte der Gerichtshof den Begriff der Behinderung als „eine Einschränkung, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist und die ein Hindernis für die Teilhabe des Betreffenden am Berufsleben bildet“. Der EuGH vertrat hier die Auffassung, dass Krankheit nicht als Behinderung angesehen werden könne und dass eine Behinderung eine langfristige Beeinträchtigung erfordere. Es wurde bemängelt, dass der Gerichtshof in diesem Fall seine Aufmerksamkeit auf die Art und Schwere der Beeinträchtigung sowie die Dauer oder erwartete Dauer der Beeinträchtigung richtete.

Seit der Ratifizierung der UNCRPD vertrat der EuGH jedoch die Auffassung, dass Richtlinie 2000/78/EG in einer Weise ausgelegt werden müsse, die mit diesem Übereinkommen vereinbar sei. In der Rechtssache \(C-335\)/11 HK Danmark vom 11. April 2013 passte der Gerichtshof seine Rechtsprechung an, übernahm das im Übereinkommen herrschende soziale Modell und definierte Behinderung als „eine Einschränkung, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können“, wobei die Beeinträchtigungen langfristig sein müssen. Der EuGH stellte fest, dass auch eine heilbare oder unheilbare Krankheit, die zu der oben genannten Einschränkung führt und die langfristig ist, unter den Begriff der „Behinderung“ fällt. Dieselbe Definition findet auch in späteren Fällen Anwendung, darunter in der Rechtssache \(C-354\)/13 Kaltoft vom 18. Dezember 2014, welche sich mit der Frage beschäftigt, ob Fettleibigkeit unter den Begriff Behinderung subsumiert werden kann.

Kopftuchverbot am Arbeitsplatz

In den viel diskutierten Rechtssachen \(C-157\)/15 Achbita und \(C-188\)/15 Bougnaoui aus dem Jahr 2017 befasste sich der EuGH erstmals mit religiöser Diskriminierung am Arbeitsplatz. Während die meisten der bisher genannten Fälle den Umfang des Schutzes vor Diskriminierung erweiterten, schränkten diese den Umfang des gewährten Schutzes ein. In diesem Sinne entschied der EuGH in beiden Fällen bei leicht unterschiedlichen Sachverhalten, dass die Entlassung der Arbeitnehmerinnen wegen des Tragens eines Kopftuches eine rechtmäßige mittelbare Diskriminierung darstellen kann.

Im belgischen Fall \(C-157\)/15 Achbita vom 14. März 2017 gab es eine ungeschriebene Firmenvorschrift, die das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen verbot. Diese Vorschrift wurde am Tag nach der Entlassung der Arbeitnehmerin in die Firmensatzung aufgenommen. Der EuGH urteilte, dass „der Wille, im Verhältnis zu den öffentlichen und privaten Kunden eine Politik der politischen, philosophischen oder religiösen Neutralität zum Ausdruck zu bringen, als rechtmäßig anzusehen ist“, da dieser zur unternehmerischen Freiheit gehöre, wie sie in Artikel 16 der Charta der Grundrechte garantiert wird.

Am selben Tag erging auch das Urteil im französischen Fall \(C-188\)/15 Bougnaoui. Hier beruhte die Entlassung der Arbeitnehmerin auf der Beschwerde eines Kunden. Der EuGH urteilte, es sei Sache des nationalen Gerichts zu entscheiden, ob die Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist, stellte aber fest, dass jedenfalls der Wunsch eines Kunden nicht als eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung im Sinne der Richtlinie angesehen werden kann.

An den vorgestellten Urteilen des EuGH lässt sich seine wesentliche Bedeutung für die Fortentwicklung des EU-Antidiskriminierungsrechts ablesen. Speziell vor dem Hintergrund der beschriebenen Blockade auf legislativer Ebene erscheint die Rolle des Gerichtshofs somit umso gewichtiger.

Das EU-Antidiskriminierungsrecht ist seit vielen Jahren im Programm der ERA prominent vertreten. Seit 2003 führt die ERA im Auftrag der Europäischen Kommission eine Seminarreihe mit sechs Seminaren pro Jahr durch, an der rund 300 Angehörige der Justiz, Rechtspraktiker und Wissenschaftler aus allen EU-Mitgliedstaaten teilnehmen. Eine umfangreiche Online-Dokumentation der Reihe (Referentenbeiträge, E-Learning-Kurs, E-Präsentationen usw.) kann kostenlos auf einer speziellen ERA-Subsite abgerufen werden unter www.era.int/anti-discrimination.

ERA Forum 1/2020

Die vorliegende Ausgabe des ERA Forum beschäftigt sich in einer Reihe von Artikeln mit aktuellen Fragestellungen aus den Themengebieten Europäisches Arbeitsrecht, Europäisches Steuerrecht und Europäisches Privatrecht.

Fieke van Overbeeke widmet sich in ihrem Beitrag Posting drivers in the EU road transport sector der Frage, welche Mindestlöhne für grenzüberschreitend entsandte LKW-Fahrer im Straßenverkehr gelten sollen. Das zentrale EU-Instrument, welches sich mit dieser Thematik befasst, ist die Entsenderichtlinie. Es erscheint jedoch fraglich, ob der Anwendungsbereich der Richtlinie für diese Fälle überhaupt eröffnet ist, da die Richtlinie ursprünglich hauptsächlich für Entsendungen im Bausektor eingeführt wurde. Dies erschwert die Anwendung der Entsenderichtlinie auf den atypischen und hochmobilen Verkehrssektor und wirft unterschiedliche Fragen auf: 1. Ist die Entsenderichtlinie auf grenzüberschreitende Entsendungen im Straßenverkehrssektor anwendbar? 2. Falls ja, welche spezifischen Entsendungen fallen in den Anwendungsbereich der Richtlinie? Der EU-Gesetzgeber hat die erste Frage im Zuge einer Revision der Entsenderichtlinie in 2018 letztlich bejaht und geht nunmehr generell von der Anwendbarkeit der Richtlinie in diesen Fällen aus. Es besteht jedoch weiterhin die Frage, welche spezifischen Entsendesituationen in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. Die Beantwortung dieser Frage ist maßgeblich für die Bestimmung der Mindestlöhne für diese Art der Entsendung.

Frederic De Wispelaere und Marco Rocca befassen sich in ihrem Artikel The dark side of the tour. Labour and social security challenges of highly mobile workers in the live performance sector mit der Situation mobiler Musiker und Künstler. Die Autoren beschreiben die Herausforderungen, die sich im Zusammenhang mit den Systemen der sozialen Sicherheit und dem Beschäftigungsstatus solch hochmobiler Arbeitnehmer im Live-Performance-Sektor stellen. Diese ergeben sich insbesondere daraus, dass der Beschäftigungsort dieser Arbeitnehmer nicht einem einzelnen EU-Mitgliedstaat zuzuordnen ist, sondern dieser immer wieder innerhalb Europas variiert und somit nur sehr schwache Verbindungen zu einem bestimmten Mitgliedstaat gegeben sind. Der Artikel gibt einen Überblick über eine Reihe von Problemen, auf die mobile Künstler und ihre Arbeitgeber im Rahmen des EU-Rechtsrahmens für die Entsendung von Arbeitnehmern und die Koordinierung der sozialen Sicherheit stoßen, und untersucht mögliche Lösungsansätze.

Der Beitrag The European Labour Authority and Rights-based Labour Mobility von Jan Cremers analysiert bestehende Probleme der Arbeitskräftemobilität in der EU (beispielsweise die unzureichende Einhaltung lokaler Normen und andere Durchsetzungsprobleme) und stellt die neu eingerichtete Europäische Arbeitsbehörde (ELA) vor. Diese wurde mit Verordnung (EU) 2019/1149 als dezentrale operative EU-Agentur organisiert und soll Einzelpersonen und Unternehmen dabei helfen, die Möglichkeiten der Freizügigkeit optimal zu nutzen und eine faire Arbeitsmobilität zu gewährleisten. Der Kommission zufolge wird sie der doppelten Aufgabe dienen, die nationalen Behörden bei der Bekämpfung von Betrug und Missbrauch zu unterstützen und den Bürgern Mobilität zu erleichtern. Der Autor diskutiert Herausforderungen und Risiken, die sich im Zusammenhang mit der Errichtung der Europäischen Arbeitsbehörde ergeben können, und gibt einen Ausblick auf den möglichen Mehrwert und die künftige Funktionsweise der ELA.

Diesen ersten Teil der aktuellen Ausgabe von ERA Forum komplettieren zwei Beiträge zur aktuellen Rechtsprechung des EuGH zum Themenbereich EU-Arbeitsrecht.

Der Beitrag Aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs: Betriebsübergang, Gleichbehandlung, befristete Arbeitsverträge von Adam Sagan thematisiert wichtige Entscheidungen des EuGH auf dem Gebiet des Arbeitsrechts aus dem Jahr 2019. Dabei werden im Wesentlichen drei Themenblöcke behandelt, in welchen der EuGH im letzten Jahr relevante Entscheidungen fällte: ein Urteil zum Betriebsübergang, fünf Urteile zum Gleichbehandlungsrecht und zwei Urteile zur Befristung von Arbeitsverträgen. Die Entscheidungen des Gerichtshofs werden jeweils nach einer knappen Schilderung des Ausgangsfalles und gegebenenfalls unter Berücksichtigung einschlägiger Vorentscheidungen des EuGH dargestellt und analysiert.

Michel Miné erläutert in seinem Artikel Actualité de la jurisprudence européenne sur le temps de travail die aktuelle Rechtsprechung des EuGH zur Arbeitszeit. In seinen Entscheidungen zu dieser Thematik stellt der Europäische Gerichtshof sicher, dass die Höchstarbeitszeit, hier insbesondere die wöchentliche Höchstarbeitszeit, eingehalten wird, um die Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen. Der Gerichtshof erinnert die Mitgliedstaaten weiterhin in seinem Grundsatzurteil \(C-55\)/18 CCOO vom 14. Mai 2019 daran, dass sie von den Arbeitgebern verlangen müssen, geleistete Arbeitszeiten zu dokumentieren und nachzuweisen. Auch die Charta der Grundrechte der EU findet in der aktuellen Rechtsprechung zur Arbeitszeit Anwendung, um sicherzustellen, dass jeder Arbeitnehmer das Recht auf bezahlten Jahresurlaub hat.

Der zweite Teil der Ausgabe behandelt aktuelle Fragen aus dem Bereich des europäischen Mehrwertsteuerrechts.

Die Autoren Jan Sarnowski und Pawel Selera stellen in ihrem Beitrag Measures to reduce the VAT gap and lessons to be learned from Poland ein neues Konzept zur Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetruges vor, welches aktuell in Polen Anwendung findet. Nach Ansicht der Autoren bieten bilaterale Abkommen über verstärkte Zusammenarbeit zumindest kurz- und mittelfristig eine effektivere Lösung als eine EU-Gesetzgebung. Bilaterale Abkommen im Bereich der Mehrwertsteuer bestehen bereits zwischen einer Reihe von EU-Mitgliedstaaten und führen zu einem besseren und strukturierteren Austausch von Steuerdaten sowie von Informations-, Daten- und Steuertechnologien. Effektive Zusammenarbeit auf der Grundlage bilateraler Abkommen und zwischenstaatlicher Vereinbarungen könnten die zukünftige EU-Gesetzgebung positiv beeinflussen und als Blaupause für die Einführung neuer gemeinsamer Lösungen auf EU-Ebene dienen.

Charlene Herbain widmet sich in ihrem Beitrag VAT treatment of cross-border transactions: quick fixes and their impact on businesses den in 2020 eingeführten kurzfristigen Maßnahmen im Bereich der Mehrwertsteuer bei grenzüberschreitenden Transaktionen, die als „Quick Fixes“ bekannt sind. Diese Quick Fixes sollen das Mehrwertsteuersystem bis zur Einführung des endgültigen Systems im Jahr 2022 praktikabler machen und verbessern. Die Änderungen durch die Quick Fixes zielen darauf ab, eine Reihe von Regeln, wie vom Rat für 2016 festgelegt, in Bezug auf grenzüberschreitende Transaktionen zu harmonisieren und zu vereinfachen. Die Regeln betreffen Vereinfachungen bei Warenlieferungen über Konsignationslager, Vereinheitlichungen in Bezug auf innergemeinschaftliche Reihengeschäfte, die Gültigkeit der Umsatzsteuer-Identifikationsnummer und deren ordnungsgemäße Meldung als materiell-rechtliche Voraussetzung für die Steuerbefreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung sowie eine Vermutungsregel bei den Belegnachweisen zur steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung. Für jede dieser kurzfristigen Maßnahmen liefert die Autorin einen Vergleich zwischen der Situation vor und nach der Umsetzung und analysiert mögliche Vor- und Nachteile der Neuregelungen.

Auch der Artikel Le régime définitif de TVA de l’UE applicable aux échanges transfrontières von Stephen Dale, Jean-Claude Bouchard und Marc Wolf widmet sich dem Bereich des europäischen Mehrwertsteuerrechts. Die aktuellen Regelungen für grenzüberschreitende Transaktionen, die seit fast 30 Jahren in der EU in Kraft sind, sind komplex, anfällig für Betrug und bergen erhebliche Risiken für Unternehmen. Im Jahr 2020 ist es an der Zeit, sich auf ein „endgültiges“ Mehrwertsteuersystem zuzubewegen: ein einfaches, gegen die Angriffe von Betrügern resistentes System, das flexibel genug ist, um sich den technologischen und kommerziellen Entwicklungen anzupassen. Die Autoren betrachten in ihrem Artikel zunächst die historischen Entwicklungen hin zu dem aktuell gültigen EU-Mehrwertsteuersystem, ausgehend von der ersten Richtlinie im Jahre 1967 bis heute. Sie beschreiben daraufhin das derzeitige System und die aktuell im ECOFIN-Rat diskutierten Vorschläge zur Einführung eines „endgültigen“ Mehrwertsteuersystem und analysieren, ob sich die Vorschläge mit den Zielsetzungen vereinbaren lassen.

Zwei Artikel aus dem Europäischen Privatrecht komplettieren die Ausgabe.

Stefan Schlauß erläutert in seinem Beitrag The EU Regulation on Public Documents – a first step towards the abolition of the Apostille in the EU die EU-Verordnung zur Förderung der Freizügigkeit von Bürgern durch die Vereinfachung der Anforderungen an die Vorlage bestimmter öffentlicher Urkunden innerhalb der Europäischen Union. Diese bereits seit dem 16. Februar 2019 in den Mitgliedstaaten geltende Verordnung scheint in der Praxis noch relativ unbekannt zu sein. Sie sieht Regelungen vor, die den grenzüberschreitenden Verkehr von öffentlichen Dokumenten erleichtern sollen und damit auch die Freizügigkeit von Personen innerhalb der Grenzen der Europäischen Union. Somit ist eine Apostille für bestimmte Dokumente nicht mehr notwendig, beispielsweise solche, die den Bereich des Personenstandswesens betreffen. Diese müssen in anderen Mitgliedstaaten als echt anerkannt werden, ohne dass es einer Apostille bedürfte. Vereinfachungen betreffen auch den Wegfall von Übersetzungen durch die Einführung mehrsprachiger Formulare, welche den Behörden eines anderen EU-Mitgliedstaates direkt vorgelegt werden können.

Der Beitrag The Recast of the Brussels IIa Regulation: the Sweet and Sour Fruits of Unanimity von Boriana Musseva analysiert Verordnung (EU) 2019/1111, welche Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates ab dem 1. August 2022 auf acht Hauptebenen revidiert. Die Autorin diskutiert die Neuerungen auf den Ebenen: (1) internationale Zuständigkeit, (2) Anhörung des Kindes, (3) internationale Kindesentführung, (4) Abschaffung des Exequaturverfahrens, (5) Vollstreckung, (6) öffentliche Urkunden und Vereinbarungen, (7) Unterbringung von Kindern in einem anderen Mitgliedstaat und (8) Zusammenarbeit. Alle in den Geltungsbereich der Verordnung fallenden Entscheidungen sind vom Exequaturverfahren ausgenommen, aber im Stadium der Vollstreckung können Gründe für die Verweigerung der Anerkennung und Vollstreckung weiterhin vorgebracht werden. Das Wohl des Kindes bleibt die vorrangige Erwägung dieses EU-Instruments.