Gastrezension: Anna Stern / das alles hier. jetzt

Nominiert für den Schweizer Buchpreis 2020

Nichts für Spätzünder
von Annette Ruth Söllinger

Ich war schon immer ein Spätzünder. Erst als ich beinahe durch mein Abitur gefallen war, verstand ich, wie ich den Stoff lernen musste, damit er nicht im Halbdunkel des Konzentrierenwollens an mir vorbeiwaberte, ohne eine Erinnerung zu hinterlassen. Bei diesem Buch hier war es ähnlich; est nachdem ich mich mühsam durch drei Viertel der Geschichte gezwungen hatte, entdeckte ich meine ganz persönliche Gebrauchsanweisung zum Buch.

Was war passiert?

diese schreibweise, alles klein, alles egal denke ich gerade, soll sie unfertigkeit symbolisieren, flüchtigkeit? oder nähe? für mich ist es schwer, unruhig sucht mein leseauge nach einer orientierung, fliegt über die kurzen, nicht immer beendeten sätze. „ananke hat hier. ihr habt hier. einst.“ sprachlosigkeit, gehetztheit. mein blick versucht das gedruckte abzuarbeiten wie eine schulaufgabe; es gelingt nicht, zum einem ohr rein, zum anderen heraus, ich kann den ganzen abschnitt nochmal lesen … ich muss es anders anfangen. ich zwinge meine vorstellungskraft hinein, ja, und manchmal gelingt es, manchmal geht es wie von selbst, entstehen kraftvolle bilder. aber die methode ist so anstrengend … und bilder sehen und den zusammenhang begreifen sind schon wieder zwei dinge …

Und dann hatte ich plötzlich den gordischen Knoten geknackt. Ich muss den Text laut lesen – dann stolpert mein Hirn nicht mehr über diese bescheuerte Kleinschreibung, dann verstehe ich mit den Ohren und nicht mehr mit den Augen, und dann – ist es auf einmal genial. Was für eine Sprache! Plötzlich wird alles plastisch; nie zuvor bin ich in einem Roman so kraftvollen Bildern für einen depressiven Zustand begegnet.

[…] draußen nacht, draußen der himmel nur im westen noch ein streifen blut und rosa und kitsch.

dass so viele Herzen schlagen, jede sekunde zu schlagen beginnen, zu schlagen aufhören, und dass diese herzschläge, schlügen sie alle im takt, brücken zum einstürzen brächten, berge zerfallen ließen, langsam, ihretwegen ozeane über die ufer träten.“

Aber worum geht es eigentlich?

Ichor hat sich in seiner Depression eingeigelt, seit Ananke tot ist. Ananke war der Dreh- und Angelpunkt einer idyllisch aufgewachsenen verschworenen Kinder-Gemeinschaft, die allmählich erwachsen geworden ist. Und nun ist Ananke nicht mehr da, und keiner in der Gemeinschaft weiß ohne sie noch recht etwas mit sich oder den anderen anzufangen. In den ersten drei Vierteln des Buches ist dies dann auch schon alles, was uns an Handlung begegnet, von Ichor nicht in der ich-, sondern in der du-Form skizziert, auch diese Schreibweise, die ich bisher erst einmal in einem koreanischen Roman las: schwer gewöhnungsbedürftig. Diese nicht zuende gedachten Sätze, diese nicht zuende gedachten Fragen; vielleicht fürchtet sich Ichor vor der Konsequenz seiner Worte; Depression ist Furcht und die Pflege derselben; diese Furcht zu konfrontieren, wäre wohl nicht gut …

Mir gefällt die Idee, dem wilden Hin- und Herspringen zwischen Gegenwart und Vergangenheit durch das Abdrucken der Gegenwart auf der linken Seite in kräftigem Schwarz und der Erinnerungen auf der rechten Seite in einem zarteren Grau eine Struktur zu geben, eine Orientierung für den Leser inmitten des Chaos der Zeitsprünge, denn dieses ist nicht unerheblich. Und macht das konzentrierte Lesen auch nicht gerade einfacher. Und das Zelebrieren der Depression dauert lange, zu lange. Belanglosigkeiten wechseln sich ab mit Erinnerungen und düsteren Phantasien. Aber schließlich gerät etwas in Bewegung. Ichor beginnt, den Freunden zuzuhören, Initiativen zu ergreifen. Kontaktiert, beobachtet die anderen, beginnt, sie mit neuen Augen zu sehen. Und dann ist es die ganze Gruppe, die mit einer wahnwitzigen Idee einen Ausbruch aus dem rückwärtsgewandten Stillstand unternimmt, und alle machen mit, und plötzlich wird die unentschlossen sich im Kreis drehende Geschichte zum spannenden Road-Movie. Und, ja, endlich hört es auf, das andauernde Springen in die pastellgrauen Rückblicke. Der Schluss ist dann … irgendwie sogar schön. Poetisch. Und doch: schon wieder so ein Schluss, der mich ratlos macht. Ist das neuerdings so ein Standard-Kriterium für gute Literatur?

Ein weiterer Kritikpunkt: Detektivspiele mag ich in Krimis. Wobei ich eigentlich, wenn ich ehrlich bin, keine Krimis mag … Jedenfalls dieses Detektivspiel hier mochte ich nicht so sehr: finde heraus, warum Ichor depressiv ist. Merke Dir jedes Detail genau, Swann muss der Vater von Eden und Ichor sein, Avi die Mutter von Ananke, oder war es andersherum? Selbst Schuld, wenn es dir zum anderen Ohr schon wieder hinaus ist … Aber die Sprache malt unbeirrt starke und zugleich surreale Bilder. Und die subtile Charakterisierung der Beziehungen sowie der emotionalen Schieflage – Anankes coole Familie im Gegensatz zur Gefühlskälte von Ichors Eltern – ist durchaus gelungen, auch schält sich allmählich heraus, dass es in der ungleichen Kindergemeinschaft eine Hackordnung gab. Hier versteht es die Autorin, mit wenigen fragmentarischen Sätzen punktgenau Zustände zu zeichnen.

Man kann ins Schwärmen geraten bei diesem Buch oder ins Stöhnen. Ein ungewöhnliches, forderndes Werk, das man nicht mal eben am Feierabend verschlingt, sondern auf das man sich immer wieder neu einlassen muss.

Manuela Hofstätter
Letzte Artikel von Manuela Hofstätter (Alle anzeigen)

2 Gedanken zu „Gastrezension: Anna Stern / das alles hier. jetzt“

  1. Gerade ‚kämpfe’ Ich mit Anne Sterns Buch das alles hier jetzt. Danke für die tolle Gastbesprechung, die mir hilft, weiter zu lesen, ohne alles gleich ‚verstehen‘ zu wollen , die wundersame Sprache zu erfassen, mein eigenes Trauern anders zu empfinden! Ja, vielleicht kann man Unsagbares, Unschreibbares so sagen, so schreiben.

Kommentar verfassen