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Artikel 19 / 83

»SIND WIR HELOTEN DER AMERIKANER?«

aus DER SPIEGEL 45/1968

SPIEGEL: Herr Minister, finden Sie es richtig, daß die Bundesregierung in diesem Jahr 412 Millionen Mark für die Stützung des Magermilchpreises auswirft, aber nur 67 Millionen Mark für die Entwicklung von Computern übrig hat?

STOLTENBERG: Man muß davon ausgehen, daß wir bis 1966 überhaupt nichts auf diesem Gebiet getan haben, sondern wie in weiten anderen Bereichen der Industrie dies als eine Aufgabe der Wirtschaft ansahen. Wir haben dann 1966 im Forschungsministerium ein erstes Programm konzipiert. Es ist durch die Planung des Wirtschaftsministers ergänzt worden, so daß als Förderungsbeitrag beider Ministerien rund 100 Millionen Mark für die Computer-Entwicklung zur Verfügung stehen.

SPIEGEL: Sind 100 Millionen Mark nicht weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn man bedenkt, daß der amerikanische IBM-Konzern allein für die Entwicklung eines Computertyps, seines Modells 360, rund 20 Milliarden Mark ausgegeben hat? Davon kam fast die Hälfte vom Staat.

STOLTENBERG: Die Erfahrungen zeigen, daß man mit begrenzten Mitteln unter Verwendung bestimmter Lizenzen durch Konzentration der Entwicklung auf besonders aussichtsreiche Typen durchaus eine wettbewerbsfähige Position erreichen kann. Denken Sie an den grollen Sprung, den zum Beispiel die Firma Siemens in den letzten Monaten getan hat. Wir werden unsere Mittel erheblich weiter steigern.

SPIEGEL: Herr Minister, Sie sagten, die Industrie habe vorher nichts Nennenswertes auf diesem Gebiet geleistet. Wollen Sie damit die Bundesregierung von dem Vorwurf befreien, sich erst sehr spät und dann nur unzulänglich mit einem minimalen Förderungsbetrag in den elementaren Zweig der Zukunftsindustrie, die Elektronik, eingeschaltet zu haben?

STOLTENBERG: Die Frage, oh die Initiative auf solchen Gebieten bei der Wirtschaft oder bei der Regierung liegen muß, ist nicht ganz leicht zu beantworten. Das hängt auch mit unserer Wirtschaftsverfassung zusammen. Wir können das nicht einfach befehlen wie in der Sowjet-Union oder so stark dirigieren wie in Frankreich.

SPIEGEL: General de Gaulle hat mit seinem Plan calcul seinem Land zu einer unabhängigen Elektronik-Gesellschaft verholfen, die durch staatliche Zuwendungen in die Lage versetzt wird, schwierige Computer-Entwicklungen zu finanzieren. Und was die Russen betrifft ...

STOLTENBERG: Wir wissen, daß die Sowjet-Union seit mehreren Jahren ein ungewöhnlich starkes Interesse an der Benutzung und Entwicklung von Computern an den Tag legt. Sie steht mit einigen westlichen Ländern, wie Frankreich und Großbritannien, in sehr intensiven Diskussionen und hat auch den Computer-Import erheblich gesteigert. Soweit ich es sehe, sind ihre eigenen Entwicklungen, gemessen an dem westlichen Spitzenstandard, noch relativ einfach. Es ist aber nicht auszuschließen, daß sie durch eine Konzentration ihrer Anstrengungen auf diesem Gebiet in die Spitzengruppe vorstößt.

SPIEGEL: Die Weitraumerfolge der Sowjets wären ohne hochqualifizierte Elektronik nicht möglich gewesen.

STOLTENBERG: Die Russen haben offenbar ihre Anstrengungen auf diese Anwendungen gerichtet. Im übrigen stimme ich mit Ihnen überein, daß in der Vergangenheit Versäumnisse vorliegen, glaube jedoch, daß wir in letzter Stunde noch die Chance haben, zu

* Mit SPIEGEL-Redakteuren Kurt Blauhorn (r.) und Ferdinand Simoneit; auf dem Tisch ein Modell des Weltraum-Satelliten Heos.

einer wettbewerbsfähigen Position vorzustoßen.

SPIEGEL: Warum zementiert dann die Regierung noch veraltete Wirtschaftsstrukturen mit Milliardensubventionen, während die Mittel für den Ausbau der Zukunft fehlen?

STOLTENBERG: Ich bedauere auch dieses Mißverhältnis. Die falsche Relation zu den Stützungs- und Erhaltungssubventionen muß geändert werden.

SPIEGEL: Ihr Ministerium müßte das progressivste sein. Ist Ihre Position im Kabinett stark genug? Man hat den Eindruck, daß sich Ihr Landwirtschafts-Kollege. Herr Höcherl, mit breiteren Ellbogen durchsetzt.

STOLTENBERG: Für die Agrarsubvention gilt naturgemäß, daß wir hier entscheidend durch die EWG-Beschlüsse gebunden sind. Im übrigen kann ich nur auf die Entwicklung des Etats verweisen: 1965 betrug er für das Forschungsministerium knapp eine Milliarde Mark, bis 1968 hat er sich verdoppelt. Die mittelfristige Finanzplanung sieht für 1972 vier Milliarden vor. Wir haben also ohne Zweifel seit 1965 und auch in der Vorausschau bis 1972 die stärksten Steigerungsraten überhaupt im Gesamthaushalt.

SPIEGEL: Gemessen am Agrar-, Sozial- und Verteidigungshaushalt -- zusammen 40,1 Milliarden Mark -- sind dies nur Brosamen für die Zukunftssicherung. Der amerikanische Nationalökonom Professor Galbraith erklärte unlängst, die moderne Technologie müsse sozialisiert werden.

STOLTENBERG: Sozialisiert?

SPIEGEL: Ja. Freilich nicht enteignet, sondern Privatwirtschaft und Staat sollten für die Lösung der Zukunftsaufgaben Gemeinschaftsunternehmen bilden, weil der Kapitalbedarf so groß ist, daß ihn die private Hand nicht mehr allein aufbringen kann.

STOLTENBERG: Eine enge Kooperation von Staat, Wissenschaft und Wirtschaft ist auch bei uns notwendig.

SPIEGEL: Dann sollte die Regierung aber nicht nur die Verluste sozialisieren wie Im Bergbau, sondern die Zukunftsindustrie, etwa die Atomkraftwerke oder jene Unternehmen, die einmal Nachrichtensatelliten entwickeln werden.

STOLTENBERG: Wir haben keine gemischten Gesellschaften, also halbstaatliche Unternehmen, in der Kernenergie. Wir begnügen uns mit der Errichtung staatlicher Forschungszentren, die Projekte koordinieren und mit der Industrie gut kooperieren, die von uns gezielte Zuschüsse erhält.

SPIEGEL: Herr Minister, entmutigt es Sie nicht, daß Subventionen für Kraftwerke gezahlt werden, die weiterhin Steinkohle verbrennen, während die öffentliche Hand für die Entwicklung von Kernkraftwerken bis jetzt fünf Milliarden Mark ausgab? Die Kohle-Subventionen bremsen doch Ihre Aktivität im Atomenergiebereich.

STOLTENBERG: Immerhin, die Kernenergie ist ein gutes Beispiel dafür, daß wir durch eigene Leistungen und kluge Lizenzpolitik trotz der begrenzten Mittel durchaus wettbewerbsfähig sein können. Das erste Atomkraftwerk Lateinamerikas wurde jetzt In der Bundesrepublik bestellt.

SPIEGEL: Ja, ein Kernkraftwerk, das soviel einbringt wie der Export von 50 000 Volkswagen. Aber die USA haben inzwischen 18 Atomkraftwerke verkauft.

STOLTENBERG: Die psychologisch-wirtschaftliche Wirkung des ersten deutschen Kernkraftwerkes für Lateinamerika ist viel höher zu bewerten. Es ist ein Symbol, das internationale Beachtung gefunden hat.

SPIEGEL: Ist das nicht ein schwacher Trost, angesichts der technologischen Lücke, die uns von der revolutionären Entwicklung in Technik, Forschung und Lehre anderer Länder, besonders der USA, trennt?

STOLTENBERG: Man sollte dieses Wort von der technologischen Lücke nicht verallgemeinern. Es gibt auch bei uns Sektoren, etwa die chemische Industrie, die mehr Fortschritt aufweisen. Dort ist die Lücke in der Lizenzbilanz in einem Jahr fast auf die Hälfte zusammengeschrumpft.

SPIEGEL: Nicht »nur Pessimisten behaupten, daß Japan die Bundesrepublik bis 1975 vom zweiten Platz auf der Weitrangliste des Exports verdrängen wird. Teilen Sie diese Meinung?

STOLTENBERG: Das statistische Bild läßt dies als möglich erscheinen. Wenn wir bei einem eigenen weiteren kräftigen Wachstum durch ein noch stärkeres Wachstum der Japaner überholt werden, braucht das aber nicht unbedingt eine Katastrophe zu bedeuten.

SPIEGEL: Fürchten Sie nicht die Folgen für den westdeutschen Wohlstand?

STOLTENBERG: Japan hat fast doppelt soviel Einwohner wie die Bundesrepublik und liegt in den Wachstumsziffern heute international an der Spitze.

SPIEGEL: Sie haben einmal erklärt, die Bundesrepublik wolle keinen Mann zum Mond schießen, aber müsse sich der Entwicklung eigener Nachrichtensatelliten widmen. Man hört so wenig davon.

STOLTENBERG: Die Weltraumforschung ist keine besondere Freude. Sie ist nicht das schönste Kapitel. Nach langen Vorarbeiten wurde 1967 ein europäisches Programm konzipiert. Leider sind einige Staaten, vor allem Großbritannien und in einigen Bereichen auch Italien, nicht bereit, an allen Teilen dieses Programms mitzuwirken. Auf der nächsten europäischen Weltraumkonferenz im November in Bonn wird darüber verhandelt werden.

SPIEGEL: Sie hatten vor einigen Monaten den Chef der amerikanischen Weltraumfahrt-Behörde Nasa zu Besuch. Haben Sie mit ihm über diese Probleme gesprochen?

STOLTENBERG: Ja, ausführlich.

SPIEGEL: Kommt die Nasa den deutschen Wünschen entgegen, wenn es um die Entwicklung von Trägerraketen für Nachrichtensatelliten geht?

STOLTENBERG: Das ist eine schwierige Frage.

SPIEGEL: Hätte die amerikanische Weltraumfahrt-Behörde etwas dagegen, wenn die Bundesrepublik und die anderen europäischen Länder Trägerraketen eigener Art bauen würden, um von sich aus Nachrichtensatelliten in die Umlaufbahn zu lancieren?

STOLTENBERG: Wir haben jetzt Vorschläge gemacht wegen einer besseren Beteiligung Europas an Intelsat, auch am Management, das heute durch Comsat rein amerikanisch ist*,

SPIEGEL: Befürchten Sie, daß dieses Konsortium ein weltweites Monopol für Nachrichtenkommunikation und Fernsehübertragungen zimmert?

STOLTENBERG: Ja, ich sehe darin eine große Gefahr. Unsere Vorstellungen gehen dahin, daß man im Rahmen von Intelsat regionale Systeme haben kann, etwa auch im europäischen Nachrichtenverkehr mit Afrika.

SPIEGEL: Inzwischen sorgen westdeutsche Experten in Kap Kennedy dafür, daß Amerikas technologischer Vorsprung immer größer wird. Was unternehmen Sie, Herr Minister, um die emigrierten deutschen Naturwissenschaftler, Forscher und Ingenieure zurückzugewinnen?

* Dem International Telecommunications Satellite Consortium (Intelsat) gehören 63 Länder an. 53 Prozent der Stimmrechte werden von der amerikanischen Communications Satellite Corporation (Comsat) wahrgenommen.

STOLTENBERG: Im Auftrag der Bundesregierung hat der Akademische Austauschdienst eine Vermittlungsstelle eingerichtet. Sie steht mit einer ganzen Reihe akademischer Auswanderer in Kontakt und hat auch schon eine Anzahl zurückgeführt.

SPIEGEL: Aber es gibt doch immer noch sehr viele westdeutsche Geistes-Emigranten. Erst kürzlich.,.

STOLTENBERG: Die Zahl der Abwanderungen in die USA ist zurückgegangen. Anfang der 60er Jahre verloren wir rund 500 bis 600 Naturwissenschaftler und Fachingenieure jährlich an die USA. 1964 waren es 430, vor zwei Jahren 346. Auch diese Zahl ist noch beunruhigend. Im einzelnen gehen neun bis zehn Prozent der Absolventen nach Übersee.

SPIEGEL: Und wieviel sind im letzten Jahr zurückgekommen?

STOLTENBERG: Wir können das leider nicht mit absoluter Sicherheit feststellen, da wir keine Meldepflicht für Wissenschaftler haben, Ich glaube, etwa 30 Prozent der Auswanderer kamen zurück.

SPIEGEL: Einer Ihrer Vorgänger, Franz Josef Strauß, hat schon vor zwei Jahren erklärt, wir würden gegenüber den USA bald nur noch Heloten sein, die deutsche Ingenieure für die amerikanische Industrie ausbilden dürfen. Sind wir tatsächlich Heloten der Amerikaner?

STOLTENBERG: Hm, dieser Ausdruck Heloten ...

SPIEGEL: Trifft er nach allen Versäumnissen nicht die Situation?

STOLTENBERG: Nicht ganz.

SPIEGEL: Oder gefällt Ihnen ein anderer Vergleich aus der Betriebswirtschaft besser: Ist die Bundesrepublik nicht jetzt schon die verlängerte Werkbank der Amerikaner?

STOLTENBERG: Wir haben Erfolge. Aber ich glaube, daß ohne eine erhebliche Steigerung der nationalen Anstrengungen von Staat und Wirtschaft und ohne effektivere Formen der europäischen Zusammenarbeit die technologische Lücke dennoch größer und allgemeiner werden kann. Das würde sicher eine weitere Schwächung unseres Kontinents bedeuten, der ja heute ohnehin durch die Disparität seines hohen wirtschaftlichen Standards und seiner politischen Schwäche seiner politischen Ohnmacht kann man fast sagen -- gekennzeichnet ist.

SPIEGEL: Sie beklagen vor allem die mangelnde europäische Kooperation?

STOLTENBERG: Ja, ich sorge mich darum, daß wir langfristig auch in den Bereichen, in denen wir noch wettbewerbsfähig sind, gegenüber den Vereinigten Staaten zurückfallen werden, wenn wir uns nicht endlich die Institutionen für eine effektivere europäische Technologie-Politik schaffen. Deshalb ist die Frage der politischen Entwicklung Europas, der vollen Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes und der Stärkung europäischer Institutionen ein ganz entscheidender Punkt.

SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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