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Panorama „Anne Will“

„Die Gefahr ist, dass die Mitte infiziert wird“, warnt Gerhart Baum

Viele Bürger seien praktisch aus dem demokratischen System „ausgewandert“, sagt Gerhart Baum Viele Bürger seien praktisch aus dem demokratischen System „ausgewandert“, sagt Gerhart Baum
Viele Bürger seien praktisch aus dem demokratischen System „ausgewandert“, sagt Gerhart Baum
Quelle: NDR/Wolfgang Borrs
Ist die Demokratie in Deutschland noch stabil? Bundesinnenministerin Nancy Faeser zog bei „Anne Will“ ein positives Fazit der Großrazzia gegen die „Reichsbürger“-Szene. Einer ihrer Vorgänger im Amt erklärte, warum er dennoch sehr besorgt ist.

Die Festnahmen im „Reichsbürger“-Milieu haben Deutschland aufgeschreckt. Noch Tage nach der enormen Fahndungsaktion gegen eine Gruppe Umstürzler wundern sich viele Bürger: Wurde hier großes Unheil abgewendet oder doch eher mit Kanonen auf Spatzen geschossen?

Vor diesem Hintergrund beschäftigte sich Anne Will am Sonntagabend mit dem Gefahrenpotenzial radikalisierter Kräfte in der Gesellschaft. „Razzia bei ‚Reichsbürgern‘ – Wie groß ist die Terrorgefahr durch Staatsfeinde?“, wollte die Moderatorin von den Gästen ihrer ARD-Talkshow wissen. Eingeladen waren neben der aus Frankfurt zugeschalteten Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), dem nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Reul und dem früheren Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) die Linke-Chefin Janine Wissler und der Investigativjournalist Florian Flade.

Faeser zeigte sich mit dem Ablauf der Razzia insgesamt sehr zufrieden. Es habe sich um „eine ernst zu nehmende Bedrohungslage durch diese terroristische Vereinigung“ gehandelt, weshalb es gut gewesen sei, „hart durchgreifen“ zu können. Die Innenministerin sprach hinsichtlich der Putschfantasien der Gruppe von sehr genauen Planungen, in den Bundestag einzudringen und sich mit Waffengewalt den Abgeordneten gegenüberzustellen. Man habe die Lage aber gut im Griff gehabt.

„Es waren mehr als Spinnereien“, sagt NRW-Innenminister Reul

Ihr nordrhein-westfälischer Kollege stimmte Faeser weitgehend zu. „Es waren mehr als Spinnereien, denn es waren Leute dabei, die wissen, wie man so was macht. Und es waren Leute dabei, die Waffen hatten oder Zugang zu Waffen“, erklärte Reul. Deshalb sei es „total richtig“ gewesen, direkt aktiv zu werden.

Im Netz entwickelten sich beunruhigende Stimmungen sowie „Mischszenen“ aus Rechtsextremen und Menschen aus dem bürgerlichen Lager. Es habe schließlich schon Beispiele dafür gegeben, „dass die Leute sich gegenseitig hochstacheln, viele Likes geben – und dann geht einer los und schießt“, führte Reul weiter aus. Der Christdemokrat erinnerte in diesem Zusammenhang an den Mord am hessischen CDU-Politiker Walter Lübcke aus dem Jahr 2019.

Auch Wissler riet dazu, „Reichsbürger“ nicht einfach als harmlose Spinner abzutun, obwohl deren „Pläne und Ideen total größenwahnsinnig und natürlich auch wirr“ klängen. Aus Sicht der Linke-Vorsitzende machten vor allem die Verbindungen zu Akteuren wie der AfD oder in die Sicherheitskräfte hinein die Szene gefährlich. Sie habe den Eindruck, dass gerade auch die Innenminister der Länder im Umgang mit rechten Chatgruppen bei der Polizei „vieles eher kleingeredet“ und „nicht rückhaltlos aufgeklärt“ hätten.

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Dass das Bundesamt für Verfassungsschutz in seinem aktuellen Bericht nur etwa fünf Prozent der mutmaßlich 23.000 Reichsbürger als rechtsextrem einstufe, wertete Wissler ebenfalls als problematisch. „Diese ganze ‚Reichsbürger‘-Szene ist natürlich durch und durch rechtsextrem. Sie ist rassistisch, sie ist antisemitisch, sie ist demokratiefeindlich“, lautete die Einschätzung der Linke-Chefin.

„Ich glaube, es gibt eine Vernetzung von Menschen aus unterschiedlichsten Milieus, die da zusammengekommen ist“, konstatierte hingegen Flade mit konkretem Blick auf die enttarnte Gruppierung. Zwar erkannte auch der Journalist als zentrales verbindendes Element die Staatsfeindlichkeit und als weitere Merkmale Antisemitismus und eine Ablehnung der deutschen Demokratie. Er machte aber gleichzeitig klar, dass eine klare Zuordnung anhand alter Schubladen schwierig sei.

Deshalb sei in den USA auch von einem „Salatbar-Extremismus“ die Rede, bei dem Elemente verschiedener Extremismen zusammengefügt würden, „um sich die Welt zu erklären oder einen Umsturz herbeizusehnen“. In Deutschland habe man während der Corona-Pandemie den Begriff der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ geprägt, um darunter Menschen und Strömungen zu subsumieren, die sich noch nicht genau definieren ließen. „Aber die haben gemeinsame Nenner, die haben gemeinsame Begrifflichkeiten, eine gemeinsame Sprache“, so Flade.

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Der Reporter mahnte zudem an, die Gefahr von Terroristen nicht primär ausgehend von deren eigenen Zielen zu beurteilen. Diese würden in den seltensten Fällen erreicht. „Die RAF hat nicht ihr sozialistisches Utopia bekommen und der NSU nicht sein Viertes Reich. Gemordet haben sie trotzdem“, stellte er fest.

Ex-Innenminister besorgt über „Demokratie-Auswanderer“

„Die RAF ist gescheitert. Sie hat das Volk nicht erreicht. Aber hier gibt‘s Leute, die fangen an, das Volk zu erreichen. Und das macht mir Sorgen“, befand allerdings Baum, der zwischen 1978 und 1982 Bundesinnenminister war. Die Akzeptanz für rechte Ideen sei in Deutschland schon immer sehr viel größer gewesen. An eine unmittelbare Gefahr für die Demokratie durch einen Staatsstreich wollte der Liberale aber nicht glauben. Vielmehr äußerte er sich sehr nachdenklich über jene Bürger, die praktisch aus dem demokratischen System „ausgewandert“ seien. „Das sind Leute, die gehen nicht mehr zur Wahl, die wählen die AfD, die halten unsere Demokratie für eine Diktatur, die freie Presse für eine Meinungsdiktatur“, erklärte Baum.

Der Rechtsextremismus sei die größte Bedrohung für die innere Sicherheit, besonders dann, wenn er das Bürgertum erreiche. „Die Gefahr ist, dass die Mitte infiziert wird“, so die Befürchtung des FDP-Politikers. Baum rief angesichts dessen dazu auf, sich um jene zu bemühen, die zur Demokratie auf Distanz gegangen seien.

Man könne diese Menschen, die nun mal ein Faktor seien, nicht beiseitelassen, sondern müsse überzeugende Politik machen und sich ihrer Fragen, Schwierigkeiten und berechtigten Proteste annehmen. „Wir müssen deeskalieren. Wir sind nicht nur angewiesen auf die Polizei und die Justiz. Wir selber als Demokraten müssen alles tun, dass diese Demokratie lebt“, lautete das abschließende Plädoyer des erfahrenen Juristen.

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