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USA / KENNEDY Sieg durch Punktfeuer

aus DER SPIEGEL 47/1960

Noch niemals in der Geschichte der letzten hundert Jahre ist ein Mann mit (prozentual) so geringem Stimmenvorsprung zum Präsidenten Amerikas gewählt worden wie John Fitzgerald Kennedy.

Und dennoch: Nicht sein knapper Stimmenvorsprung, sondern die Tatsache, daß er überhaupt so viele Stimmen auf sich vereinigen konnte, ist das verblüffendste Ergebnis der Wahl.

Als John F. Kennedy im Juli dieses Jahres auf dem demokratischen Parteikonvent in Los Angeles zum Präsidentschaftskandidaten gekürt wurde, standen die Wetten 12:1 gegen ihn. Er schien zu jung, zu unbekannt, zu reich, um echte Chancen, zu haben.

Er war katholisch und lehnte es ab, Babys zu küssen. Alles, was er Amerika zu bieten hatte, war eine Friedens-Version von Churchills »Blut, Schweiß und Tränen": mehr Steuern, härtere Arbeit und eine nationale Entfettungskur. Nur so könne Amerika, auf den zweiten Platz zurückgefallen, wieder die erste Macht der Welt werden.

Kennedy: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es irgendeine Bürde gibt, die nicht jeder Amerikaner zu tragen bereit wäre, um unser Land zu beschützen und die Freiheit zu verbreiten. Und ich glaube, die Zeit ist da, diese Last auf unsere Schultern zu nehmen.«

Wenn dennoch mehr als die Hälfte aller US-Wähler in Kennedys Arme drängte, dann ist zweifellos die von ihm ausgehende Faszination eines großen Seelenfängers, der seltsamerweise die kritischen Geister des Landes zuerst erlagen, eine der wesentlichsten Ursachen.

Amerikas mißmutige Kassandra, Joseph Alsop, verglich den Kandidaten mit dem großen toten Roosevelt, und der lobkarge Tugendwächter der USA, Walter Lippmann, nannte ihn einen »geborenen Führer"*.

Erst mit Anlaufen der großen Fernseh-Debatten, die dem unbekannteren Kennedy viel mehr halfen als dem ungleich bekannteren Nixon, übertrug sich die Ausstrahlung des jungen Senators auch auf breiteVolksschichten. Er konnte den Eindruck verwischen, zu jung und zu unerfahren zu sein.

Während es dem US-Hindenburg Eisenhower in achtjähriger Amtszeit

trotz seiner Popularität nicht gelang, republikanische Mehrheiten in beiden Häusern des Kongresses herzustellen, gelang Kennedy der Sieg, obgleich seine Partei in den gleichzeitig durchgeführten Kongreßwahlen mehrere Sitze einbüßte.

Gekrönt aber wurde dieser persönliche Erfolg John Kennedys durch eine einmalige Wahlkampf-Strategie, deren Generalstabschef sein jüngerer Bruder Bobby war, unterstutzt vom jüngsten Bruder Teddy.

Diese Strategie hätte Kennedy zum Sieg verholfen - wie den jetzt vorliegenden Einzelergebnissen zu entnehmen ist -, selbst wenn er rund vier Millionen Wähler weniger als Nixon auf sich vereinigt hätte.

Das Rezept basiert auf der komplizierten Form des amerikanischen Wahlsystems: Der Präsident wird indirekt gewählt, nicht vom Volk, sondern von Wahlmännern. Jeder Staat hat entsprechend seiner Einwohnerzahl eine bestimmte Anzahl von Wahlmännern. Und- diese Wahlmänner sind gehalten, geschlossen für jenen Kandidaten zu stimmen, für den sich die Mehrheit ihres Staates entschieden hat - und sei diese Majorität auch noch so gering.

Das bedeutet, daß eventuell ein Kandidat in einem Staat mit weniger Stimmen mehr Wahlmänner gewinnen kann als sein Gegner in einem anderen Staat mit mehr Stimmen. Dieses Prinzip hat Kennedy in bisher ungekanntem Umfang ausgenutzt.

Mit nur 50,24 Prozent der abgegebenen Stimmen gewann er 346 Wahlmänner, während Nixon mit 49,76 Prozent der abgegebenen Stimmen nur 191 Wahlmänner zusammenbrachte.

Mit einem Wort: Kennedys Kampagne war darauf abgestellt, nicht in möglichst vielen Staaten möglichst große Majoritäten zu gewinnen, sondern in bestimmten Schlüsselstaaten eine knappe Mehrheit zu garantieren.

Oft gewann er dieses Hasardspiel nur um Daumesbreite, zuweilen verlor er es um Haaresbreite - aber stets nur in unwichtigen Staaten. So verlor er die drei Wahlmänner von Hawaii, weil ihm 117 Stimmen fehlten.

Auch in anderen Staaten, etwa in Montana und Washington, waren die Mehrheiten so knapp, daß zunächst falsche Ergebnisse bekanntgegeben wurden und erst eine Nachzählung Klarheit erbrachte.

Von den sieben volkreichsten Staaten mit den meisten Wahlmännern (205 von insgesamt 537 Elektoren) konnte Nixon nur Ohio gewinnen. Kennedy kam nur in New York glatt über die Runde (3,79 Millionen Stimmen gegen 3,38). Alle anderen fielen mit winzigen Mehrheiten an Kennedy, darunter sogar Nixons Heimatstaat Kalifornien (Kennedy 3,12 Millionen Stimmen; Nixon 3,09 Millionen Stimmen).

Ähnlich sah es in den restlichen vier Schlüsselstaaten aus:

Die Heerscharen, auf die Amerikas neuer Präsident sich in diesem kalkulierten Feldzug stützte, waren die gleichen, die einst Franklin D. Roosevelt ins Weiße Haus trugen - die Masse der armen Industriearbeiter im Norden des Landes, der traditionell demokratische Süden der USA und die religiösen und rassischen Minderheiten Amerikas: Neger, Juden und Katholiken.

Der neue Führer der westlichen Welt ist so von jenen Amerikanern gewählt worden, an die sich die Inschrift am Fuß der Freiheitsstatue wendet: »Schickt eurer Armen, eurer Müden Chor zu mir, die Masse, die nach Freiheit lechzt ...«

* Dazu vergleichsweise Lippmann über Roosevelt 1932: »Ein netter Mann, der gern Präsident wäre, ohne irgendeine besondere Qualifikation für das Amt zu besitzen.«

Wahlstrategen Bobby, Teddy, Jack Kennedy: Entfettungskur für die Nation

Verlierer Nixon

Von Negern und Katholiken geschlagen

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