Linken-Chef Oskar Lafontaine wühlt gern in der Vergangenheit. Bevorzugt in der von Angela Merkel, der er immer wieder ihr “FDJ-Hemdchen“ vorhält. Dabei hat seine Biografie selber eine große Nähe zum SED-Regime. Lafontaine ist quasi in die Fußstapfen des letzten DDR-Diktators getreten.

Oskar Lafontaine redet sich rasch in Rage. Zornig reagiert der Partei- und Fraktionschef der Linken vor allem, wenn er darauf angesprochen wird, dass etliche seiner Parteigenossen vor 1990 wichtige Rädchen im Getriebe der DDR-Diktatur waren. "Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Mauer vor fast 20 Jahren gefallen ist", tadelt er dann seine Gesprächspartner und hält ihnen vor: "Sie wühlen gern in der Vergangenheit."

Dabei wühlt auch Lafontaine gern in der Vergangenheit, und zwar seit Monaten bevorzugt in der von Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Im September vergangenen Jahres, als über die Verantwortung für die Toten an der ehemaligen innerdeutschen Grenze debattiert wurde, sagte er auf dem Gründungsparteitag der saarländischen Linken: "Und was Frau Merkel angeht: Ich habe das FDJ-Hemdchen nicht getragen, sie hat es getragen!" Die Union wäre gut beraten, nicht mit dem Finger auf seine Partei zu zeigen, sondern "ihre eigene Vergangenheit aufzuarbeiten".

Scharfrichter Lafontaine


Im April bekräftigte der Saarländer im Gespräch mit Morgenpost Online: "Eine ehemalige FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda ist heute Kanzlerin. Hätten Sie das für möglich gehalten?" Am Sonntag vor einer Woche schließlich setzte er in der ARD-Sendung "Anne Will" zur bislang schärfsten Attacke an und belehrte den Studiogast Günther Beckstein (CSU): "Ich will Sie mal aufklären. Sie haben eine Jungkommunistin, eine überzeugte Jungkommunistin zur Kanzlerin gewählt. Ist Ihnen das überhaupt klar?"

Der "Skandal-Auftritt" ("Bild") sorgte für einen Eklat und soll sogar ein Nachspiel im Rundfunkrat haben. Jenseits solcher Aufgeregtheiten stellen sich zwei Fragen. Zum einen die nach der politischen Rolle von Merkel in der DDR. Und zum anderen die nach der moralischen Legitimation ihres Scharfrichters Lafontaine, der dank der Gnade des Geburtsortes in Freiheit aufwuchs.

Merkels DDR-Vergangenheit


Angela Merkel, Jahrgang 1954, ist einem Elternhaus groß geworden, das nicht gerade als systemfern galt. Ihr Vater Horst Kasner siedelte wenige Wochen nach der Geburt seiner Tochter von Hamburg in die DDR über. Ganz ohne Sympathie für das sozialistische Experiment im anderen Teil Deutschlands dürfte dieser Schritt kaum erfolgt sein.

Als Templiner Gemeindepfarrer gehörte Kasner dem Weißenseer Arbeitskreis an. Auffällig viele Mitglieder dieser theologischen Bruderschaft, die der SED näher stand als der Blockpartei CDU, dienten der Stasi als willfährige Spitzel. Zu Merkels Vater, der eine Schlüsselstellung in der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg hatte und dem der Spitzname "roter Kasner" angehängt wurde, hat die Birthler-Behörde jedoch keine belastenden Unterlagen gefunden. Selbst wenn das der Fall wäre, würde es sich in einem Rechtsstaat verbieten, eine Familienangehörige in Sippenhaft zu nehmen.


Die heutige Kanzlerin ließ sich in der Kirche konfirmieren. Eine solche Absage an die staatlich propagierte Jugendweihe konnte mit Nachteilen für den weiteren Lebensweg verbunden sein. Nicht so bei der Pfarrerstochter, die vielleicht auch dank des einflussreichen Vaters Karriere machte. Sie studierte an der Karl-Marx-Universität in Leipzig Physik, erhielt anschließend in Berlin-Adlershof an der Akademie der Wissenschaften eine Stelle und promovierte dort. In diese Phase fällt auch ihre von Lafontaine kritisierte Tätigkeit für die FDJ. Merkel selbst betont, sie sei an ihrem Institut lediglich "Kulturbeauftragte" gewesen. Bislang sind keine Dokumente aufgetaucht, die belegen würden, dass sich die junge Forscherin als glühende Propagandistin für die sozialistische Gesellschaftsordnung engagiert hatte. Zwar war Merkel keine Dissidentin, aber anders als viele ihrer Kollegen hatte sie auch kein SED-Parteibuch.


Blind auf einem Auge

Deshalb überrascht der strenge Maßstab, den der Westdeutsche Lafontaine an die Ostdeutsche anlegt. In den eigenen Reihen urteilt er milder und stellt sich beispielsweise demonstrativ hinter seinen Co-Fraktionschef Gregor Gysi, obwohl Dokumente nahelegen, dass dieser als DDR-Anwalt seine Mandanten verraten hat. Gysi bestreitet das. Zu Hans Modrows jüngst veröffentlichtem Memoirenband "In historischer Mission" steuerte Lafontaine ein Vorwort bei, obwohl der Ehrenvorsitzende der Partei als langjähriger SED-Bezirkschef von Dresden dem inneren DDR-Führungszirkel angehörte und Anfang der Neunziger wegen Anstiftung zur Wahlfälschung vor Gericht zur Verantwortung gezogen wurde. Seinem Fraktionskollegen Diether Dehm, der als Frankfurter Kulturmanager nicht nur den aus der DDR ausgewiesenen Liedermacher Wolf Biermann an den Ost-Berliner Geheimdienst verraten hatte, erspart der Linken-Chef ebenfalls öffentliche Vorhaltungen.

Dass Lafontaine, Jahrgang 1943, ganz offenkundig auf einem Auge blind ist, hat vermutlich nicht zuletzt mit seiner eigenen Biografie zu tun. Sie ist durch eine übergroße Nähe zum SED-Regime gekennzeichnet. Schon in jungen Jahren ließ er gebotene Distanz vermissen. 1968 schickte Ost-Berlin rund 2000 Reisekader in die Bundesrepublik, um dort Kontakte zu "progressiven Kräften" zu knüpfen. Im März und Oktober klingelten auch bei Lafontaine zwei Funktionäre. Sie kamen aus Cottbus und waren begeistert. "Steht sehr links", meldeten sie dem Zentralkomitee. Der Jungsozialist und Student der Physik wünsche die "Zusendung der Bände Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und Marx/Engels Gesamtausgabe" und habe vernünftige Ansichten, etwa zur Niederschlagung des Prager Frühlings: "Er brachte zum Ausdruck, dass er für das Eingreifen der verbündeten sozialistischen Länder Verständnis habe."

Diese Überlieferung findet sich im schriftlichen Nachlass der SED. Dort stößt man auch auf eine bezeichnende Episode, die sich im August 1981 ereignete. Da war Lafontaine schon Oberbürgermeister von Saarbrücken und empfing einen DDR-Diplomaten. Ihm erklärte er unvermittelt, dass Erich Honecker im Falle eines bald zu erwartenden Besuchs der Bundesrepublik doch bestimmt auch in seine saarländische Heimat reisen werde. Sollte es dazu kommen, wäre es für ihn nicht ratsam, mit dem Ministerpräsidenten Werner Zeyer zusammenzutreffen. Denn der Christdemokrat sei ein Antikommunist durch und durch. Zugleich äußerte Lafontaine den Wunsch, selbst einmal den SED-Generalsekretär zu treffen. Die Bitte wurde prompt erfüllt, im März 1982 kam es zum ersten Gipfeltreffen. Es war der Beginn einer wunderbaren politischen Freundschaft.

Sonderbeziehungen zwischen Saarbrücken und Ost-Berlin


Als Lafontaine 1984 zum saarländischen Regierungschef aufstieg, legte sich Honecker mächtig für ihn ins Zeug. Auf seine Initiative hin steigerte die DDR ihre Importe aus dem Saarland bereits im Jahr 1985 um satte 165 Prozent auf 134,7 Millionen Mark. Ost-Berlin kaufte Steinkohle, Stahlprodukte, Konsumgüter und 10.000 Autos des Typs Ford Escort aus dem Werk in Saarlouis. Für das krisengeschüttelte Bundesland im Südwesten war das ein Segen und Lafontaine zeigte sich seinerseits erkenntlich. Als erster Ministerpräsident stellte er 1985 die Zahlungen seines Landes für die Erfassungsstelle Salzgitter ein, die Menschenrechtsverletzungen in der DDR systematisch dokumentierte. Im selben Jahr forderte er die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, woraufhin er von der Bonner SPD-Führung in die Schranken gewiesen wurde.


Den Sonderbeziehungen zwischen Saarbrücken und Ost-Berlin nahmen dadurch keinen Schaden. Erstaunt stellte die "Zeit" fest, die DDR gehe mit dem Saarland so um, als sei es nicht Teil der Bundesrepublik, sondern ein selbstständiger Staat. Von 1982 bis 1989 empfing Honecker gleich neunmal Lafontaine. Einzig Herbert Mies, Chef der von der SED alimentierten DKP, wurden geringfügig mehr Audienzen gewährt.

Über Lafontaines DDR-Besuche führte die Stasi fleißig Buch. Dazu hat die Birthler-Behörde mit Einwilligung des Politikers nun 227 Seiten freigegeben. Die Unterlagen zeigen, dass der SPD-Hoffnungsträger überaus zuvorkommend behandelt und ihm ein besonderes Privileg zuteil wurde. "Keine Befragung der Persönlichkeit und ihrer Begleitung nach Waffen und genehmigungspflichtigen Gegenständen", notierte der Stasi-Oberst Redel am 10. August 1987 zum Umgang mit Lafontaine bei der Ein- und Ausreise.

In die Fußstapfen des letzten DDR-Diktators


Wenige Tage darauf überraschte Lafontaine die Öffentlichkeit, als er auf gleich sieben "Spiegel"-Seiten Honecker zum 75. Geburtstag gratulierte. Der SED-Chef wird in der Eloge als fröhlicher, aufrichtiger, verlässlicher und prinzipienfester Mensch vorgestellt, der viel für die Bürger seines Landes erreicht habe und dem deshalb aller Respekt gebühre - auch und gerade vom "antikommunistisch voreingenommenen Publikum" in der Bundesrepublik. Nie zuvor ist der Ostberliner Machthaber von einem deutschen Sozialdemokraten derart gewürdigt worden.

Lafontaine galt lange als politischer Enkel von Willy Brandt. Der linke Berliner Sozialdemokrat Harry Ristock bezeichnete ihn im März 1987, ausgerechnet im Gespräch mit einem hohen SED-Funktionär, sogar als "Doppel-Enkel" - als Enkel von Brandt und Honecker gleichermaßen. Brandt allerdings hat sich später von Lafontaine distanziert und diesem drei Monate vor seinem Tod im Oktober 1992 bei einem Treffen mit Kanzler Helmut Kohl Versagen nach der friedlichen Revolution in Ostdeutschland vorgworfen.

Brandt brach mit Lafontaine also lange bevor dieser mit der Sozialdemokratie brach. Den Saarländer als legitimen Enkel des Saarländers Honecker zu sehen, hat hingegen nach wie vor eine gewisse Plausibilität. Als Chef der Linken, einer Partei mit SED-Vergangenheit, ist er sozusagen in die Fußstapfen des letzten DDR-Diktators getreten. Auch ohne jemals wie Angela Merkel das "FDJ-Hemdchen" getragen zu haben.