Urteil im Fall Darry – Seite 1

Achteinhalb Monate nach der Familientragödie von Darry in Schleswig-Holstein hat das Kieler Landgericht sein Urteil über eine Mutter verkündet, die im Wahn ihre fünf kleinen Kinder tötete. Sie muss dauerhaft in die Psychiatrie. Das Kieler Landgericht verurteilte die 32-Jährige wegen fünffacher Tötung. Aufgrund einer paranoiden Schizophrenie sei sie schuldunfähig und gefährlich, erklärten die Richter. Sie werde in einer Fachklinik untergebracht.

Entsprechende Anträge haben Anklage, Nebenklage und Verteidigung an das Gericht gestellt. Die Tragödie in dem schleswig-holsteinischen Dorf hatte bundesweit Entsetzen und Fassungslosigkeit ausgelöst.

Die Mutter hatte Anfang Dezember 2007 Fachärzten gestanden, ihre kleinen Kinder - das jüngste drei, das älteste neun Jahre alt - erst betäubt und dann mit Plastiktüten erstickt zu haben. Dabei wurde offenbar, dass sie die Tat beging, um ihre Kinder vor "bösen Mächten" zu schützen. "Der Tod der Kinder war aus ihrer Sicht die einzig mögliche Konsequenz, ihre Kinder zu retten. Das Tragische ist, dass die Tat aus Liebe geschah", schilderte der psychiatrische Sachverständige Wulf-Rüdiger Jonas. Er zeichnete vor Gericht das Psychogramm einer paranoid schizophrenen Frau, deren "Wahnsystem wie ein Monolith keiner kritischen Betrachtung mehr zugänglich ist". "Ihrem fest gefügten Wahnsystem fehlte jede Einsicht", sagt auch Ankläger Michael Bimler. Die Mutter glaubte fest, ihre Kinder seien nur im Jenseits sicher.

Im Prozess ging es um "unsägliches Leid", führte Bimler aus. Erschütternde Szenen kommen ans Licht: Drei der kleinen Brüder wachen trotz der Schlaf- und Beruhigungsmittel auf. Sie wehren sich gegen ihren Tod, eindeutige Kratzspuren ihrer kleinen Fingernägel finden sich später im Gesicht ihrer Mutter. Doch sie erstickt die Kleinen in Panik mit Plastiktüten. Bei diesen Schilderungen bricht der amerikanische Vater der drei jüngsten Brüder schluchzend zusammen. Auch die Angeklagte, die sonst kaum Regung zeigt, zittert und trocknet sich die Tränen.

Schon als Kind schuf sich die 32-Jährige in Tagträumen eine zweite Welt, berichtet der Sachverständige. Von 2006 an verstrickt sich die gelernte Kinderhelferin "in einem Wahnsystem", durch das sich der Sachverständige "wie durch Schlingpflanzen wühlte". Er nennt es "Krankheitsentwicklung", sie "Entwicklung der Kontakte zum Jenseits". Sie hört Stimmen, fühlt sich fremdgesteuert und zunehmend "bösen Mächten" ausgeliefert, die nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder bedrohen.

Alle in dem Verfahren bescheinigen der Angeklagten, dass sie sich ihren Kindern liebe- und aufopferungsvoll widmete. Wie stark die Belastung beider Eltern durch den sechsjährigen Liam war, wird bedrückend deutlich: Liam ist schwerbehindert, autistisch, lärmt jede Nacht, lässt Familie und Nachbarn nicht zur Ruhe kommen. Seinetwegen zieht man in das kleine Einfamilienhäuschen in Darry. Für ihn sammelte die Mutter übers Internet Spenden für eine Delfin-Therapie.

Urteil im Fall Darry – Seite 2

Im Sommer 2006 verfällt sie ihren Wahnvorstellungen so sehr, dass sie Haushalt und Kinder allein ihrem Mann überlässt. Er drängt sie, zum Psychiater zu gehen. Die Familienhilfe wird eingeschaltet, der Sozialpsychiatrische Dienst, doch die Hilfen greifen nicht. "Ich sah das Krankhafte", sagt der Facharzt vor Gericht. Er habe aber keine Möglichkeit gehabt, sie gegen ihren Willen im Krankenhaus zu behalten. Sie will damals und auch ein Jahr später nur ambulante Therapie und Medikamente.

Jonas und der Staatsanwalt sprechen von einer "doppelten Buchführung", mit der sie ihre Umwelt über ihren Zustand täuschte und das Verhängnis seinen Lauf nehmen konnte. "Sie offenbart sich nicht vollständig, ließ Einblicke in ihr Innenleben nicht zu." Etwa zehn Tage vor der Tat sucht die 32-Jährige noch einmal überraschend eine Klinikambulanz auf, berichtet von Alpträumen und Schlafproblemen. Sie leugnet eine Suizidgefährdung, wieder können die Ärzte sie nicht stationär aufnehmen. Zu dieser Zeit aber traf sie bereits Vorkehrungen für die Tat, von der sie niemand mehr abhalten konnte - ihren Mann hatte sie nach Berlin zu Freunden geschickt.

Karen Katzke, dpa