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Urteilsbegründung des BGH zu Kontogebühren Die Banken müssen bluten, die Kunden können feiern

Millionen Kontoinhabern winkt die Rückerstattung von Gebühren, für Banken und Sparkassen wird es teuer. Doch von selbst wird das Geld nicht zurückfließen. Die Deutschen müssen aus der Lethargie erwachen.
Postbank-Filiale in Frankfurt: Das BGH-Urteil gegen die Tochter der Deutschen Bank hat Strahlkraft für die gesamte Branche

Postbank-Filiale in Frankfurt: Das BGH-Urteil gegen die Tochter der Deutschen Bank hat Strahlkraft für die gesamte Branche

Foto: Reiner Zensen / imago images/Reiner Zensen

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Ende April hatte der Bundesgerichtshof (BGH) Deutschlands Banken geschockt: In einer Klage gegen die Postbank urteilten die Richter, dass es nicht rechtens sei, Gebührenerhöhungen einfach durchzusetzen, sofern der Kunde schweigt. Im Raum stand seither, dass die Institute rückwirkend Gebühren zurückzahlen müssen.

Die Branche spielte auf Zeit und wollte erst einmal die Urteilsbegründung abwarten. Die liegt nun vor – und, Achtung Spoiler, die Sache könnte teuer ausgehen für die Geldhäuser. Und gut für die Kunden.

Worum geht es?

Jeder kennt das: Im Mailpostfach taucht plötzlich eine Nachricht seiner Bank auf, die ewig lang und verwirrend formuliert ist und über Änderungen der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) unterrichtet. Die meisten Menschen reagieren wohl nach dem Prinzip »Gelesen, gelacht, gelocht« und tun: nichts. Diese Passivität, auch »Zustimmungsfiktion« genannt, rentiert sich für Banken, die auf diese Weise Gebühren erhöhen oder Verträge anpassen. Und dass sie das getan haben, ist amtlich: Allein 2019 stiegen die Bank- oder Sparkassengebühren laut Statistischem Bundesamt um 4,7 Prozent, während sich die Verbraucherpreise insgesamt nur um 1,4 Prozent erhöhten. Von 2015 bis 2019 summierten sich die Preissteigerungen sogar auf 25 Prozent. 

Dagegen stemmt sich der Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) seit Jahren, vor allem mit der Klage beim BGH gegen die Postbank. Ende April hatte der BGH geurteilt, dass solche Klauseln, die weitreichende Vertragsänderungen und Entgelterhöhungen ermöglichen, nicht zulässig seien (Az. XI ZR 26/20)  – »ein wichtiges Urteil und ein echter Mehrwert für Verbraucher«, wie David Bode, Referent im Team Rechtsdurchsetzung des Verbands, sagt.

Die Banken hatten dennoch auf Milde in der Urteilsbegründung gehofft, die am Montag veröffentlicht und zunächst vom Branchen-Newsletter »Finanzszene« verbreitet wurde.

Was steht in der Urteilsbegründung des BGH?

Zum einen steht in der Begründung, dass die Klausel nicht rechtens ist. Wörtlich heißt es , die Klausel halte »schon nach allgemeinen vertragsrechtlichen Grundsätzen einer Inhaltskontrolle […] nicht stand.« Und weiter: »Aus welchen Gründen (Lethargie, Desinteresse, intellektuelle Überforderung, Unbeholfenheit, Krankheit oder tatsächlich Einverständnis) er [der Kunde] untätig bleibt, hat auf die Rechtswirkung der Klausel keinen Einfluss. Die Klausel läuft deshalb gerade gegen ungewandte Verbraucher tatsächlich auf eine einseitige, inhaltlich nicht eingegrenzte Änderungsbefugnis der Beklagten [der Bank] hinaus.«

Was juristisch-schwurbelig klingt, ist letztlich eindeutig: Die Praxis der Banken, das Schweigen der Kunden als Zustimmung zu werten, ist nicht länger haltbar. Sorgen der Finanzbranche, das Urteil könne Kunden verwirren, lässt der BGH laut Urteilsbegründung  nicht gelten. »Die […] Befürchtungen im Hinblick auf mögliche Unsicherheiten in der Kreditwirtschaft ändern an dieser Bewertung nichts. Die Ursachen für diese Unsicherheiten liegen in der Verantwortung des Verwenders, der die unwirksame Änderungsklausel eingeführt und die Vertragsänderung angetragen hat, und nicht im Verantwortungsbereich seines Vertragspartners.«

Wer es juristisch noch präziser mag: Paragraf 307 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (»Bestimmungen in AGB sind unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen...«) sticht die tendenziell bankfreundlichen Paragrafen 308 und 675g.

Zum anderen bedeutet das Urteil, dass Kunden rückwirkend für mindestens drei Jahre rechtswidrig erhobene Entgelte zurückverlangen können. Nicht, weil es so explizit in der Urteilsbegründung stünde. Sondern, weil es sich um die regelmäßige Verjährungsfrist für bereicherungsrechtliche Ansprüche handelt, wie Bode vom VZBV erläutert. Womöglich sind die drei Jahre aber nicht einmal das letzte Wort. Denn, so Bode, die aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eröffne eventuell die Möglichkeit, dass sich Kunden noch länger rückwirkend Geld erstreiten können.

Trifft das Postbank-Urteil alle Banken?

Tendenziell ja. Die Stiftung Warentest etwa glaubt, dass sich alle Kunden, deren Banken entsprechende Klauseln angewendet haben, Kontoführungsgebühren, Überweisungsentgelte, Kartengebühren oder andere Entgelte erstatten lassen können. Die in der DK Deutsche Kreditwirtschaft vereinte Finanzlobby verweist zwar auf das individuelle Vertragsverhältnis zwischen Kunde und Bank. Doch die Experten der Stiftung Warentest kommen schnörkellos zu folgender Einschätzung: »Wir kennen keine Bank oder Sparkasse, die Preis­erhöhungen nach Konto­eröff­nung von der Zustimmung der Kunden abhängig gemacht hat.«

Mit Gebührenerhöhungen hatte die Branche in den vergangenen Jahren einen Teil der Einnahmeverluste kompensiert, die sie der Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) zuschreibt – obwohl die EZB den Instituten an anderer Stelle kräftig unter die Arme greift. Etwa, indem sie ihnen eine Prämie von einem Prozent zahlt, wenn sie sich bei der EZB Geld leihen und Kredite zu bestimmten Bedingungen vergeben. Allein die Commerzbank hatte dadurch im Startquartal 2021 außerordentlich 126 Millionen Euro verdient.

Noch rechnen die Zahlenschubser in den Banktürmen hochtourig, wie viel sie das Urteil des BGH kosten könnte. Klar ist aber jetzt schon: Es könnte enorm schmerzhaft für die Banken werden, wenn Kunden rückwirkend für – mindestens – drei Jahre Gebühren zurückfordern. Raimund Röseler, Exekutivdirektor für Bankenaufsicht bei der Finanzaufsicht Bafin, warnt bereits vor dem »Worst Case «: »Wir würden nicht ausschließen, dass es in eine Größenordnung geht von der Hälfte des Jahresüberschusses, die da im Feuer stehen kann.« Und Thorsten Pötzsch, Bafin-Exekutivdirektor Abwicklung, wies gar darauf hin, dass einzelne Institute wegen des Urteils insolvent werden könnten.

Für die Deutsche Bank könnten zumindest die ambitionierten Ziele wackeln, die Vorstandschef Christian Sewing ausgegeben hat. 2022 will er acht Prozent Eigenkapitalrendite verdienen, umgerechnet 4 bis 4,5 Milliarden Euro netto. Wenn er allerdings allein die Konzerntochter Postbank, also die Beklagte im aktuellen BGH-Urteil, ihren sechs bis sieben Millionen Girokonto-Kunden Gebühren erstatten müsste, könnte sich der Betrag rasch auf mehrere Hundert Millionen Euro türmen. Sewings Ziele wären dann akut gefährdet und noch abhängiger davon, was die Investmentbanker des Konzerns an anderer Stelle mit womöglich riskanten Geschäften hereinholen.

Was müssen die Kunden jetzt tun?

In jedem Fall aktiver werden als bisher. VZBV-Mann Bode rät Verbrauchern, Kontovertragsunterlagen der vergangenen Jahre auf Klauseln zu Vertragsänderungen und Gebührenerhöhungen zu sichten und gegebenenfalls ihre Banken zur Rückerstattung aufzufordern. »Sie können sich auch an die Verbraucherzentralen wenden«, so Bode.

Die Postbank versucht, die Erwartungen zu dämpfen: Kunden könnten »nicht pauschal alle gezahlten Entgelte zurückverlangen«, schreibt sie auf Anfrage. »Ein solcher Anspruch kann sich vielmehr nur auf solche Entgelte erstrecken, die seit der letzten wirksamen Vertragsanpassung oder seit dem ursprünglichen Vertragsschluss zu viel gezahlt worden sind.« Man werde aber jeden konkreten Erstattungsanspruch individuell prüfen.

Wie Kunden ihr Geld über den Weg eines Musterbriefes zurückbekommen, hatte SPIEGEL-Kolumnist Hermann-Josef Tenhagen erst jüngst beschrieben. Günstig auch: Banken wie die Comdirect oder die PSD Bank Nord hatten geplante Gebührenerhöhungen wegen des BGH-Urteils bereits eingefroren.

Und klar ist: Künftig sind Gebührenerhöhungen zwar nicht ausgeschlossen, sie müssen aber klarer definiert und kommuniziert werden – und, am wichtigsten, vom Kunden bestätigt werden. So wie es bei Minuszinsen auf Giro- oder Tagesgeldkonten oberhalb fünfstelliger Freigrenzen bereits der Fall ist.

Zudem dürfte das Urteil über die Finanzbranche hinaus wirken – und zwar für »alle Unternehmen, die ihren Kunden ein Dauerschuldverhältnis anbieten«, wie ein Wirtschaftsanwalt sagt, der lieber nicht genannt werden möchte, weil viele dieser Unternehmen zu seinen Mandanten gehören. Ob Netflix, Airbnb, Spotify oder andere: Sie alle werden, wie die Banken auch in diesen Stunden und Tagen, das BGH-Urteil genau darauf abklopfen, was es sie kosten könnte und für die Zukunft bedeutet.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes war von den Paragrafen 305 und 307 im Bürgerlichen Gesetzbuch die Rede. Tatsächlich ging es um die Paragrafen 307 und 308. Wir haben die Stelle korrigiert.

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