Kinderarmut als „unbearbeitete Großbaustelle“. Auch hier wieder bekommt die „Ein-Fünftel“-Gesellschaft viele Gesichter

Sowohl hinsichtlich der möglicherweise vor dem Aus stehenden Unternehmen wie auch hinsichtlich der coronabedingten materiellen Einschränkungen auf Seiten der Menschen wurde hier am 7. Juli 2020 in dem Beitrag Nachrichten aus der „Ein-Fünftel“-Gesellschaft davon berichtet, dass man immer wieder auf die Größenordnung von um die 20 Prozent kommt, wenn es um die Schattenseiten in unserer Gesellschaft geht.

Nun hat die Bertelsmann-Stiftung das Thema „Kinderarmut“ erneut aufgerufen und auch hier stoßen wir auf die angesprochene Relation:

»Seit Jahren ist Kinderarmut eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen in Deutschland. Unsere neue Analyse zeigt, dass es im bundesweiten Durchschnitt keine grundlegende Verbesserung gab. Die Corona-Krise droht das Problem der Kinderarmut zu verschärfen«, so die Stiftung unter der Überschrift Kinderarmut: Eine unbearbeitete Großbaustelle. »Nach wie vor überschattet Armut den Alltag von mehr als einem Fünftel aller Kinder in Deutschland. Das sind 21,3 Prozent bzw. 2,8 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18, die oft viele Jahre ihrer Kindheit von Armut bedroht sind. Das ist das Ergebnis eines kombinierten Messansatzes, der sowohl die Armutsgefährdungsquote als auch Kinder im Grundsicherungsbezug berücksichtigt. Die Kinder- und Jugendarmut bleibt trotz der vor der Corona-Krise jahrelang guten wirtschaftlicher Entwicklung ein ungelöstes strukturelles Problem in Deutschland. Damit verbunden sind erhebliche Folgen für das Aufwachsen, das Wohlbefinden, die Bildung und die Zukunftschancen der Kinder.«

Licht und Schatten, wenn man genauer hinschaut

»Wirft man alleine einen Blick auf die Kinder, die Grundsicherung (SGB II/Hartz IV) beziehen (das sind bundesweit 13,8%), können auch regionale Entwicklungen der Kinderarmut aufgezeigt werden. Demnach haben sich etwa in Ostdeutschland Verbesserungen eingestellt. Waren dort 2014 noch 22,1 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Grundsicherungsbezug, sind dies 2019 nur noch 16,9 Prozent. In Westdeutschland stagniert die SGB II-Quote von Kindern hingegen bei 13 Prozent. Auf Kreisebene leben in einigen Kreisen bzw. Städten bis zu 40 Prozent der Kinder im Grundsicherungsbezug, in anderen sind es nur 2 Prozent. Die materielle Versorgung von Kindern in der Grundsicherung hat sich in den letzten fünf Jahren etwas verbessert – der relative Unterschied zu Kindern in gesicherten Verhältnissen ist jedoch bestehen geblieben. Insbesondere in den Bereichen Mobilität, Freizeit und soziale Teilhabe sind Familien im SGB II-Bezug teils erheblich unterversorgt.«

Für alle, die es genauer wissen möchten, hat die Stiftung einen kompakten Factsheet zur Verfügung gestellt:

➔ Bertelsmann-Stiftung (2020): Factsheet Kinderarmut in Deutschland, Gütersloh, Juli 2020

»Jedes fünfte Kind wächst in Deutschland in Armut auf. Zahlen und Fakten dazu, auch auf regionaler Ebene, liefert unser Factsheet Kinderarmut 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche leben in Deutschland in einer Familie, die entweder einkommensarm ist und/oder SGB II-Leistungen bezieht. Besonders häufig betroffen sind Kinder aus alleinerziehenden Familien oder mit mehr als zwei Geschwistern. Unser Factsheet stellt Erkenntnisse zusammen, wie die materielle Versorgung von Kindern im Grundsicherungsbezug aussieht und welche Folgen Aufwachsen in Armut für die Betroffenen hat.«

Ergänzt wird das durch diese Zwischenergebnisse aus einer laufenden Auftragsstudie:

➔ Torsten Lietzmann und Claudia Wenzig (2020): Materielle Unterversorgung von Kindern. Zwischenbericht zum Forschungsprojekt „Erwerbskonstellationen in Familien mit Schwerpunkt Aufstocker“ des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, Juli 2020

»Kinder in Familien, die SGB II-Leistungen beziehen, sind schlechter mit vielen Gütern und Teilhabeaspekten ausgestattet als Kinder aus finanziell abgesicherten Familien. Das zeigt die vorliegende Studie. Sie basiert auf Daten des Panels Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung (PASS). Abgefragt werden 23 Items für die gesamte Familie sowie vier Items spezifisch für Kinder, ob diese vorhanden sind oder aus finanziellen oder sonstigen Gründen fehlen. So haben z.B. ein Viertel aller Kinder im Grundsicherungsbezug keinen internetfähigen PC im Haushalt, zwei Drittel können aus finanziellen Gründen nicht einmal eine Woche Urlaub im Jahr mit ihrer Familie machen. Einige Aspekte werden sowohl bezogen auf den gesamten Haushalt als auch spezifisch mit Blick auf die Kinder abgefragt wie ob ausreichend Winterkleidung vorhanden ist oder ob Freunde nach Hause eingeladen werden können. Hier wird deutlich, dass auch arme Eltern ihren Kindern mehr ermöglichen als sich selbst.«

Und die Corona-Krise verschärft die Lage auf der Großbaustelle

»Die Eltern der benachteiligten Kinder und Jugendlichen trifft die Corona-Krise besonders hart: Sie arbeiten häufiger in Teilzeit oder als Minijobber und gehören deswegen zu der Gruppe, die als erste ihre Jobs verlieren oder nur vergleichsweise wenig beziehungsweise gar kein Kurzarbeitergeld erhalten.«

Viele arme Kinder drohen „durchs Raster zu fallen“. »Zahlreiche außerhäusliche Unterstützungsangebote staatlicher oder zivilgesellschaftlicher Natur konnten während des Corona-Lockdowns nicht fortgesetzt werden – mit Folgen für die bedürftigsten Kinder und Jugendlichen. Auch beim Homeschooling sind Kinder aus armen Verhältnissen benachteiligt, verfügen sie doch seltener über die notwendige technische Ausstattung und haben zum Teil auch keine Rückzugsräume zum ungestörten Lernen. 24 Prozent der Kinder im Grundsicherungsbezug haben keinen internetfähigen PC im Haushalt, 13 Prozent keinen ruhigen Platz zum Lernen. Fast die Hälfte der Kinder wohnt in einer Wohnung, in der nicht ausreichend Zimmer zur Verfügung stehen.«

Der Vorstand der Stiftung, Jörg Dräger, wird mit diesen Worten zitiert: „Die Politik tut zu wenig, um Kindern Armut zu ersparen. Gerade die Corona-Krise droht die Situation noch zu verschärfen. Die Politik muss jetzt handeln!“

➔ Hier kann und muss man einfügen: Die Politik hätte schon längst handeln müssen und es wurden dafür auch unmittelbar wirksame Vorschläge gemacht, die allerdings in vollem Bewusstsein von den Koalitionsparteien im Bundestag abgeschmettert worden sind. Dazu aus meinem Beitrag Nachrichten aus der „Ein-Fünftel“-Gesellschaft vom 7. Juli 2020 nur diese Hinweise: Ausgehend von den Befunden des Haushaltskrisenbarometer wurde Andreas Hackethal vom Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung SAFE („Sustainable Architecture for Finance in Europe“) mit diesen Schlussfolgerungen zitiert: Wenn die Regierung den Konsum ankurbeln will, sollte sie es vielleicht gezielt bei dem Fünftel der Haushalte tun, die weniger Einkommen haben.“ Wohl wahr, aber:
Dass sich hier nicht wirklich etwas getan hat, kann man an zwei Beispielen verdeutlichen, die zudem zeigen, dass die Koalitionsparteien bewusst verhindert haben, die Einkommen im untersten Bereich zu stärken, obgleich man hier von einem direkten und vollständigen Effekt im Sinne zusätzlichen Konsums ausgehen kann: 
➞ Zum einen hat man – selbst eine nur befristete – Aufstockung der geltenden Regelleistungen im Hartz IV-System (und in der Sozialhilfe nach SGB XII) um 100 Euro im Monat abgeblockt (vgl. dazu den Beitrag Am ausgestreckten Arm … Die Bundesregierung und der Nicht-Zuschlag für Menschen in der Grundsicherung. Die bleiben beim Sozialschutz-Paket II weiter außen vor vom 12. Mai 2020).
➞ Zum anderen hat man sich entsprechend geweigert bei einem anderen und ebenfalls Millionen Menschen betreffenden Instrument eine gezielte Aufstockung bei denjenigen vorzunehmen, die nur sehr niedrige Leistungsbeträge beziehen können: dem Kurzarbeitergeld. Hier wurde frühzeitig gefordert, den Arbeitnehmern vor allem aus den Niedriglohnbereichen ein höheres Kurzarbeitergeld zu zahlen, denn die sind im wahrsten Sinne des Wortes auf jeden Cent angewiesen.

Aber die Bertelsmänner (und -frauen) wollen (schon seit längerem) mehr: Beispielsweise ein „Teilhabegeld“

»Notwendig ist eine transparente und Teilhabe-sichernde finanzielle Leistung für Kinder und Jugendliche, die Armut vermeidet. Vorschläge für ein Teilhabegeld oder eine Grundsicherung für Kinder liegen auf dem Tisch.« Und es folgt noch diese Ankündigung:

»Die Bertelsmann Stiftung will sich in den kommenden Monaten intensiv mit der Perspektive von Kindern und Jugendlichen auf das Thema auseinandersetzen und startet eine Initiative #StopptKinderarmut in den sozialen Medien.«

Dabei waren die schon mal „weiter“. Die alten Hasen der Sozialpolitik werden auch aktuell den Eindruck bekommen müssen, dass das, was heute und vielleicht noch morgen durch die Medien getrieben wird, schon mal da war. Wie gut, wenn man über ein funktionierendes Archiv verfügt, wie diesen Blog beispielsweise. Denn hier wurde am 23. Oktober 2017 dieser Beitrag veröffentlicht: Ein längsschnittiger Zahlen-Blick auf arme Kinder, die in armen Familien leben. Und was man tun könnte oder sollte. Der beginnt mit diesen Ausführungen: »Eine Studie und viele Schlagzeilen: Kinderarmut ist in Deutschland ein Dauerzustand: »Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Und wer einmal abgehängt ist, bleibt es meist. Die Zahlen sind nicht neu, aber umso alarmierender«, kommentiert Ulrike Heidenreich in der Süddeutschen Zeitung. Einmal unten, immer unten, so Spiegel Online. Jedes fünfte Kind lebt dauerhaft in Armut lautet eine weitere Überschrift.« Da hatten wir schon mal das nun erneut aufgerufene Fünftel der Kinder. Grundlage für die damalige Berichterstattung war diese Studie:

➔ Silke Tophoven et al. (2017): Armutsmuster in Kindheit und Jugend. Längsschnittbetrachtungen von Kinderarmut, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, 2017

Und man kann an dieser Stelle auch und gerade heute die damaligen Worte von Jörg Dräger und Anette Stein von der Bertelsmann-Stiftung erneut aufrufen, weil sie so passen:

»Kinder und Jugendliche gehören nicht in ein System des „Forderns und Förderns“. Sie können sich nicht selbst aus Armut befreien, haben aber ein Recht auf gutes Aufwachsen und Teilhabe – und zwar unabhängig von ihrem familiären Hintergrund. Ihre Existenzsicherung darf sich nicht wie bisher am untersten Einkommensrand der Gesellschaft orientieren, wo Unterversorgung und Ausgrenzung bereits vielfach zum Alltag dazugehören.«

»Daher brauchen wir ein neues System der Existenzsicherung für Kinder und Jugendliche, das deren Rechte, Bedarfe und Interessen in den Mittelpunkt stellt, sie selbst befragt und aktiv beteiligt.«

Und bereits 2017 wurde umrissen, wie ein neues System aussehen könnte:

Ein solches Konzept für eine neue Existenzsicherung von Kindern und Jugendlichen besteht aus drei Bausteinen:

1.) Einem neuen, kontinuierlichen Instrument der Bedarfserhebung für und mit Kindern und Jugendlichen, um ihre tatsächlichen Bedarfe empirisch zu erfassen. Notwendig sind dabei verschiedene Erhebungs- und Beteiligungsformate in einem Mixed-Method-Design (z. B. Befragung, Interviews, Kinderkonferenzen).

2.) Einer neuen finanziellen Leistung für Kinder und Jugendliche – dem Teilhabegeld , das bisherige Leistungen (Kindergeld, SGB-II-Regelsätze für Kinder, Kinderzuschlag und Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets) ersetzt. Die neue Leistung ist steuerfinanziert und wird einkommensabhängig abgeschmolzen. Ihre Höhe wird auf Basis der empirischen Erkenntnisse aus der Bedarfserhebung von einer interdisziplinär zusammengesetzten Sachverständigenkommission unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in regelmäßigen Abständen festgelegt.

3.) Einem erreichbaren, kompetenten und unbürokratischen Unterstützungssystem, das für Kinder und Familien vertrauensvolle, wohnort- und lebensnahe Anlaufstellen bereitstellt, in denen sie über alle relevanten Leistungen und Maßnahmen informiert und dazu umfassend beraten werden. Auch Anträge für finanzielle Unterstützung werden hier gestellt und an entsprechende Ämter weitergeleitet. Das erfordert Reformen in der öffentlichen Verwaltung, aber auch gute Rahmenbedingungen (Personalkapazitäten, Qualifizierung, Räumlichkeiten) für die Arbeit der Ansprechpartner vor Ort.

Übrigens: In dem nun veröffentlichten Factsheet Kinderarmut in Deutschland (2020) findet man einen wichtigen Hinweis angesichts der immer wiederkehrenden Einwände gegen eine bessere materielle Versorgung der Familien mit Kindern, die sich in einer Armutslage befinden:

»Kommt denn das Geld aus einer Kindergrundsicherung oder einem Teilhabegeld überhaupt bei den Kindern an? Geben Eltern das nicht eher für Alkohol, Zigaretten oder einen neuen Fernseher aus? Es gibt keine Studie, die dieses Vorurteil für die Breite der Eltern bestätigt. Eine Studie von Dr. Holger Stichnoth und seinem Team am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) Mannheim zeigt vielmehr, dass das Geld bei den Kindern ankommt und sinnvoll ausgegeben wird – zum Beispiel für die Hobbies der Kinder und für eine größere Wohnung (Stichnoth et al. 2018). Auch andere Studien zeigen: Arme Eltern sparen häufig an sich selbst, um ihren Kindern möglichst viel zu ermöglichen (u.a. Andresen/Galic 2015, Diakonisches Werk 2011). Sicher gibt es auch Fälle, in denen Eltern sich nicht gut um ihre Kinder kümmern und diese gefährden. Diese Fälle brauchen besondere Unterstützung und Kontrolle. Alle (armen) Eltern unter einen Generalverdacht zu stellen, ist aber keinesfalls angebracht. Dafür gibt es keine empirischen Belege. Und auch bei Sachleistungen oder zweckgebundenen Geldleistungen kommt übrigens nicht alles bei den Kindern an. Beim Bildungs- und Teilhabepaket entstanden z. B. ca. 20 bis 30 Prozent Verwaltungskosten.«

Quelle: Bertelsmann-Stiftung (2020): Factsheet Kinderarmut in Deutschland, Gütersloh, Juli 2020, S. 8

Ganz offensichtlich, so muss man im Juli des Jahres 2020 leider konstatieren, hat sich auf der „Großbaustelle“ Kinderarmut nichts getan – oder wenn, dann eher in die Richtung auf eine weitere Zementierung der bestehenden Ungleichheitsverhältnisse.