Die Sorgen vor dem Verfahren waren groß – das zeigten die Vorsichtsmaßnahmen der West-Berliner Justiz: Der große Schwurgerichtssaal im Kriminalgericht Berlin-Moabit mit der Nummer 700 erhielt kugelsichere Trennwände aus Panzerglas. Damit nicht genug: Auch die Fenster des Saals wurden zum Teil zugemauert. Die Parkplätze im Umfeld des Gerichtsgebäudes an der Turmstraße waren ohnehin gesperrt.
Denn am 9. Oktober 1972 begann vor dem Kammergericht der Prozess gegen Horst Mahler, den Vordenker und Mitbegründer der linksextremen Terrorgruppe Rote-Armee-Fraktion (RAF). Die Anklage legte dem vormaligen Anwalt zur Last, er habe die „Baader-Meinhof-Bande“ als kriminelle Vereinigung gegründet, sei ihr Rädelsführer und an ihrem ersten, gleich dreifachen Bankraub beteiligt gewesen.
Der damals 35-jährige Volljurist und Richter Hansgeorg Bräutigam amtierte im Oktober 1972 als Pressereferent des Justizsenators und leitete damit die Justizpressestelle. Er war also an dem vielleicht spektakulärsten Prozess des Jahres nahe dran. Fast ein halbes Jahrhundert später legt Bräutigam nun seine Erinnerungen an diesen und an zwei weitere spektakuläre Terroristenprozesse in Berlin als Buch vor. Das ist wichtig, weil damit zum ersten Mal ein Justiz-Insider über diese Verfahren berichtet.
Bisher wurden sie nahezu ausschließlich von den Anwälten der damaligen Angeklagten beschrieben, die oft, wenngleich nicht immer insgeheim Helfershelfer der Terroristen waren, von sonstigen Gesinnungsgenossen oder von mal mehr, mal minder seriösen Gerichtsreportern. Die Sichtweise der Justiz hingegen war bisher in der öffentlichen Wahrnehmung unterrepräsentiert – das übrigens auch, weil kaum jemand die oft bis an den Rand der Selbstverleugnung ausgewogenen Urteile liest.
Bräutigam hat immer zu den meinungsfreudigsten Juristen des Landes gehört – Anfang der 90er-Jahre wurde er mehrfach wegen angeblicher Befangenheit in Prozessen gegen ehemalige SED-Größen abgelöst. Mit eben dieser Meinungsfreude schildert er das Verhalten der beiden Verteidiger von Horst Mahler, des gleichermaßen betont linken wie betont bürgerlichen Otto Schily und des schon damals in Denken wie Auftreten linksradikalen Hans-Christian Ströbele.
„Schon die ersten Tage zeigten, dass die Verteidigung mit gezieltem Störfeuer und mit schweren Breitseiten auffuhr, um den Anklagevorwurf zu Fall zu bringen“, schreibt Bräutigam. Und so war es: Die beiden Verteidiger monierten gleich zu Beginn die Anwesenheit zweier Bundesanwälte als Anklagevertreter als angebliche Verletzung des „besonderen politischen und rechtlichen Status West-Berlins“.
Zumindest Schily, im Gegensatz zu Ströbele ein brillanter Jurist, wusste wohl, dass es sich um reine Spiegelfechterei handelte. Denn das Viermächteabkommen über Berlin vom September 1971 hatte geregelt, dass die Bindungen zwischen dem eingemauerten, aber freien Teil der Stadt und der Bundesrepublik Deutschland weiterentwickelt werden durften. Die zur Berliner Dienstelle des Generalbundesanwaltes abgeordneten Vertreter der Bundesanwaltschaft traten im Einklang mit den alliierten Schutzmächten als Anklagevertreter auf.
Es ging auch gar nicht um einen ernst gemeinten Antrag, sondern um Verzögerungstaktik. Das zeigte der nächste Antrag, diesmal nur von Ströbele vertreten (war es Schily einfach zu peinlich?). Der ehemalige Kanzleikollege des Angeklagten monierte allen Ernstes, das Gebot der Öffentlichkeit des Strafprozesses sei verletzt, weil Polizisten drei Zuhörern den Zutritt verweigert hätten.
Die Rüge hatte keinen Erfolg, denn es gab 40 Plätze für Pressevertreter und 50 weitere Zuhörerplätze im Saal 700; von mangelnder Öffentlichkeit konnte also wirklich keine Rede sein. Aber Ströbele hatte sein Ziel erreicht: Eine weitere halbe Stunde der Verhandlungszeit war vorbei und der Vorsitzende Richter genervt.
Der Angeklagte Horst Mahler war am ersten Verfahrenstag in einer blauen Jacke im „Mao-Stil“ erschienen. Er reckte die Faust, lächelte und unterhielt sich durch Zurufe mit seinen im Gerichtssaal sitzenden Gesinnungsgenossen. Das Gericht missachtete er demonstrativ.
Die Anklageschrift wurde verlesen (mit 321 Zeugen und 40 Sachverständigen für einen glasklaren Fall). Mahler antwortete mit einem 45 Minuten langen, leiernd verlesenen Statement.
Dann schlug wieder die Stunde der Anwälte und ihrer durchsichtigen Verzögerungstaktik: Sie verlangten die Aussetzung des Verfahrens, weil sie nicht vollständige Akteneinsicht bekommen hätten. Der Vorsitzende Richter war der Intelligenz und Rücksichtslosigkeit Schilys nicht gewachsen.
Denn an der zumindest weitgehenden Schuld Mahlers im Sinne der Anklage konnte kein Zweifel bestehen: Er hatte nachweislich die gewaltsame Befreiung von Andreas Baader am 14. Mai 1970 ermöglicht. Er war danach abgetaucht und zu einer Terrorausbildung nach Jordanien geflogen. Schließlich hatte die Polizei aufgrund eines Tipps Mahler am 8. Oktober 1970 in Charlottenburg festnehmen können – er hatte falsche Papiere und eine entsicherte Pistole bei sich.
Den Beamten hatte Mahler bei seiner Festnahme sehr gefasst gratuliert: „Kompliment, meine Herren!“ Mit ihm aufgegriffen wurden vier Gesinnungsgenossinnen, von denen zwei nachweislich direkt an der gewaltsamen Befreiung Baaders beteiligt gewesen waren.
Treffend beschreibt Bräutigam, wie mies die Verteidigung ablief: „Schily trug mit kalter, schneidender und manchmal mit ironischer Schärfe ein buntes Gemisch von begründeten und unbegründeten Anträgen vor, wobei er ständig zu den Journalisten und Zuschauern blickte, wie um von der Öffentlichkeit Beifall zu erheischen.“
Im Gegensatz zu einem verbreiteten Irrtum ist ein Verteidiger nicht berechtigt, im Sinne seines Mandanten zu jedem Mittel zu greifen. Auch im Strafprozess bleibt ein Anwalt ein Organ der Rechtspflege, also dem Rechtsstaat verpflichtet. Schily und Ströbele hätten ihren Mandaten daher bremsen müssen, als er zum Beispiel am 14. Verhandlungstag im Saal 700 zu gezielten „Aktionen“ gegen die vier Beisitzenden Richter aufrief.
Am 21. Tag hatten die beiden Verteidiger den Vorsitzenden Richter so mürbe gemacht, dass ihm ein Flüchtigkeitsfehler unterlief und er abgelöst werden musste. Sofort beantragten die beiden „Linksanwälte“ die Aufhebung des Haftbefehls für den Terrorchef Mahler – natürlich und richtigerweise ohne Erfolg.
Am 44. Verhandlungstag hatte der Angeklagte das letzte Wort vor der Urteilsverkündung; er äußerte sich eindeutig: „Mit Richtern redet man nicht, auf Richter schießt man!“ Trotzdem fiel das Urteil ziemlich milde aus: Horst Mahler erhielt nur zwölf Jahre Haft. 1980 wurde er auf Bewährung entlassen, zwei weitere Jahre Freiheitsentzug erließ ihm die Justiz. Seit Ende der 1990er-Jahre ist Horst Mahler bekennender Neonazi und sitzt nach zahlreichen Verurteilungen wieder in Haft.
Hansgeorg Bräutigam: „Terroristen vor dem Kammergericht. Drei Berliner Strafprozesse nach 1968“. (BerlinStory Verlag, 142 S., 16,95 Euro)
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