Flucht und sexualisierte Gewalt Wenn Kinder statt Schutz nur Leid finden
09.04.2022, 07:57 Uhr
Ukrainische Geflüchtete steigen an einer Unterkunft in Niedersachsen aus einem Bus.
(Foto: Philipp Schulze/dpa)
Wenn Schutz ausgenutzt wird: Auf ukrainische Kinder lauern im deutschen Asylsystem Gefahren, denn das Tabu-Thema der sexualisierten Gewalt an Jungen und Mädchen wird noch immer zu klein gedacht. Die Folgen für die Kinder sind verheerend.
Düsseldorf, 6. März. Eine 18-jährige Geflüchtete aus dem Krieg in der Ukraine wird auf einem Hotelschiff, das derzeit Asylsuchende beherbergt, von zwei Männern, ebenfalls Geflüchtete, mutmaßlich vergewaltigt. Im selben Zeitraum nimmt ein 43 Jahre alter Mann aus Herne in Nordrhein-Westfalen eine 25-jährige Ukrainerin und ihren Sohn bei sich auf. Er soll daraufhin die Frau vergewaltigt haben und sitzt nun in Untersuchungshaft.
Dies sind nur zwei der zuletzt bekannt gewordenen sexualisierten Taten gegenüber Schutzsuchenden in Deutschland. Sexualisierte Gewalt an Kindern, die in den unterschiedlichsten Formen auftritt und unvorstellbares Leid hervorruft, schafft es nur in den seltensten Fällen an die Oberfläche. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar wurden von der Bundespolizei bisher mehr als 315.000 Geflüchtete aus der Ukraine erfasst. Die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder. Täglich kommen rund 3000 Schutzsuchende hinzu, da Ukrainerinnen und Ukrainer visumsfrei einreisen können, dürften die Zahlen tatsächlich höher liegen.
Asylsuchende gehören in Deutschland zu einer der schwächsten Minderheiten. Die Kinder darunter sind besonders gefährdet, Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden. Laut Europarat ist eines von fünf Kindern in Europa im Laufe der Kindheit von sexualisierter Gewalt betroffen, die in rund 80 Prozent der Fälle von einer Vertrauensperson des Kindes ausgeübt wird - etwa in der Familie, der Schule oder im Verein. Die Studie der Kinderhilfsorganisation World Vision Deutschland e.V. "Sexualisierte Gewalt gegen Kinder im Fluchtkontext" vom März kommt zu dem Schluss, dass im Krisen-, Konflikt- oder Fluchtkontext die Betroffenheit von sexualisierter Gewalt noch weitaus höher liegt.
"In Deutschland ist null Sensibilität da" Kindesmisshandlung: Was kann man tun? Bei einem Verdacht auf Kindesmisshandlung können Sie sich an folgende Stellen wenden:
- Kinderschutzbund
- Familien- und Erziehungsberatungsstellen
- Jugendamt
- Polizei
Wichtige Telefonnummern:
- Elterntelefon "Nummer gegen Kummer": 0800 1110550
- Kinder- und Jugendtelefon: 116111
- Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen": 08000 116016
- Telefon Seelsorge: 116123
Bei einem Verdacht auf Kindesmisshandlung können Sie sich an folgende Stellen wenden:
- Kinderschutzbund
- Familien- und Erziehungsberatungsstellen
- Jugendamt
- Polizei
Wichtige Telefonnummern:
- Elterntelefon "Nummer gegen Kummer": 0800 1110550
- Kinder- und Jugendtelefon: 116111
- Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen": 08000 116016
- Telefon Seelsorge: 116123
Zwar wurde die Studie vor dem Ukraine-Krieg angelegt und untersuchte vor allem Mädchen und Jungen aus Syrien, Afghanistan oder dem Kosovo im deutschen Asylsystem, aber die Forschungsleiterin von World Vision, Caterina Rohde-Abuba, erklärt gegenüber ntv.de, dass die aktuellen Gefahrensituationen in Deutschland die gleichen wären. "Bei geflüchteten Kindern aus der Ukraine müssen wir davon ausgehen, dass mehr als eines von fünf bereits von sexualisierter Gewalt betroffen war oder sein kann", sagt Rohde-Abuba. Und bei Kindern mit Behinderung, von denen viele aus ukrainischen Waisenhäusern und Heimen nach Deutschland kommen, dürfte die Quote noch mal größer sein.
Der Begriff sexualisierte Gewalt bedeute, "dass unterschiedliche Gewaltformen ineinander spielen", sagt die Forschungsleiterin. Er beinhalte verbale, nonverbale, oder körperliche Gewaltausübung gegenüber Mädchen und Jungen mittels sexueller Handlungen oder mit sexualisiertem Inhalt bis hin zur Vergewaltigung, die regelmäßig vorkommt. Kinder könnten etwa gemobbt werden, wenn andere Kinder Nacktfotos von ihnen versenden. Dominanzausübung durch ein sexuelles Mittel: "Auch bei sexualisierter Gewalt von Erwachsenen an Kindern geht es nicht nur um die Triebbefriedigung, sondern es gibt auch Täterinnen und Täter, die wollen Macht ausüben, Grenzen verletzen, oder eine Person dominieren", sagt Rohde-Abuba.
Kurz nach den ersten russischen Angriffen konnte fast überall in Deutschland jede und jeder Geflüchtete aus der Ukraine bei sich aufnehmen - ohne jegliche Überprüfung. Sei es über Online-Vermittlungsportale oder direkt vor Ort am Hauptbahnhof in Berlin. "Die unstrukturierte Verteilung der Ankommenden in Privathaushalte, die nicht kontrolliert werden, ein ganz rotes Tuch für mich", sagt Rohde-Abuba. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder sei solch ein "Tabu-Thema", dass am liebsten niemand darüber reden wolle: "In Deutschland gibt es ganz wenig Bewusstsein dafür, da ist null Sensibilität da. Das sieht man auch jetzt beim Ukraine-Krieg wieder, weil niemand sagt: 'Nein, es können nicht einfach fremde Menschen Frauen mit Kindern mit nach Hause nehmen'."
"Entsetzliches Ausmaß"
Sie verweist auf ihre Studienergebnisse, die sexualisierte Gewalt an geflüchteten Jungen und Mädchen in Privathaushalten offenlegte, weil es dort keine professionellen Sozialarbeiter und oft keine abschließbaren Zimmer gebe. Dieselben Gefahren lauern aber auch in offiziellen Geflüchtetenunterkünften, in denen nun auch ukrainische Familien untergebracht sind. "Die Asylunterkünfte in Deutschland sind extrem unsichere Orte für Kinder", erklärt Rohde-Abuba, "weil Fremde, Ehrenamtliche und Angestellte einfach so ins Zimmer kommen können."
Kinder haben nach der Kinderrechtskonvention der UN ein Recht auf Privatsphäre. Doch die ist in den Unterkünften in Deutschland nur äußerst selten gegeben. Ein weiteres Problem sind geteilte und teilweise ebenfalls nicht abschließbare Sanitäreinrichtungen. Die Studie von World Vision zeigt, dass es sexualisierte Gewalt durch andere Mitreisende, durch Familienmitglieder, aber eben auch durch Ehrenamtliche und professionelle Sozialarbeiter gibt, die oft eine Art Vertrauensperson der Kinder sind.
Wie akut das Thema ist, stellte auch SPD-Bundesinnenministerin Nancy Faeser vergangene Woche fest, als sie die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik des zurückliegenden Jahres präsentierte. 2021 wurden in Deutschland etwa 15.500 Fälle von sexualisierter Gewalt an Kindern gemeldet. Das entspricht einem Anstieg von 6,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Faeser sprach von einem "entsetzlichen Ausmaß". Es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Kinder zu schützen. Eine, die für die Bundesregierung höchste Priorität habe.
Ein realistischer Blick muss her
Doch gerade im Asylkontext, in dem die Kinder besonders schwach und gefährdet sind, weist die Politik erhebliche Mängel auf. Von der mangelhaften Unterbringung über fehlende Prävention bis hin zu einem zu geringen Angebot von therapeutischer Hilfe. Für Rohde-Abuba ist der Weg hinaus den schlimmen Zahlen zweigeteilt: "Man müsste in den Schulen regelmäßig Präventionsangebote für Kinder anbieten, in denen unterschiedlichste Formen von sexualisierter Gewalt erklärt werden." Jedes Kind müsse wissen: Was mir da passiert, ist unrecht. Dazu müsste es Bild- und Videomaterial geben, das sowohl Mädchen als auch Jungen in unterschiedlichen Kontexten abbildet und Kinder unterschiedlicher Hautfarbe.
Der zweite Schritt ist der Blick auf "die Strukturen der Täter und Täterinnen und die Institutionen, die die Taten ermöglichen", sagt Rohde-Abuba. "Dort gibt es viel zu wenig Sensibilität, es herrscht viel zu wenig Vorsicht." Immer wieder gibt es Fälle, die zeigen, dass Täterinnen und Täter sich Berufe und Hobbys suchen, in denen sie allein in einem Raum mit Kindern sein können. Der realistische Blick auf diese Gefahr fällt vielen in Deutschland noch schwer, eben weil es sich um ein Tabu handelt: Um Kinder wirklich abzusichern, müssten die Zahlen aber ernst genommen und daraus Schlüsse gezogen werden, etwa, dass unter den Leuten, die in Schule, Kita oder Sportverein mit Kindern arbeiten, auch potenzielle Täter sind. "Eine Hilfestellung wäre etwa das Vier-Augen-Prinzip, dass es nie zu der Situation kommt, in der eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter allein mit dem Kind ist", rät die World-Vision-Forscherin.
Ein weiteres Versäumnis von Städten und Kommunen: Kommt es zu sexualisierter Gewalt in Unterkünften für Asylsuchende, gibt es meist kein geeignetes Melde- und Beschwerdeverfahren. Ein solches müsste für Kinder extrem niedrigschwellig konzipiert, vielsprachig und nur in ganz geringem Maße schriftbasiert sein. Unterkünfte kennen aber oft nur den klassischen Beschwerde-Briefkasten. Und an NGOs und Hilfsorganisationen heranzutreten, kann ein neu in Deutschland angekommenes Kind aus der Ukraine selten stemmen. Der Weg zur Polizei ist ebenfalls beschwerlich und scham- und angstbehaftet.
Psychologische Belastungen, körperliche Verletzungen
Betroffene oder Menschen, die einen Missbrauch vermuten, können sich kostenfrei und anonym an das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch wenden: 0800-22 55 530. Weitere Infos zu Beratungs- und Hilfeangeboten vor Ort gibt es unter: www.hilfeportal-missbrauch.de
Sexualisierte Gewalt bringt langanhaltende psychologische Belastungen mit sich, führt zu Schlafstörungen, Depressionen oder körperliche Störungen wie Essproblemen. Sexualisierte Gewalt führt aber auch zu körperlichen Verletzungen. Speziell Jungen, die anal vergewaltigt wurden, haben oft große Hemmungen, sich zu offenbaren. Aber auch die Hilfsangebote kommen ihnen nicht entgegen. "Die Jungen leiden dann ewig unter den Folgen der Analvergewaltigung und bekommen keine medizinische Behandlung dafür", erzählt Rohde-Abuba von Studienergebnissen, "obwohl die Verletzungen sehr schmerzhaft sind, zu Stuhlinkontinenz führen können und teilweise operiert werden müssen."
Wenn Innenministerin Faeser sagt, der Schutz der Jungen und Mädchen habe für die Bundesregierung höchste Priorität, kratzen sich viele Kinderhilfsorganisationen am Kopf. "Im Asylkontext fällt der Schutz von Kindern und der Schutz vor sexualisierter Gewalt im Speziellen immer hinten runter", kritisiert Forschungsleiterin Rohde-Abuba von World Vision. "Das wird als ein Add-On angesehen, als ein Zusatz. Das ist es aber nicht, weil es in allen Situationen der Flucht zu sexualisierter Gewalt kommen kann, sei es in der Kleiderkammer oder bei der Nahrungsversorgung."
Quelle: ntv.de