Frontbericht:Jeder Mensch schläft anders

In seiner Graphic Novel "Zusammenbruch" erzählt Pascal Rabaté vom Einmarsch der Deutschen 1940 in die Französische Republik.

Von Martina Knoben

Videgrain, Soldat des 11. Regiments, wird abkommandiert, ein Loch zu bewachen. Das Loch in der Straße hat eine deutsche Granate hinterlassen, außerdem wurden bei dem Angriff fünf Soldaten verletzt und sieben getötet. Videgrains grotesker Einsatz als "Warnschild" vor dem Loch ist der Beginn einer ziel- und sinnlosen Irrfahrt, die ihn - zuerst auf der Suche nach seiner Einheit, dann in einer schier endlosen Raupe marschierender Kriegsgefangener - durch das zusammenbrechende Frankreich des Jahres 1940 führt. So lebensgefährlich diese Odyssee ist, so unheroisch ist sie auch. Alles ist in Auflösung, die Armee, das Land, am Ende auch die Menschlichkeit.

Verglichen mit seinem kürzlich auf Deutsch bei Schreiber & Leser erschienenen Mammutmeisterwerk "Der Schwindler" liegt Pascal Rabatés "Zusammenbruch" leicht in der Hand. Und leicht liest es sich auch, als eine Landpartie, die den Allerweltssoldaten Videgrain auf Alleen und Feldwegen durch die französische Provinz führt. Sie erscheint in einem bukolischen Licht. Obwohl die Zeichnungen schwarz-weiß sind, Feder mit Tusche, scheinen sie im Licht des Frühsommers zu leuchten. Die Wiesen sind üppig, und die Sonne spielt mit den Blättern der Bäume, sie werfen tanzende Schatten.

Frontbericht: Der Nebel des Krieges raubt allen Beteiligten die Orientierung, geografisch wie moralisch.

Der Nebel des Krieges raubt allen Beteiligten die Orientierung, geografisch wie moralisch.

(Foto: Reprodukt)

Ab und an allerdings tauchen Stukas am Himmel auf, es gibt Tote. Und die Idylle ist fast menschenleer, am Anfang sieht man einen Zug mit Flüchtlingen. Zufälle spülen Videgrain mal hierhin, mal dorthin; andere Soldaten sind für eine kurze Zeit Weggefährten. An einer Rekonstruktion der Kriegsereignisse, Zahlen und Ortsangaben ist Rabaté nicht interessiert. Videgrain weiß meistens auch nicht, wo er gerade ist.

In einem Wimmelbild aus Körpern bleibt der einzelne doch immer unterscheidbar

In einem Dorf auf einem Marktplatz entdeckt er viele Kühe. Ihre Euter sind prallvoll, niemand hat sie gemolken. Was der Soldat an Videgrains Seite ganz selbstverständlich in die Hand nimmt, schließlich kommt der junge Mann mit dem Stan-Laurel-Gesicht selbst von einem Bauernhof. Der burleske Ton, den Rabaté immer wieder anschlägt, verklingt allerdings schnell. Ebenfalls sich selbst überlassen wurden Schweine, die sich über den Körper eines Toten hergemacht haben, nur wenige Panels später. Der Rest eines Unterarms mit einer Hand ist zu sehen.

Manche der Menschen, denen Videgrain begegnet, verzweifeln, andere werden zynisch oder stumpf. Es ist nicht das Gesicht des Krieges, das Rabaté studiert, vielmehr die vielen Gesichter darin. Mit wenigen Strichen auf wenigen Panels kann er ganze Biografien anklingen lassen. Einmal baden Videgrain und sein Begleiter in einem Fluss, der Krieg scheint unendlich weit weg zu sein, als plötzlich nur einen Steinwurf weit entfernt zwei andere Badende sichtbar werden. Sie winken freundlich. Es sind deutsche Soldaten, die ihr Gegenüber ohne Uniform nicht als Franzosen erkennen. Nackt ist der Feind eben auch nur ein Mensch.

Frontbericht: Mitten im Chaos sucht der Soldat Videgrain noch scheinbar zielstrebig nach seiner Einheit.

Mitten im Chaos sucht der Soldat Videgrain noch scheinbar zielstrebig nach seiner Einheit.

(Foto: Reprodukt)

Das Buch hat zwei Kapitel, in Frankreich sind sie als eigenständige Bücher erschienen. Das erste endet kurz nach dieser Szene, mit der Entdeckung einer überwältigenden deutschen Übermacht hinter dem nächsten Hügel. Wenn sich Videgrain nun in den Tross der französischen Kriegsgefangenen einreiht, weicht das Herumgeworfenwerden in einem leer gefegten Land der fremdbestimmten Enge der Gefangenschaft. Die Bilder sind nun voller Menschen. Gleich die erste Seite des zweiten Buches ist eines Sammlung von Porträts: Sechs Panels zeigen sechs Soldaten, die Rabaté knapp und treffend charakterisiert. In einem anderen Bild sind aus der Vogelperspektive auf dem Boden liegende schlafende Soldaten zu sehen, als Silhouetten. Es ist ein Wimmelbild aus Körpern, und doch bleibt jeder einzelne der so gezeichneten Soldaten unterscheidbar, das ist Rabaté wichtig. Der eine liegt entspannt auf dem Rücken, ein anderer hat sich wie ein Embryo zusammengerollt, ein Dritter ruht platt auf dem Bauch.

In dem Gewimmel bleibt Videgrain der Fixpunkt der Erzählung. Wenn es Streit zwischen den Männern gibt, bewahrt er kühlen Kopf. Und setzt sich auch für einen farbigen Mitgefangenen ein, den die Deutschen (und daraufhin auch die Franzosen) besonders schlecht behandeln. Ist Videgrain, dieser Spielball des Krieges, also doch ein Held? Kann er sich der Entmenschlichung, die er bei seiner Irrfahrt erlebt, widersetzen?

Im Rückblick ist der Abschied von seiner Frau zu sehen. Die beiden lieben sich, "als wäre es das letzte Mal". Sie sind bereit, ein Opfer zu bringen, um die Nazis aufzuhalten. Was mit diesem unauffälligen Idealisten schließlich passiert, ist allerdings verheerend. Wilde Federstriche, die zu dunklen Dickichten werden, illustrieren Videgrains Orientierungsprobleme. Es sind am Ende nicht nur geografische, es ist der innere Kompass, der verloren geht.

Pascal Rabaté: Zusammenbruch. Graphic Novel. Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Reprodukt-Verlag, Berlin 2019. 216 Seiten, 20 Euro.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: