Angst und Schrecken zu verbreiten und friedlichen Bürger zu zeigen, dass sie nicht sicher sind und von der Polizei nicht geschützt werden können: Das war das Ziel der Randalierer. Die Rede ist freilich nicht von den brutalen Ausschreitungen am Rande des G-20-Gipfels in Hamburg, sondern von der Eskalation der Straßengewalt in Deutschland Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre. Damals ging die Aggression, in unterschiedlichen Formen, von beiden Seiten des politischen Spektrums aus. Aktuell in Hamburg waren es nur radikale Linke, aber wer an die Übergriffe gegen Flüchtlingsunterkünfte 2015/16 denkt, erkennt: Am rechten Rand ist es prinzipiell nicht anders.
Auch in der Weimarer Republik wurde die rechtsstaatliche Polizei von beiden Seiten in die Zange genommen. Die damaligen Linksextremisten, speziell die KPD und ihr Veteranen- und Straßenschlachtverband Rotfrontkämpferbund, setzten immer wieder auf Aggression, um die Republik „sturmreif“ zu machen.
Ein typisches Mittel waren – natürlich oft gegen bestehende Verbote gerichtete, also unzulässige – Blitzdemonstrationen: Auf mündliche Verabredung versammelten sich aus verschiedenen Straßen kommend KPD-Anhänger beispielsweise im Berliner Regierungsviertel. Hier durfte zwar prinzipiell nicht demonstriert werden, denn es galt eine Bannmeile.
Doch das störte die Kommunisten nicht: Sie rotteten sich trotzdem zusammen, skandierten aggressive Parolen und zerstreuten sich, sobald sich größere Einsatzkräfte der Polizei näherten – jedenfalls meistens. Ohne Rangeleien ging es trotzdem selten ab, wie in zeitgenössischen Medien, etwa der vollständig digitalisiert vorliegenden liberalen „Vossischen Zeitung“, oder beispielsweise in den Akten des Berliner Polizeipräsidiums nachzulesen ist.
Mitunter eskalierten die Auseinandersetzungen, zum Beispiel Anfang Mai 1929. Die sozialdemokratische Regierung von Preußen, zuständig für die Polizei in Berlin, hatte ein striktes Demonstrationsverbot erlassen, das die KPD jedoch vorsätzlich und offen missachtete. In der aufgeladenen Atmosphäre reagierten Polizeibeamte falsch und gaben Warn-, teilweise sogar gezielte Schüsse ab.
Die Kommunisten nutzten dieses Versagen, um bürgerkriegsähnliche Zustände zu provozieren – die Polizei war seinerzeit weder ausgebildet noch ausgerüstet für ein robustes Eingreifen unterhalb potenziell lebensgefährlicher Maßnahmen, obwohl sie natürlich wie auch heute formal Inhaber des Gewaltmonopols war.
Am Ende brannten in zahlreichen Straßen Barrikaden, wurden Geschäfte attackiert und geplündert. Die Bilanz war blutig: Die bewusst von der KPD herbeigeführte Eskalation kostete 33 Menschen das Leben, weitere knapp 250 wurden verletzt, darunter ein Fünftel Polizisten. Trotz 1228 Festnahmen gab es nur 43 Verurteilungen, darunter als höchste Strafe einmal neun Monate Haft.
Die Verantwortung für die blutige Eskalation lag eindeutig bei den Linksextremisten, doch zugleich hatte die Polizei versagt. „Die KPD nutzte Anfang der 1930er-Jahre die Verbote, um ihre grundsätzliche Gegnerschaft zum bestehenden System durch die gesetzwidrige Abhaltung von Umzügen öffentlich zu dokumentieren“, schreibt die Historikerin Marie-Luise Ehls in ihrer Dissertation „Protest und Propaganda“ von 1997.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums gab es ähnliche Exzesse, freilich in anderer Form: Nationalsozialisten und speziell die Schlägertrupps von der SA attackierten den politischen Gegner, also Kommunisten und Sozialdemokraten, sowie besonders häufig und brutal tatsächlich oder vermeintlich jüdische Bürger. Doch wenn die Polizei erschien, zogen sich die braunen Horden in der Regel zurück.
Typisch waren etwa der Überfall auf eine Kapelle des Rotfrontkämpferbundes auf der Zugfahrt vom brandenburgischen Trebbin zurück nach Berlin am 20. März 1927. SA-Männer griffen die Kommunisten, die nichts ahnend zugestiegen und – diesmal jedenfalls – friedfertig waren, brutal an.
Erst auf dem Vorortbahnhof Berlin-Lichterfelde Ost konnte ein herbeigerufenes Überfallkommando der Polizei die Prügelei beenden. Doch die SA-Leute waren jetzt erst richtig in Fahrt. Nochmals angefeuert vom erst kurz zuvor ernannten Berliner NSDAP-Gauleiter Joseph Goebbels, marschierten sie in Richtung Innenstadt.
Durch das bürgerliche Friedenau führte ihr Weg ins elegante Charlottenburg. Dabei droschen die Braunhemden auf alles ein, was ihnen vor die Fäuste kam: „Frech gewordene Juden wurden kurzerhand verprügelt“, berichtete der NSDAP-Funktionär Reinhold Muchow stolz. Er hielt diesen 20. März für die „bis jetzt größte Schlacht und den geschlossensten Umzug, den die NSDAP in Berlin erlebt hat“.
Derlei war kein Einzelfall: Die Gewaltexzesse der SA nahmen in den Jahren der ausgehenden Weimarer Republik ständig zu. Oft richteten sie sich gegen Kommunisten, was die Berliner Polizei zu verhindern suchte. Die Übergriffe gegen normale Bürger, meist deutsche Juden, dagegen waren kaum in den Griff zu bekommen.
Nach der Eröffnung des Reichstags am 13. Oktober 1930 zum Beispiel, zu dem die 107 NSDAP-Abgeordneten trotz Uniformverbots in Braunhemden erschienen, kam es zu Ausschreitungen. Die Schaufenster jüdischer Geschäfte, besonders des renommierten Kaufhauses Wertheim am Leipziger Platz, wurden eingeschlagen, Kunden angepöbelt und eingeschüchtert.
„Terror der Halbwüchsigen“
Rund hundert Täter nahm die Polizei fest, überwiegend jugendliche Hitler-Anhänger. Die „Vossische Zeitung“ beklagte den „Terror der Halbwüchsigen“. Doch zu entschiedenen Strafen konnte sich die rechtsstaatliche Justiz nicht durchringen: Die meisten Täter wurden ermahnt und nach Hause geschickt.
Knapp ein Jahr später, zum jüdischen Neujahrsfest Rosch ha-Schana Mitte September 1931, attackierten rund tausend Berliner SA-Leute den vermeintlich „verjudeten“ Bezirk Charlottenburg. Der SA-Führer der Reichshauptstadt, Wolf Graf Helldorff, ließ sich im offenen Wagen den Kurfürstendamm auf- und abfahren und stachelte seine Männer an. Aus den ersten Sprechchören „Wir haben Hunger! Wir wollen Arbeit!“ wurden rasch Parolen wie: „Juda verrecke!“, und: „Schlagt die Juden tot!“
Die SA-Leute verprügelten, wer ihnen „verdächtig“ oder „jüdisch“ vorkam. Helldorff befahl, das „Café Reimann“ zu stürmen. Auf dem Bürgersteig stehende Marmortische wurden in die Schaufenster geworfen, die SA schlug die Gäste und demolierte die Inneneinrichtung des Cafés, dessen Inhaber, wie die „Jüdisch-liberale Zeitung“ berichtete, „gar kein Jude ist“.
Lange galt als ausgemacht, dass die besondere Gewalttätigkeit in der Weimarer Republik viel mit der Erfahrung des Ersten Weltkriegs zu tun habe. Es schien einleuchtend, dass die prägenden Erfahrungen an der Front die Hemmschwelle allgemein gesenkt habe.
Neuere Detailforschungen haben diese Deutung jedoch widerlegt. So konnte der Historiker Thomas Weber in seinem Buch „Hitlers erster Krieg“ zeigen, dass Hitlers Regimentskameraden nach 1918 ganz überwiegend einfach in ihr normales Vorkriegsleben zurückkehrten. Auch die Annahme, die Revolution 1918/19 sei besonders gewalttätig gewesen, ist nicht haltbar: Gemessen an der Menge der verfügbaren Waffen und der Zahl der daran ausgebildeten Männer ist die Gewaltarmut das eigentlich Charakteristische am Sturz der Monarchien in Deutschland.
Hass auf das demokratische System
Die Gewaltspirale begann sich erst zu drehen, als ideologische Ziele hinzukamen, der Hass auf das demokratische System, der die Extremisten auf der Linken und auf der Rechten verband. Diese vor allem weltanschaulich provozierte Eskalation dürfte auch die Exzesse in Hamburg zum Teil zumindest erklären.
Die Polizei der Weimarer Republik scheiterte an der Aufgabe, linke und rechte Aggressionen zu unterbinden. Und, schlimmer noch: Die Gerichte ahndeten selbst gut dokumentierte Übergriffe viel zu milde, um einen Abschreckungseffekt zu erzielen. Heute ist die Polizei weitaus besser ausgerüstet und ausgebildet, doch das Grundproblem bleibt: Täter, die nackte Brutalität auf die Straßen tragen, um das Sicherheitsgefühl der friedfertigen Bürger zu erschüttern, werden weiterhin nicht als das behandelt, was sie sind – als Terroristen, ob nun von links oder von rechts.
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