Ist jemand zu Haus? – „Das Haus“

„Das Haus“ ist der neueste Comic von Anke Feuchtenberger, die als Professorin für Gestaltung an der HAW tätig ist und aus deren Schule schon einige deutsche Comic-Talente hervorgegangen sind (Birgit Weye, Sascha Hommer, Antonia Kühn etc.). Aber eigentlich ist „Das Haus“ gar kein Neubau, sondern bereits 2001 zunächst als Daily Strip auf der Berlin-Seite in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und dann bei Reprodukt in Buchform erschienen. Nun also die zweite Auflage.

Anke Feuchtenberger (Autorin und Zeichnerin): „Das Haus“.
Reprodukt, Berlin 2020. 64 Seiten. 20 Euro

In 30 Bildfolgen à fünf bis sieben Abbildungen, umrahmt von ionischen Säulen und einem Tympanon, wird der menschliche Körper seziert, die Bildfolgen widmen sich der „Fußsohle“, dem „Nasenflügel“ oder – gleich mehrfach – dem „Geschlecht“. Durch die Einzelbilder, die in dem querformatigen Buch (man muss es wenden) übereinander abgedruckt sind, entstehen also 30 Gebäude mit bis zu sieben Stockwerken. Der Dachboden enthält die Bildfolgennummerierung, den Titel und einen Schlüssel – dass Feuchtenberger den Schlüssel zu den 30 Häusern auf dem Dachboden platziert, hat etwas Symbolhaftes, denn der Zugang zu den mit Text versehenen Bildfolgen ist nicht einfach. Wer Feuchtenbergers Bildgeschichten („Die hure h“, „Mutterkuchen“) kennt, wundert sich darüber nicht.

Während uns das Cover noch suggeriert, es ginge tatsächlich um Bauwerke – denn auf dem Umschlag lässt sich unschwer der „Turm zu Babel“ erkennen –, belehrt schon das erste Kapitel uns eines Besseren (s. Abb. u.): „Die Zunge, die / Informationen / von Bitterkeit / weiterleitet / als sie in die Tiefe / des zerbissenen / Kerns / vordringt.“ Text und Bild stehen in keinem trivialen Verhältnis zueinander, sondern müssen erst mühsam dekodiert werden. Inwiefern lassen sich die „Informationen“ auf das Bild darüber beziehen? Und was genau wird dort überhaupt gezeigt? Im Zusammenhang mit den (vermeintlichen) Berliner Trümmerfrauen im drittletzten Panel lässt sich die architektonische Formation („Informationen“) als Ruine des Zweiten Weltkriegs lesen. Und das letzte Panel (mit der Textzeile „vordringt“) zeigt uniformierte Deppen, die man höflicherweise bestenfalls als „zudringlich“ bezeichnen könnte.

Die Bilder illustrieren also manchmal den Text, spielen manchmal aber auch sehr frei mit ihm oder eröffnen Bedeutungszusammenhänge untereinander. In dem dreiteiligen Aufbau (Titel – Bild – Bildunterschrift) erinnern die Bildfolgen an die Tradition der Emblematik, die im Barock besonders ausgeprägt war. Das Beispiel aus der Emblemsammlung des italienischen Gelehrten Andrea Alciato (Emblematum liber, 1531) zeigt ein solches Emblem, bestehend aus Inscriptio (Überschrift), Pictura (Bild) und Subscriptio (Text): Die Überschrift setzt einen Bedeutungszusammenhang, der Text interpretiert das Bild.

Die Ausdeutung der Geschichten Feuchtenbergers überlässt den Leser*innen viel Freiheit, aber es gibt auch einige Konstanten: Themen wie Gewalt, Sexualität und Geschichte kehren immer und immer wieder.

Die Metapher vom Körper als Haus hat eine lange Tradition, sie findet sich so zahlreich bei griechischen Philosophen, bei Bernhard von Clairvaux, nicht zuletzt bei Sigmund Freud, dass es fast schon ein Allgemeinplatz geworden ist. Die Assoziation des „Turm zu Babels“ ist also ebenso irreführend wie der Gedanke, dieses Haus habe einen Bezug zu dem „Hochhaus“ von Katharina Greve, das zunächst als Webcomic und dann als 7 Meter lange Buchrolle erschien. Ein ungewöhnliches Format haben sie beide – immerhin.

Ein Haus braucht einen Schlüssel, dieses hat gleich 30 verschiedene. Das Vermögen, die Geschichten zu entschlüsseln, liegt aber einzig und allein bei der Leserin bzw. dem Leser. Schaut nicht unter der Fußmatte, das ist ein abgedroschenes Klischee, und Klischees sind auf diesen 60 Seiten keine zu finden. Herzlich willkommen im Haus.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Sequenz aus „Das Haus“ (Reprodukt)