Ich darf Sie ganz herzlich begrüßen zu einer ganz besonderen Geburtstagsfeier, hier an diesem ganz besonderen Ort! Hier, im Herzen Berlins, nah am Reichstag. Ein Ort, der wie kaum ein anderer für die wechselvolle Geschichte unseres Landes steht, der aber vor allem auch Demokratiegeschichte geschrieben hat.
Hier, an diesem Ort, hat Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die erste deutsche Republik ausgerufen. Hier, an diesem Ort, hat Ernst Reuter im September 1948 seinen flammenden Appell an die Welt und an die Bürger Berlins gerichtet. Hier, an diesem Ort, hat 1990 zum ersten Mal das gesamtdeutsche Parlament getagt. Und genau hier, im Herzen Berlins, feiern wir heute in diesem Staatsakt den Neubeginn unserer Demokratie vor 75 Jahren. Schön, dass Sie gekommen sind. Herzlich willkommen!
Wir danken denen, die uns das Fundament einer neuen freiheitlichen und demokratischen Ordnung gegeben haben. Und wir danken denen, die vor 35 Jahren die Diktatur niedergerungen und die Demokratie in ganz Deutschland möglich gemacht haben. Grundgesetz und Friedliche Revolution, was ist das für ein Glück, das wir da in unseren Händen halten! Ich hoffe, wir machen uns das immer wieder bewusst.
Genau heute vor 75 Jahren ist das Grundgesetz verkündet worden. Dieses Grundgesetz war nie für die Ewigkeit geschaffen und hat doch überdauert, hat uns getragen durch die Zeit. Auch nach einem Dreivierteljahrhundert ist es nicht alt, erst recht nicht veraltet, wenn es auch inzwischen eine der ältesten Verfassungen der Welt und zum Vorbild für viele andere Verfassungen geworden ist.
Ein Provisorium sollte es sein. Aber was für eins war es dann! Ein Meisterwerk war, was da in zwei Wochen zunächst als Expertenentwurf auf Herrenchiemsee und dann in wenigen Monaten im Parlamentarischen Rat leidenschaftlich diskutiert, errungen, auf den Weg gebracht worden ist: 12.500 Worte. Bestechend klar, nüchtern oft und doch so elegant: 12.500 Worte in 146 Artikeln, mehr brauchten sie nicht, die vier Frauen und 61 Männer, um das Fundament der zweiten deutschen Demokratie festzuschreiben – offen gehalten für die, die im Osten durch die sowjetische Besatzungsmacht gehindert waren, den Weg zur Demokratie zu gehen. Ich bin fest davon überzeugt: Diese Verfassung gehört zum Besten, was Deutschland hervorgebracht hat.
Eigentlich ein Wunder, wenn wir uns klarmachen, unter welchen Bedingungen das großartige Werk entstanden ist. Nach der Barbarei des Nationalsozialismus war unser Land zerstört und moralisch zerrüttet. Die Städte verwüstet, unzählige Menschen heimat- und obdachlos, Millionen aus dem Osten geflüchtet und vertrieben, Millionen noch in Kriegsgefangenschaft.
Was für einen Staat sollte man eigentlich in einer solchen Situation entwerfen? Und was hat die Menschen, die mit dieser Aufgabe betraut waren, bewegt? Die Frauen und Männer des Parlamentarischen Rats waren geprägt von Diktatur, Krieg und Völkermord. Sie zogen die Lehren aus der Geschichte der Weimarer Demokratie. Sie einte eine Erfahrung: Im Namen des Staates waren die schlimmsten Verbrechen begangen worden. Die Gefolterten von Dachau und Buchenwald, die Ermordeten von Auschwitz, die Gefallenen von Stalingrad, die Millionen Toten in ganz Europa, sie sollten nicht vergessen werden in diesem neuen Deutschland. Nie wieder sollte ein Staat für solche Verbrechen missbraucht werden. Der Staat sollte für die Menschen da sein, nicht umgekehrt. Nie wieder! Das ist das Vermächtnis, von dem wir uns auch heute leiten lassen müssen.
Und gerade in diesen Zeiten war dieses Grundgesetz ein Aufbruch in eine hellere Zukunft. Sein Kern ist die Freiheitsverheißung, festgeschrieben in neunzehn Grundrechten, verbindlich und einklagbar. Über allem steht ein Fixstern: jener große, fulminante Satz in Artikel 1, in dem die Erfahrungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ebenso wie die Erwartungen an die zukünftige Republik in einzigartiger Weise sich bündeln. Der Satz, den wir gerade von Margot Friedländer gehört haben: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Dieser Satz hat nichts von seiner Bedeutung eingebüßt, nichts von seiner Wucht verloren. Er ist kategorischer Imperativ unserer Verfassungsordnung, er ist moralische Selbstverpflichtung zugleich.
Das Grundgesetz garantiert Freiheit, und es erwartet Verantwortung. Das ist das Verständnis, das den Verfassungstext durchzieht. Es schafft ein stabiles Gebäude, in dem die Menschen sich zunehmend zu Hause und aufgehoben fühlen konnten, in dem die Gesellschaft sich entwickeln und erneuern konnte. Es ist das Modell für das friedliche Zusammenleben in einer Gesellschaft der Verschiedenen – geschichtsbewusst, ja, aber auch zukunftsoffen.
In Bewunderung und in Dankbarkeit schauen wir auf die Arbeit der Mütter und Väter des Grundgesetzes. Was sie vor 75 Jahren auf den Weg gebracht haben, ist ein großartiges Geschenk. Ein Geschenk, das nicht nur Erinnerung bleiben darf, sondern das wir im Alltag der Republik, im Alltag der Demokratie pflegen, bewahren und verteidigen müssen. Ich bin fest davon überzeugt: Diese Verfassung ist es wert, dass wir sie schützen – und dass wir sie feiern, wie heute!
Das Grundgesetz wird 75 Jahre alt, aber es ist ein doppeltes Jubiläum, das wir feiern in diesem Jahr: 1949 und 1989. 75 Jahre Grundgesetz. 35 Jahre Friedliche Revolution und Mauerfall. Es mag ein historischer Zufall sein, dass diese beiden Jubiläen zusammenfallen. Aber eine glückliche Fügung ist es doch.
Schon die Präambel des Grundgesetzes wendet sich an „das gesamte Deutsche Volk“. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes ahnten bereits, dass ein vereintes Deutschland noch in weiter Ferne lag. Umso mehr berührt uns die Hoffnung, die aus dieser ersten Präambel sprach. Es sollte vierzig Jahre dauern, bis sich das Freiheitsversprechen des Grundgesetzes für alle Deutschen erfüllen konnte, vierzig Jahre, in denen viele Frauen und Männer in der DDR von den Freiheitsrechten träumten, wie sie das Grundgesetz garantiert. Genau für diese Freiheiten sind sie aufgestanden im Jahr 1953 und dann zu Hunderttausenden im Jahr 1989. Ihnen und ihrem Mut verdanken wir, dass unser seit Jahrzehnten geteiltes, zerrissenes Land wieder eins werden konnte.
Ein Geschenk der zweiten Chance hat es der große Historiker Fritz Stern genannt. Freiheit und Einheit, errungen durch den Mut der Bürgerinnen und Bürger in der damaligen DDR. Wir verneigen uns vor ihrem Mut!
Nicht alles, aber so vieles ist uns seitdem gemeinsam gelungen. Deshalb schmerzt es mich, wenn manche im Osten mich fragen: Was hat dieses Grundgesetz-Jubiläum eigentlich mit mir zu tun? Aber es stört mich genauso, dass manche im Westen immer noch nicht wahrhaben wollen, dass sich unser ganzes Land verändert hat seit 1989. Daher ist die Frage, ob Deutsche in West und Ost unser Grundgesetz als gemeinsames Fundament betrachten können, keine Nebensache.
In dieses Fundament ist doch so viel Gemeinsames eingegangen und eingetragen worden. Unsere Vorstellungen von Demokratie heute haben ihre Wurzeln in einer deutschen Demokratiegeschichte, die weiter zurückreicht als 1949, auch weiter als bis zur Weimarer Republik. Diese Wurzeln reichen zurück bis zu den Kämpfen für Freiheit und Demokratie im Vormärz und in der Paulskirche. Das ist die freiheitliche Tradition, aus der sich unser Grundgesetz speist. Das ist unser gemeinsames Fundament.
Fast dreieinhalb Jahrzehnte hat sich unser Grundgesetz bewährt in unserem wiedervereinten Land. Wir sind zusammengewachsen zu einem Land, das heute viel mehr ist als die Summe zweier Teile, einem Land, das sich hin zu etwas Neuem verändert hat. Das Grundgesetz hat dafür immer wieder den Weg geebnet. Es ist eine Verfassung der Freiheit, um die uns weltweit so viele Länder beneiden.
1949. 1989. Es sind die beiden entscheidenden Wegmarken in der Geschichte unserer Republik. Das Grundgesetz und die Friedliche Revolution, sie haben die zweite deutsche Demokratie, sie haben uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Wir feiern zusammen, weil wir zusammengehören!
Aber wenn wir ehrlich sind: An einem Feiertag wie heute mischt sich in den Stolz auch Unbehagen. Manche fragen: Was bleibt von den großen Versprechen des Grundgesetzes? Wenn die Menschenwürde garantiert ist – und sich trotzdem viele Menschen feindlich und immer unversöhnlicher gegenüberstehen? Wenn Antisemitismus weiter zunimmt, der Hass auf Andersdenkende alltäglich wird? Wie passt es mit unserem Grundgesetz zusammen, wenn Journalistinnen und Journalisten bedroht und angegriffen werden, wenn Fake News die sozialen Medien fluten und die Räume für Debatten immer enger werden? Und wie passt das, wenn trotz Gleichberechtigung und Diskriminierungsverbot Frauen im Netz auf übelste Weise an den Pranger gestellt werden, weil sie Frauen sind?
Ja, die Spannung zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit ist nicht zu übersehen. Aber folgen muss daraus nicht ein kritischer Blick auf unsere Verfassung, sondern auf die Wirklichkeit! Denn das Grundgesetz ist keine Bilanz, sondern ein Auftrag. Es ist nicht das Ziel, sondern Kompass. Unser Grundgesetz sagt nicht, was wir sind. Es zeigt uns, was wir sein können. Darin steckt eine Aufforderung für uns, für unsere Zukunft. Das verlangt Mut, Tatkraft und den offenen Blick für die Realität.
Wir müssen erkennen, dass sich diese Realität radikal verändert hat. Nach Jahrzehnten von mehr Wohlstand, mehr Demokratie, mehr Europa, mehr Frieden, dem Glück der Deutschen Einheit erleben wir einen epochalen Bruch. Mit Russlands brutalem Angriff auf die Ukraine ist der Krieg zurückgekehrt nach Europa, ein zynischer Angriffskrieg, der uns in eine Unsicherheit gestürzt hat, die wir doch überwunden glaubten.
Das verändert nicht nur die Prioritäten der Politik. Das berührt auch den Alltag der Menschen. Manche Gewissheiten, die unser Leben geprägt haben, sind weniger geworden. Wir leben in einer neuen Unübersichtlichkeit. Pandemie, Inflation, Wirtschaftskrise, die Folgen des Klimawandels, der Terror der Hamas, der Krieg im Nahen Osten und die humanitäre Katastrophe dort – eine Krise folgt auf die nächste. Sie alle hören vermutlich häufiger, dass Nachbarn oder Freunde sagen: "Ich schaue mir keine Nachrichten mehr an." Menschlich mag das verständlich sein. Aber ein Rückzug von der Wirklichkeit ist keine Lösung.
Für mich steht fest: Wir leben in einer Zeit der Bewährung. Es kommen raue, härtere Jahre auf uns zu. Die Antwort darauf können und dürfen nicht Kleinmut oder Selbstzweifel sein. Es wäre ganz falsch, den Kopf in den Sand zu stecken oder von einer bequemeren Vergangenheit zu träumen. Falsch ist es nach meiner festen Überzeugung auch, täglich den Untergang unseres Landes zu beschwören. All das lähmt, das bringt uns nicht weiter. Wir müssen uns jetzt behaupten – mit Realismus, mit Ehrgeiz. Das ist die Aufgabe unserer Zeit. Selbstbehauptung ist die Aufgabe unserer Zeit!
Und Selbstbehauptung beginnt mit dem klaren Blick auf das, was zu tun ist. Wir müssen die Werte verteidigen, die uns im Kern ausmachen. Die dürfen nicht zur Disposition stehen. Aber wir müssen unsere Ziele schärfen und anpassen an die neuen Herausforderungen. Und vor allem müssen wir offen reden über die Größe der Aufgabe und die Verantwortung, die für uns daraus erwächst, für die Politik, aber auch für jeden Einzelnen von uns.
Klar ist: Die Bedrohung, die von Russland auch für uns ausgeht, wird nicht einfach verschwinden. Niemand weiß das besser als die Ukraine: Wer die Freiheit liebt, darf vor dem Aggressor nicht weichen. Das gilt auch für uns. Und niemand weiß, wann Putins Machthunger gestillt ist.
Für mich ist zwingend: Wir müssen mehr tun für unsere Sicherheit. Wir müssen in unsere Verteidigung investieren, wir müssen unser Bündnis stärken. Und wir brauchen dafür die finanziellen Mittel. Aber vergessen wir nicht, was es dafür ebenso braucht: eine starke Gesellschaft. Eine starke Gesellschaft, die um den Wert der Freiheit weiß, die bereit ist, Bedrohungen der Freiheit entgegenzutreten, und die Zusammenhalt beweist. Zusammenhalt heißt nicht, dass alle einer Meinung sind. Zusammenhalt heißt, zu wissen, dass wir einander brauchen, auch wenn wir unterschiedlich sind. Dieses Wissen entsteht aus Erfahrung, aus Begegnung – und die müssen wir stärken.
Militärische Sicherheit und gesellschaftliche Widerstandskraft, beides gehört zusammen. Deshalb sollten wir die Debatte über Formen des Wehrdienstes und anderer Dienste für unser Gemeinwesen nicht scheuen, sondern führen und zusammenführen.
Mehr Investitionen in Sicherheit in wirtschaftlich schwierigen Zeiten: Kann unser Land solch eine Kraftanstrengung meistern, zusätzlich zu den riesigen Aufgaben, die Klimawandel, soziale Sicherung und Wirtschaftskrise uns stellen? Kann unsere Gesellschaft die Konflikte bewältigen, die daraus entstehen?
Hier wartet, glaube ich, eine der nächsten größeren Aufgaben in den kommenden Jahren auf uns. Wir müssen uns darauf einrichten: Wir werden in den nächsten Jahren nicht weniger Streit haben, eher mehr. Der Kampf um finanzielle Ressourcen wird härter werden und damit auch der Streit über das, was uns wichtig ist.
Und gerade jetzt, wo wir unsere Demokratie dringend brauchen, weil sie allein Streit friedlich beilegen kann, weil sie offen ist für Kompromiss und Veränderungen, gerade jetzt ist unsere Demokratie selbst unter Druck geraten. Gerade jetzt erstarken auch bei uns Kräfte, die sie schwächen und aushöhlen wollen, die ihre Institutionen verachten, ihre Repräsentanten beschimpfen und verunglimpfen. Ja, unsere Demokratie ist geglückt. Auf ewig garantiert ist sie nicht. Schützen werden sie nicht andere. Schützen müssen wir sie selbst. Auf uns und jeden von uns kommt es an!
Selbstbehauptung ist die Aufgabe unserer Zeit. Aber behaupten werden wir uns nur als starke Demokratie. Und genau deshalb brauchen wir jetzt Bürgerinnen und Bürger, die dem Gemeinwesen nicht gleichgültig gegenüberstehen. Die ihre Meinung sagen, ihre Sorgen äußern; aber die unterscheiden können zwischen berechtigter Kritik und dem Generalangriff auf unser politisches System. Und genau deshalb geht es jetzt auch darum, die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes zu erreichen und zu überzeugen, die keine Extremisten sind, die aber mit der Politik, mit unserer Gesellschaft, gelegentlich auch mit der Demokratie hadern.
Es ist doch seltsam: Wir alle reden, chatten, posten, mailen immer mehr, auf allen Kanälen, Tag und Nacht. Und dennoch haben immer mehr Menschen den Eindruck, dass sie nicht gehört und nicht verstanden werden.
Und nicht erst seit gestern muss sich die Politik eingestehen, dass es ihr häufig nicht gelingt, genügend verständlich zu machen, was sie tut und warum sie es tut. Warum auch manchmal Ambivalenzen bleiben und bleiben müssen. Warum wir zu Israels Recht auf Selbstverteidigung stehen und gleichwohl für den humanitären Schutz der Menschen in Gaza und ihre Versorgung eintreten. Und warum beides richtig ist. Warum wir im Kampf gegen den Klimawandel nicht nachlassen dürfen. Und warum Europa, warum die Europäische Union für uns so unendlich wichtig ist.
Die Politik muss auch die Fragen beantworten, die sich viele Menschen in unserem Land stellen. Warum verlassen manche Kinder unsere Grundschulen, ohne lesen und schreiben zu können? Warum sind Brücken marode, warum ziehen sich Genehmigungsverfahren so lange hin? Ist es nicht möglich, eine humanitäre Flüchtlingspolitik zu bewahren, ohne uns zu überfordern? Wie können wir friedlich zusammenleben in einem Land, das vielfältiger ist als 1949 und auch vielfältiger als 1989?
Keine dieser Fragen ist neu. Und es sind nicht Extremisten, die sie stellen. Sie kommen oft aus der Mitte der Gesellschaft. Wir sollten tun, was wir können, um überzeugende Antworten zu finden, auch um der wachsenden Entfremdung zwischen Politik und Gesellschaft den Boden zu entziehen. Denn in einer zunehmend polarisierten Gesellschaft, in der nur noch "die da unten" von "denen da oben" reden, schwindet das Vertrauen in demokratische Institutionen. Aber für eine stabile und starke Demokratie brauchen wir beides: funktionierende politische Institutionen und Bürgerinnen und Bürger, die sie – die Demokratie – zu ihrer Sache machen.
Die nächsten Jahre werden uns allen, aber insbesondere den politisch Verantwortlichen viel abverlangen. Wir brauchen Politiker, die beharrlich an Lösungen arbeiten, leidenschaftlich für die Sache, dem Ernst der Lage angemessen. Wir brauchen das Ringen der politischen Parteien um bestmögliche Lösungen. Wir bewahren uns hoffentlich etwas, was uns stark gemacht hat: die Fähigkeit aller demokratischen Parteien zur Zusammenarbeit dort, wo das gemeinsame Ganze berührt oder sogar bedroht ist. Die Gemeinsamkeit der Demokraten – sie ist gefragt, wenn die Demokratie angefochten ist.
In wenigen Tagen werde ich beim Gedenken für Walter Lübcke sprechen. Vor fünf Jahren wurde er, der langjährige Politiker, zuletzt Regierungspräsident von Kassel, regelrecht hingerichtet, weil er für eine offene, tolerante Gesellschaft stand. Sein Tod – wie die Taten von Solingen, Hanau, Halle, die Ermordeten des NSU – ist uns eine Mahnung und Warnung zugleich, wie aus Hass Gewalt werden kann.
Zuletzt fast täglich erreichen uns Nachrichten von tätlichen Angriffen auf Mandatsträger und politisch Engagierte. Ich muss gestehen: Ich bin zutiefst besorgt über die Verrohung der politischen Umgangsformen in unserem Land.
Demokratie braucht den Wettbewerb, braucht auch den Streit. Sie verträgt Zuspitzung und härteste Auseinandersetzung. Aber eines sollten doch gerade wir wissen: Gewalt zerstört Demokratie. Sie sät Angst. Sie sät Misstrauen. Sie entmutigt. Sie lässt die Menschen verstummen, die eine Demokratie braucht. Wer Angst um sich und um seine Familie haben muss, der bewirbt sich nicht um politische Verantwortung.
Getroffen habe ich auch viele, die aufgegeben haben, die Beschimpfung und Verunglimpfung nicht länger ertragen haben. Unsere Demokratie – gerade in den Städten und Gemeinden – braucht aber Menschen, die Verantwortung übernehmen, die ihren Ort liebens- und lebenswert halten. Fehlen die, dann verdorrt unsere Demokratie an ihren Wurzeln, dann trocknet sie von unten aus. Auch deshalb dürfen wir der Gewalt in der Demokratie keinen Raum lassen.
Es ist Sache des Staates und seiner Institutionen, dafür zu sorgen, dass Täter mit aller Härte des Gesetzes zur Rechenschaft gezogen werden. Aber wir alle tragen Verantwortung für eine politische Kultur, die demokratieverträglich ist. Und das bedeutet, dass wir auch allem entschieden entgegentreten, was der Gewalt vorausgeht, was Gewalt vorbereitet: der Menschenverachtung, der Hetze gegen Minderheiten, dem Hass. All das hat in einer Demokratie nichts zu suchen.
Niemals dürfen wir uns an Gewalt im politischen Meinungskampf gewöhnen. Wir müssen sie ächten! Ächten mit aller Entschiedenheit!
Wie Gewalt eine Demokratie untergräbt, ihr Fundament einreißt, wer wusste das besser als die Mütter und Väter des Grundgesetzes. Es war ein schmerzliches Wissen. Sie hatten erlebt, wie Deutschland in der Barbarei versank. Sie hatten erlebt, wie die Deutschen ihre erste Demokratie zugrunde richteten. Wie eine Demokratie von innen heraus sterben kann, wenn sie nicht die Mehrheit ihrer Bürgerinnen und Bürger hinter sich weiß, wenn sich diese Mehrheit nicht zu ihr bekennt. Wie die Feinde der Demokratie diese zerstören können – mit den Mitteln der Demokratie.
Diese Erfahrungen bündeln sich in der unvergessenen Mahnung von Carlo Schmid, Mut zur Intoleranz gegenüber denen zu zeigen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen
. Dieser Satz ist nicht Geschichte. Er ist eine Aufforderung an uns!
Heute, im fünfundsiebzigsten Jahr des Grundgesetzes, sind wir gefragt, die Errungenschaften von Freiheit und Demokratie zu verteidigen. Und das ist eine Frage von Haltung.
Wenn in den letzten Monaten Hunderttausende überall im Land auf die Straße gegangen sind – Jung und Alt, Menschen aus der Stadt und vom Land, Menschen mit ganz unterschiedlichen politischen Überzeugungen –, wenn sie alle auf die Straße gegangen sind, um für ein friedliches Zusammenleben zu demonstrieren; wenn Unternehmer und Betriebsräte gemeinsam eine klare Grenze ziehen gegen Menschenfeindlichkeit und völkischen Wahn, dann hat mir das Mut gemacht. Ich habe mich auch gefreut über einen Aufruf aller Ministerpräsidenten für einen "Sommer der Demokratie" – ein Beitrag zum Jubiläum des Grundgesetzes, der seit gestern schon große und breite Unterstützung findet.
Sie alle haben gezeigt: Unsere Demokratie ist wehrhaft. Wer heute unsere liberale Demokratie bekämpft, muss wissen, dass er es dieses Mal mit einer kämpferischen Demokratie und mit kämpferischen Demokratinnen und Demokraten zu tun hat.
Ich danke allen, die genau diese Haltung zeigen. Und ich danke allen, die jetzt in großer Zahl bereit sind, sich genau dafür in die Pflicht nehmen zu lassen. Was wir jetzt brauchen, sind Bürgerinnen und Bürger, die nicht sagen: Was kümmert mich das? Sondern die sagen: Ich kümmere mich. Und davon gibt es viele Millionen in unserem Land: Ehrenamtliche, die sich engagieren; darunter ganz viele, die zugewandert sind und unser Land seit Jahrzehnten mitprägen; junge Menschen, die, gebeutelt von der Zeit der Pandemie, sich trotzdem in den Dienst der Gemeinschaft stellen. Sie alle sind das stabile Rückgrat unserer Demokratie. Es ist genau dieses Engagement, das uns stärkt und Zusammenhalt schafft. Besinnen wir uns auf genau diese Stärke!
Ich bin sicher: Mit Mut, Kraft und Vertrauen in uns selbst können wir auch diese Zeit der Bewährung bestehen. Erneuern wir heute, im fünfundsiebzigsten Jahr des Grundgesetzes, sein Versprechen: Stehen wir zusammen gegen die Feinde der Demokratie! Halten wir aus, was uns trennt, aber stärken wir das, was uns verbindet!
1949 lag unser Land in Trümmern. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten trotzdem den Mut, eine helle Zukunft zu entwerfen. 1989 schien die SED-Diktatur unüberwindbar. Die Menschen in der DDR rissen trotzdem die Mauer ein.
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten ein besseres Deutschland bauen. Sie haben uns ein freiheitliches, ein demokratisches, ein gutes Deutschland hinterlassen. Bewahren wir das Erbe, das uns anvertraut ist. Tragen wir es weiter.
Heute ist es an uns, uns in schwieriger Zeit zu behaupten. Es ist an uns, die Geschichte der Demokratie weiterzuschreiben. Meine Bitte ist: Gehen wir diese Aufgabe gemeinsam an – aufrecht und einander zugewandt!