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Sir Christopher Clark "Es hätte nicht unbedingt zu einem Weltkrieg kommen müssen"

Erster Weltkrieg
 
An der Hauptkampflinie bei Antwerpen, belgische Soldaten warten auf den Schießbefehl, Belgien, 1914. On the battle line near Antwerp, Belgian soldiers ready to fire, Belgium 1914.
© mauritius images / United Archives
Europas politische Klasse war mit der Julikrise von 1914 überfordert: Diesen Schluss zieht der australische Historiker Sir Christopher Clark, Professor an der Universität Cambridge. Schuld am Ersten Weltkrieg trage nicht allein Deutschland, sondern eine europäische Kultur, die geprägt war von Männlichkeitswahn, Provokation und Imponiergehabe. Ein Interview mit dem Autor von "Die Schlafwandler"

Inhaltsverzeichnis

Über Sir Christopher Clark

Sir Christopher Clark, Jg. 1960, lehrt Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine’s College der Universität Cambridge. Sein 2013 in Deutschland veröffentlichtes Buch „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ führte wochenlang die Bestsellerlisten an. Darüber hinaus hat er eine viel beachtete Biografie über Wilhelm II. geschrieben. Für seine „Verdienste um die britisch-deutschen Beziehungen“ schlug ihn Queen Elisabeth II. 2015 zum Ritter.

Wer hatte Schuld am Ersten Weltkrieg?

GEO EPOCHE: Professor Clark, wer hatte Schuld am Ersten Weltkrieg?

Prof. Christopher Clark: Ich halte das Wort „Schuld“ für den falschen Begriff. Denn das Verhalten, dass zum Krieg führte, war 1914 allgegenwärtig. Es war Teil der europäischen Kultur. Deshalb geht es eher um Fehler oder Verantwor­tung als um Schuld.

Also, wer trug die Verantwortung?

Sicher nicht ein Land alleine. Es haben viele Entscheidungsträger auf allen Seiten Fehler gemacht. Letztendlich ha­ ben die europäischen Eliten versagt.

Inwiefern?

Zunächst einmal gab es eine poli­tische Kultur der Provokation, die sich etwa in der Marokkokrise von 1905/06 zeigte. Da provozierten die Franzosen Wilhelm II. – und der reagierte ebenso undiplomatisch. Dieses Gehabe nährte sich auch aus gewissen übertriebenen Männlichkeitsvorstellungen: aus Ideen von Ehre, Macht und Stärke. Vieles da­ von spiegelt sich in Wilhelms Rethorik, denken Sie an seine Rede im Jahr 1900 während des Boxeraufstands in China: „Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht!“

War das wirklich bloße Kraftmeierei, oder wollte der deutsche Kaiser nicht doch unbedingt einen Krieg?

Alle Seiten haben für einen Konflikt gerüstet. Aber keine der Großmächte hat vor der Julikrise einen Krieg geplant ge­gen eine andere Großmacht. Unter be­stimmten Umständen waren alle Regie­rungen zum Waffengang bereit ...

... solange sie sich einreden konnten, er werde ihnen vom Gegner aufgezwungen und nicht von ihnen selbst ausgelöst.

Richtig. Niemand wollte als Aggres­sor einen Krieg beginnen. Das Problem war nur, dass die Verantwortlichen auf beiden Seiten im Juli 1914 glaubten, dass der Feind einen Krieg anstrebe – und dass sie bereit waren, ihn zu akzeptieren. Die Tragik dieses Jahres ist, dass niemand gesagt hat: Wir wollen den Krieg nicht, selbst wenn der Gegner ihn will.

Also hielt Europas Elite Krieg für die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln?

Ja. Vor allem aber konnten die Mächtigen sich nicht vorstellen, wie schrecklich ein Krieg zwischen indus­trialisierten Nationen sein würde.

Dabei hatte der Russisch-Japanische Krieg 1904/05 doch gezeigt, was geschieht, wenn Soldaten gegen Maschinengewehre stürmen.

Die Europäer haben daraus die fal­schen Schlüsse gezogen: Die Japaner hätten in den ersten Schlachten des Kon­flikts eben nicht stark genug angegriffen, seien nicht entschlossen genug losge­stürmt. Europas Mächtige waren unfähig, aus dem Schrecken schon erlebter Kriege zu lernen. Im Gegenteil: Deutsche und französische Beobachter notierten mit Genugtuung, welche schrecklichen Ver­letzungen die neuen Waffen in den Lei­bern der Verwundeten hinterließen. Die Enge des Denkens war bemerkenswert: Man testete die eigenen Geschütze mit großer Begeisterung, vermochte aber nicht zu erkennen, dass diese Mordwerk­ zeuge auch die eigenen Leute treffen.

GEO Epoche, Weltkrieg
© GEO EPOCHE

War ein Krieg unausweichlich?

War ein Krieg also unausweichlich? Was wäre geschehen, wenn der Attentäter Gavrilo Princip am 28. Juni 1914 in Sarajevo sein Ziel verfehlt hätte?

Wenn Princip nicht getroffen hätte, dann hätten Serbien, Österreich­-Ungarn und Europa im Jahr 1914 ganz sicher kei­nen Waffengang erlebt. Der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand wäre wohlbehalten nach Wien zurückgekehrt und hätte alle Forderungen nach einem Feldzug gegen Serbien abgeschmettert – denn er hatte stets gegen einen Krieg argumentiert. Franz Ferdinand besaß ein feines Gespür für die Zerbrechlichkeit Österreich-­Ungarns und ahnte, dass sich dieser Vielvölkerstaat ein militärisches Abenteuer nicht leisten konnte. Zudem wollte er nach seinem Besuch in Bosnien den Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf entlassen ...

... einen vehementen Kriegsbefürworter.

Ein Mann von fast psychotischer rhetorischer Gewalt, der immer nach ei­nem Feldzug gerufen hatte. Das war sei­ne Patentlösung für alle Probleme, etwa das erwachende Nationalbewusstsein der Balkanvölker. Die Tatsache, dass Franz Ferdinand ihn in den Ruhestand verset­ zen lassen wollte, spricht ebenfalls dafür, dass es ohne den Mord an ihm nicht zum Krieg gekommen wäre.

Europa steuerte also vor dem Attentat nicht unaufhaltsam auf einen Krieg zu?

Nein, überhaupt nicht. Die Zukunft war offen. Der Anschlag kam zum schlimmsten denkbaren Augenblick. Ein Beispiel: Im Juli 1914 waren die Bezie­hungen zwischen Russland und Serbien gerade besonders eng. Vorher hatte die Regierung in Sankt Petersburg auf dem Balkan die Bulgaren unterstützt – keine Gegner der Österreicher. Und es ist durchaus wahrscheinlich, dass es früher oder später zu einer Entfremdung zwi­schen Serben und Russen gekommen wäre. Dann hätte Belgrad nicht mehr die Rückendeckung einer Großmacht gehabt.

Die deutsche Schuldfrage

Ihre Thesen widersprechen dem lange akzeptierten Diktum von der Schuld Deutschlands und seiner Verbündeten. Hat das Reich nicht spätestens mit dem Amtsantritt von Wilhelm II. eine aggressive, nationalistische und militaristische Politik betrieben, die Europa letztlich in den Weltkrieg stürzen musste?

Ich habe das als Schüler auch zu hören bekommen. Unser Lehrer hat im­mer gesagt: Jungs, vergesst bloß nicht die deutschen Provokationen, den Ausbau der Marine etwa. Nun gut, aber war es ein aggressiver Akt der Deutschen, eine Flotte zu bauen? Ist es eine Anmaßung, wenn die Chinesen heute Flugzeugträger in Dienst stellen? Washington empfindet das als Provokation. Aber die Chinesen verletzen nicht die Regeln des internationalen Systems – genauso wenig wie die Deutschen damals.

Die deutsche Flotte richtete sich doch ganz klar gegen England.

Die genauen Ziele dieser Flot­ tenpolitik waren damals unklar – weil sie so schlecht durchdacht war. Das muss man der deutschen Füh­rung vorwerfen: ihre dilettantische Diplomatie und Strategie. So war das Flottenprogramm weder mit dem Außenministerium noch mit dem Heer abgestimmt.

Waren die Deutschen aggressiver als andere?

Nein, überhaupt nicht. Entschei­dend war vielmehr das titanische Wachs­tum der deutschen Wirtschaft in den Jahrzehnten vor dem Krieg. Ein Wachs­tum dieser Art schürt immer Angst – denken Sie daran, welche Unruhe der chinesische Aufschwung der letzten Jahre ausgelöst hat. Um 1913 war Deutschland nach den USA die zweitgrößte Industrie­nation der Welt, hatte Großbritannien überholt. Auf allen Märkten verdrängten deutsche Hersteller die Konkurrenz: Ihre Produkte waren besser. Das schürte Zwietracht. Vor allem, weil das deutsche Wirtschaftswunder mit dem rüden Ton des Kaisers verbunden war.

Lässt sich die deutsche Isolation wirklich nur mit ungeschickter Rhetorik und einem Wirtschaftswunder erklären? Was war mit Deutschlands Ambitionen in Übersee?

Die Ergebnisse der deutschen Ko­lonialpolitik waren doch kaum der Rede wert. Einige Territorien in Afrika, einige Inseln im Pazifik, mehr nicht. Macht­ politisch waren die Deutschen den Briten nicht gefährlich, sie störten nur. In englischen Kommentaren taucht damals oft der Ausdruck importuning auf, um die Deutschen zu beschreiben, also „lästig“.

Europas politische Klasse war mit der Julikrise von 1914 überfordert

In der Julikrise nach dem Attentat herrschten in Berlin Chaos und Ideenlosigkeit – und der Kaiser fuhr in den Urlaub. Historiker wie der Hamburger Fritz Fischer, der Deutschland in den 1960er Jahren die Alleinschuld am Weltkrieg gab, haben argumentiert, dass sich hinter dem vermeintlichen Chaos ein Plan verbarg. Dass die deutsche Führung die Weltläufe in Wirklichkeit in aller Stille nach ihrem Willen lenkte.

So brillant Historiker wie Fischer auch gearbeitet haben – ich sehe darin eine fast groteske Überschätzung der Deutschen. In allen europäischen Hauptstädten sickerten die Entscheidungen der Mächtigen ja irgendwann nach außen durch, nur in Berlin konnte man unbe­merkt alles steuern? Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Für mich klingt das zu sehr nach Verschwörungstheorie.

Waren die alten Eliten schlicht überfordert?

Die politischen Strukturen waren einer solchen Krise nicht gewachsen. Nicht nur in Berlin – auch in Sankt Pe­tersburg war die Situation extrem chao­tisch. Nicht mal die dort akkreditierten Gesandten und Botschafter wussten im Sommer 1914 genau, wer das Sagen hat.

Ihre Argumentation kann man auch gegen Deutschland verwenden: Gerade weil diese aufstrebende Macht in Europa und Übersee zu kurz gekommen war, suchte sie im Juli 1914 die Entscheidung.

Das klingt plausibel. Deshalb war diese These ja lange verbreitet. Trotzdem muss man erst einmal beweisen, dass Deutschland in der Tat so gehandelt hat. In den Quellen finden wir keinen Hin­weis darauf. Ich bleibe dabei: Das Deut­sche Reich hat sich nicht schlimmer als die anderen Großmächte verhalten.

Warum war denn eine Zeit lang Fritz Fischers These vom „Griff nach der Weltmacht“ so populär – also dass Deutschland auf diesen Anlass nur gewartet hat, weil es schon lange den Krieg geplant hatte?

Weil es ja tatsächlich nicht an deutschen Stimmen mangelte, die einen Grund für einen Krieg suchten. Manche dieser Stimmen finden sich in Leitartikeln, andere in Briefen des deutschen Generalstabschefs Moltke. Dazu kamen die Badewannensprüche des Kaisers. Das sah schon sehr aggressiv aus. Doch das große Versäumnis von Fischer war es, die deutsche Außenpolitik nicht in den internationalen Kontext zu stellen. Er konzentrierte sich auf ein Psychogramm der deut­schen Führungselite und befasste sich kaum mit den anderen Staaten. Für Fischer war seine Arbeit Vergangenheitsbewältigung – allerdings der Vergangenheit von 1933 bis 1945, in die er selber verstrickt war. Als Jungwissenschaftler hatte er den NS­I-deen nahgestanden und auch antisemitische Vorträge gehalten. Die Überwindung seiner NS-­Vergangenheit führte zu einer Abrechnung mit der deutschen Ge­schichte schlechthin.

Was war der größte Fehler, den die Deutschen im Juli 1914 begangen haben?

Wenn wir nun statt über Schuld über Fehler sprechen: Was war der größte Fehler, den die Deutschen im Juli 1914 begangen haben?

Zum einen haben sie die Bereitschaft der Russen fatal unterschätzt, das Risiko eines großen Krieges einzugehen. Zum anderen haben sie gar nicht richtig wahrgenommen, dass sich das franzö­sisch­russische Bündnis in den Jahren vor dem Krieg geändert hatte – und jetzt auch für den Fall eines Krieges auf dem Balkan eine europäische Eskalation vor­ sah. Statt diese gefährliche Mechanik zu erkennen, haben sie erwartet, dass die Franzosen die Russen zur Ruhe mahnen. Das war ihr größter Fehler.

Der Balkan war schon lange vor 1914 eine Krisenregion. Eigentlich hätten die Großmächte also an das Problem gewöhnt sein müssen. Wie konnte es plötzlich diese Brisanz bekommen?

Weil sich der Verfall des Osmani­schen Reiches in diesen Jahren beschleu­nigte. Und das führte zu Gewaltausbrü­chen, wie es sie vor 1900 niemals gegeben hatte. Zugleich ändert sich die Haltung der europäischen Großmächte dem türkischen Reich gegenüber. Seit dem Krim­ krieg 1853 hatten die Osmanen als ord­nende Kraft gegolten, die den Russen den Zugriff auf Bosporus und Balkan verwei­gerte und daher wichtig war für den Frie­den in Europa. Dieser Konsens war 1914 vollkommen zerstört. Es war Symptom eines tieferen Geisteswandels: Die Europäer dachten nicht mehr im Rahmen eines „europäischen Konzerts“, in dem jede Macht ihre Rolle spielt, sondern in konkurrierenden Machtblöcken. Das wirkte sich fatal aus.

"Es hätte nicht unbedingt zu einem Weltkrieg kommen müssen."

In diesem Europa, in dem gleich mehrere Reiche zu zerfallen drohten und in dem mit den Deutschen ein neuer Gigant auf die Bühne drängte – hätte es da nicht ohnehin irgendwann krachen müssen?

Es hätte nicht zu einem Weltkrieg zwischen den zwei Blöcken kommen müssen. Kurz zuvor hatten ja 1912 und 1913 zwei Konflikte den Balkan erschüttert, ohne einen europäischen Krieg auszulösen. Im Gegenteil: Sie leiteten eine Phase der Entspannung ein, weil Groß­britannien und Deutschland ihre Verbün­deten zur Mäßigung aufriefen und so die Krisen gemeinsam schlichteten.

Trägt also auch die englische Regierung eine Mitschuld am Ausbruch des Krieges? Hätte nicht Außenminister Sir Edward Grey die Deutschen und Österreicher viel früher warnen müssen, statt Berlin in dem Glauben zu lassen, die Briten würden sich aus einem Krieg heraushalten?

Ich halte diese Argumentation man­cher Historiker für falsch. Denn die deut­sche Armeeführung nahm die Engländer als Militärmacht ohnehin nicht ernst. Sie hatten Respekt vor der britischen Marine, nicht vor dem Heer. So hat der Kaiser einmal gescherzt, dass „eine Flotte keine Räder“ habe.

Dennoch hat Grey eine fatale Politik betrieben, weil er sich die Logik des französisch-russischen Bündnisses zu eigen gemacht hat – nämlich, dass ein Krieg auf dem Balkan automatisch zu einem Waffengang in Mitteleuropa führt.

Ja, das muss man wohl so se­ hen. Doch ganz fahrlässig war Grey nicht. Er hat es nicht an Warnun­gen an die Deutschen fehlen lassen. Schon am 4. Dezember 1912 hat er dem deutschen Botschafter in Lon­don erklärt, dass Großbritannien auch im Falle eines Balkankrieges auf der Seite seiner Freunde stehen werde. Natürlich war diese Politik nicht sehr weise, weil er damit den Auslösemechanismus eines euro­ päischen Krieges vollkommen in die Hände der Russen legte.

Trifft also die Russen eine Hauptschuld am Ausbruch des Krieges?

Nicht unbedingt. Man muss die Provokationen vom Juli 1914 gegenein­ ander abwägen. Hatte Österreich­-Ungarn das Recht, gegen Serbien loszuschlagen? Die Franzosen und Russen haben sehr schnell gesagt: Kein ganzes Volk kann für die Untaten einiger weniger Männer ver­antwortlich gemacht werden. Außerdem seien die Attentäter gar keine Serben, sondern Staatsbürger Österreich­-Un­garns. Wenn die Österreicher Forderungen stellten, dann war das schon ein erster Schritt auf dem Weg zum Krieg. Die Regierung in Wien meinte dagegen, dass sie überhaupt keine Alternative hatte, als Forderungen an Serbien zu stellen.

Die russische Regierung nahm das Attentat schon Stunden nach dem Ereignis als Gelegenheit für einen zumindest regionalen Krieg wahr, gab Serbien Waffenhilfe – die sie vorher noch verweigert hatte – und mobilisierte ihre Flotten im Schwarzen Meer und im Baltikum: also gegen Gegner, die mit Serbien gar nichts zu tun hatten. Ist das nicht erstaunlich?

Das war nichts Neues. Das hatten die Russen schon beim Balkankrieg im Winter 1912/13 gemacht. Das war ein Spiel mit dem Feuer, wie es 1914 typisch war für die russische Handhabung von Balkankrisen. Der große Unterschied war: Im Sommer 1914 wussten die Rus­ sen, dass Paris ihren Kurs unterstützt. Der französische Botschafter in Sankt Petersburg war ein vehementer Gegner der Deutschen, der den Russen französische Hilfe zugesichert hatte, auch wenn die Armee des Zaren gegen eine andere Großmacht mobilisiert werden müsste. Das schuf einen neuen Mechanismus der Eskalation.

Wenn man die russische, französische, österreichische und serbische Haltung anschaut – dann wirken die Deutschen noch recht zurückhaltend.

Ja, das stimmt. Aber das soll kein Rückfall in den Revisionismus der Wei­ marer Zeit sein, als sich die Deutschen als Unschuldslämmer darstellten, die von den schlimmen Großmächten überfallen wurden – das ist natürlich auch totaler Unsinn. Die Deutschen hatten schon immer eine Politik geführt, die nur auf Macht basierte. Sie waren davon über­ zeugt, ihre Ziele nur durch Abschreckung erreichen zu können – und durch ein ungeheures Wachstum des Militärs.

Als klar war, dass sie den Flotten­wettbewerb gegen die Briten verloren hatten, investierten sie gewaltige Sum­men in das Heer, das rasant wuchs. Das war natürlich eine Herausforderung an die Nachbarn. Deutschland war also ge­nauso verankert in dieser Kultur der mi­litärischen Stärke, des Prestigedenkens und der Abschreckung. Die gehörten genauso dazu wie alle anderen. Und ihre Entscheidung, den Österreichern im Sommer 1914 um jeden Preis beizuste­hen – die war unfassbar leichtsinnig.

Woher kam dieser Leichtsinn?

Die Deutschen glaubten anfangs nicht, dass die Österreicher ihrer Empö­rung auch Taten folgen lassen würden. Sie trauten Wien keine energische Reak­tion zu. Als Wilhelm II. dann von dem Ultimatum erfuhr, war er überrascht. So eine „forsche Note“ hatte er von den Österreichern nicht erwartet.

"Mit der bedingungslosen Unterstützung Wiens leisteten die Deutschen ihren Beitrag zur Eskalation der Krise"

Wilhelm II. forderte, dass mit Serbien „aufgeräumt“ werden müsse. Nahm der Monarch damit nicht fahrlässig einen Krieg in Kauf?

Ja, schon. Mit dem „Blankoscheck“, der bedingungslosen Unterstützung Wiens, leisteten die Deutschen zudem ihren Beitrag zur Eskalation der Krise.

Ist das nicht der entscheidende Beweis für die Schuld der Deutschen?

Man kann daraus nur dann eine deutsche Allein­- oder Hauptschuld kon­struieren, wenn man diese Entscheidung heraushebt und zum alleinauslösenden Moment erklärt. Aber so war es nicht.

Wenn die Julikrise ein Kriminalfall wäre, wie würde ein Gericht dann urteilen: Würde es alle Beteiligten für schuldig erklären oder nur wenige? Waren sie überhaupt zurechnungsfähig oder waren die Umstände so, dass man sie gar nicht verurteilen könnte?

Das ist komplex. Am interessantesten sind die Meinungen der US­-Elite, denn die fühlte sich den Ereignissen an­fangs sehr fern. Für sie war der Schuldige klar: Die alte Geheimdiplomatie Europas hatte zu diesem Krieg geführt. Man sah ihn als Ausdruck eines überholten euro­päischen politischen Systems.

Also war das System eigentlich der Hauptschuldige?

Ja, aber nicht im Sinne eines blutlosen Schemas. Die Eliten haben dieses System mit Leben erfüllt.

"Der Krieg ist zum Teil unseres Alltags geworden"

Wie nah ist uns 100 Jahre später das Europa des Sommers 1914?

Die Welt, in der wir heute leben, ähnelt immer mehr jener von 1914. Sie ist sehr undurchschaubar, was die interna­tionalen Beziehungen angeht. Es gibt vielerorts regionale Dauerkrisen, die zum Teil sehr brutale Folgen haben. Wir ha­ben uns von dem Gedanken des Krieges als Heilmittel nicht befreit, sondern ganz im Gegenteil: Der Krieg ist zum Teil unseres Alltags geworden. Wir leben mit dem Krieg.

Er wird ja zurzeit ständig geführt im Nahen Osten, nicht nur von regionalen Staaten, sondern auch von Großmächten wie den USA. Krieg ist allgegenwärtig und schreckt uns gar nicht mehr. Und wir haben es wieder mit emporstrebenden Mächten zu tun – vor allem mit China. Wie dem wilhelminischen Deutschland scheint auch diesem Riesenreich eine klare Leitidee zu fehlen. Man meint im­mer, China Grenzen setzen zu müssen, aber weiß gar nicht, wo man die Grenzen setzen soll.

Ist Deutschland wieder zu groß für Europa? Schafft es wieder ein gefährliches Ungleichgewicht?

Nein. Ist Kalifornien zu reich für die USA? Ist Texas zu stark für Amerika? Was Europa fehlt, sind Strukturen. Na­türlich kann es nicht sein, dass der Kon­tinent von seinem stärksten Mitglied beherrscht wird. Das will Deutschland aber auch gar nicht.

Das ist ja das Paradox: In manchen europäischen Ländern wird gar nicht gesehen, dass die Deutschen diese hege­moniale Macht nicht anstreben – sie fällt ihnen vielmehr zu, weil es an Alternativen mangelt. Es gibt keine föderalen Struk­turen wie in den USA, die verhindern, dass der Bundesstaat Maine von Kalifor­nien tyrannisiert wird. In Europa wird bislang allein die Souveränität der einzelnen Staaten geschützt. Aber das reicht nicht mehr aus.

Der englische Bildungsminister hat Sie öffentlich kritisiert, weil Sie nicht die vermeintlich simple Wahrheit über den Ersten Weltkrieg verbreiten, nämlich: Die Deutschen sind an allem schuld.

Das ist wirklich absurd. In Deutschland gilt die Behauptung einer deutschen Alleinschuld als linke Position – in Großbritannien ist die gleiche Position eine rechte, eine nationalistische Position. Sie entspricht dem Versuch, die Geschichte zur Sinnstiftung zu nutzen, nach dem Motto: Wir haben gegen einen bösen, übermächtigen, völkerrechtsverachtenden Feind gekämpft, das war ein gerechter Krieg – denn alle britischen Kriege sind immer gerecht gewesen.

In solchen Argumenten steckt leider deutlich mehr Politik als Geschichts­verständnis.

GEO EPOCHE Kollektion Nr. 10 - Der erste Weltkrieg

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