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Mit sich selbst fremdeln Nationalstolz halte ich für dumm. Zur WM stehe ich trotzdem vorm TV und singe die Hymne - warum nur?

Ein Fußball-Fan in Deutschland-Farben zur WM
Das ist nicht unser Autor, aber er könnte es durchaus sein - zumindest zu WM-Zeiten
© firo Sportphoto/Mexsport / Picture Alliance
Jede Form des Nationalstolzes halte ich für groben Unfug. Zur Fußball-WM will ich dann aber doch, dass die Deutschen gewinnen und singe sogar die Hymne mit. Wie ich zur WM mit mir selbst fremdle.

Werden wir bei der Fußball-WM in Russland Titel verteidigen können, fragt sich der Deutsche dieser Tage bereits voller Vorfreude auf vier Wochen Fußball am Stück. Ein ganzes Land fiebert dem nach wie vor größten Sportereignis der Welt entgegen. WM-Zeit ist Ausnahmezeit. Auch für mich, scheint mir. Denn grundsätzlich halte ich Patriotismus oder Nationalstolz in jedweder Form für unangebrachten Unsinn. Außer ganz offensichtlich alle zwei Jahre, wenn es im internationalen Weltfußball etwas zu gewinnen gibt.

Froh und glücklich bin ich, in Deutschland geboren worden zu sein, einem der reichsten Länder der Erde, in dem mich der Staat nicht unterdrückt, eine Krankenkasse meine Arztkosten zahlt und Klettergerüste auf Spielplätzen so genormt sind, dass kein Kinderkopf darin stecken bleiben kann. Aber stolz? Die Formulierung "geboren worden" sagt schon alles. Mein persönlicher Beitrag zu diesem Umstand hält sich in sehr überschaubaren Grenzen. Ich bin darüber froh wie über einen Lotto-Gewinn - denn nichts anderes ist es im globalen Vergleich.

Menschen, die meinen, stolz auf ihr Land, oder besser noch dessen Geschichte sein zu müssen, belächle ich für gewöhnlich. Stolz impliziert für mich eigenes Zutun und was Kalle von vorm Kiosk dafür kann, dass Goethe und Schiller mal in der Nähe gelebt haben, müsste er mir erst einmal erklären.

Aber dann beginnt die Fußball-WM und plötzlich stehe ich vor Deutschlandspielen in schwarz-rot-goldener Montur mit der Hand an der Brust vorm Fernseher und singe die deutsche Nationalhymne mit. Auf geht's, die Franzosen, Engländer und alle anderen in die Knie zwingen. Wir, die Deutschen, gegen den Rest der Welt.

Woher kommt der Nationalstolz zu WM-Zeiten?

Um es an dieser Stelle vorsorglich vorwegzunehmen: Nein, ich möchte niemandem den Spaß am Fußballgucken verderben und nein, du bist kein Nazi, nur weil eine Deutschlandfahne an deinem Autofenster hängt. Darum geht es nicht. Ich will diese Verhaltensmuster, die ich ja auch bei mir selbst entdeckte, gar nicht verurteilen. Ich frage mich nur, woher sie kommen.

Sozialpsychologen sind dieser Frage natürlich bereits mehrfach nachgegangen und haben herausgefunden, dass Menschen grundsätzlich nach einer "positiven kollektiven Identität" streben. Damit verbinde man "Sicherheit, Wohlbefinden, Wohlfahrt, kulturelle und soziale Gemeinsamkeiten". Wie Christian Haberecht und Boris Herrmann 2009 in ihrem Buch "Fußball und nationale Identität in Europa" herausarbeiteten, kann eine Fußball-WM genau diesen Zweck übernehmen - zumindest für eine gewisse Zeit.

Die Sozialpsychologin Dagmar Schediwy führte die Idee einen Schritt weiter und begab sich auf Ursachenforschung. Sie meint, Deutsche würden Fußballevents zunehmend national überhöhen, weil wir in zunehmend wirtschaftlich unsicheren Zeiten lebten. In einer Gesellschaft ohne gemeinsamen Nenner werde die Sehnsucht nach dem verlorenen Wir-Gefühl auf den Fanmeilen eingelöst. Den Nationalstolz, den sich der Deutsche ob seiner Vergangenheit früher größtenteils verkniff, sehe man dort spätestens seit 2006 wieder aufleben.

Bin ich Deutscher, bin ich für Deutschland

Nun ist aber die Grundlage des internationalen sportlichen Wettbewerbs die Abgrenzung und Einteilung in: wir gegen euch. Das eine Land will wissen, ob es besser ist als das andere. Und dieses Denken ist mir fremd - eigentlich. Ich bin in erster Linie Mensch, kein Deutscher oder Europäer. Aber warum bin ich dann stolz auf das fußballerische Können einer kleinen aus Deutschland herausdestillierten Gruppe? Schließlich endete mein persönlicher Beitrag zu "Fußball-Deutschland" geräusch- wie erfolglos in der B-Jugend des Willinghusener SC.

Andererseits feuert man beim Sport halt immer irgendwen an. Ich bin auch leidenschaftlicher BVB-Fan, habe fast geweint, als Robben 2013 das 2:1 im Champions-League-Finale gegen meine Jungs geschossen hat. Da stört mich die Abgrenzung, stört mich der Wettbewerb auch nicht. Dann bin ich halt auch Fan von Deutschlands Nationalmannschaft. Aber im Gegensatz zum Verein kann man sich das anzufeuernde Land ja nicht aussuchen. Bin ich Deutscher, bin ich für Deutschland.

Den Deutschen ist Fußball heilig

Wie viele Emotionen die Deutschen mit ihrer Fußballmannschaft verbinden, zeigte sich erst kürzlich wieder, als Nationalspieler Gündogan und Özil mit dem türkischen Präsidenten posierten. Sofort rausschmeißen müsse man die beiden, die wüssten nicht, wer "ihr Präsident" zu sein hat und sie hätten "unsere Werte" nicht verstanden. Mal ganz abgesehen davon, dass man in Deutschland auch Arschlöcher gut finden darf und natürlich das Recht auf dumme Ansichten hat, war und ist das Ausmaß der Aufregung bezeichnend. In der "Westdeutschen Zeitung" stand gar die Aufforderung an Gündogan, "unser Trikot" nicht anzuziehen. Fußball ist uns heilig, beim Fußball sind wir sensibel.

Das nimmt bisweilen seltsame Züge an, äußert sich in Debatten wie jenen über Gündogan und Özil, oder der ewig unnötigen Frage, wer nun die Hymne nicht mitsingt und warum. Aber es zeigt sich auch in teils offener Abneigung gegenüber Italienern und Engländern oder überbordender Häme für unsere Nachbarn aus den Niederlanden.

Unterm Strich bleibt es aber ein Fußball-Spiel. Wenn es laut Soziologen ein inneres Streben nach einer "positiven kollektiven Identität" gibt und es vielen Menschen daher ein Bedürfnis ist, sich gegenüber anderen Ländern abzugrenzen und womöglich auch mit ihnen zu messen, ist mir doch die Fußball-WM dafür tausendmal lieber, als das echte Schlachtfeld. Überspitzt gesagt: Opa kam mit Flugzeug und Panzer, wir immerhin nur noch mit Stutzen und kurzen Hosen. In diesem Sinne: Hauptsache unsere Jungs holen am Ende den Pott!

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