Ihre nächsten zehn Jahre – Seite 1

00–10 Jahre

Der unerhörte Unterschied zwischen ich und du

Die Geburt ist der Eintritt in die Zeit. Es ist nicht selbstverständlich, diesen dramatischen Übergang zu überleben. Vor zweihundert Jahren starb bei uns noch jeder fünfte Säugling, in vielen armen Ländern bleibt jedes zehnte Neugeborene nur wenige Tage am Leben. Einem Kind, das heute in Deutschland zur Welt kommt, steht dagegen ein langes Leben bevor, zumindest statistisch gesehen: fast 78 Jahre, wenn es ein Junge ist, fast 83 Jahre bei einem Mädchen. So viel Zeit, so viele Möglichkeiten, so viele gangbare Lebenswege. Und die Lebenserwartung steigt, täglich um Stunden. Die Hälfte der heute geborenen Mädchen kann damit rechnen, hundert zu werden – wenn sie Verbündete haben.

Kaum ein anderes Lebewesen ist nach der Geburt so schlecht für das Leben gerüstet wie wir, alles hängt davon ab, in einem engen Netz von Mitmenschen durch Versuch und Irrtum zu lernen, zu lernen, zu lernen – Krabbeln, Stehen, Gehen, Sprechen, Denken, Fühlen. Im Kopf läuft ständig ein neuronales und genetisches Feuerwerk, das all dies möglich macht: Jeden Tag bilden sich Millionen Nervenzellen neu, sprießen Synapsen.

Von Anfang an spielen Gene, Mitmenschen und Umwelt ein gemeinsames Konzert, nur selten entscheidet ein Faktor allein darüber, welches Leben genau nun seinen Lauf nimmt. Wer jetzt das Glück hat, von liebenden Eltern versorgt zu werden, zehrt davon ein Leben lang. Wer vernachlässigt oder schlecht behandelt wird, kann dies später vielleicht überwinden, aber es erfordert Anstrengung.

Dieser Text stammt aus dem ZEIT Wissen 6/2014, das am Kiosk erhältlich ist.

Ständig erleben kleine Kinder Neues – neue Menschen, Tiere, Pflanzen, Maschinen – und fangen an, in ihrem Kopf Modelle von der Welt zu bauen. Modelle auch davon, wofür sie belohnt werden und wofür nicht, was guttut und was nicht, was mein ist und was dein. Beim Spielen üben wir soziales Verhalten ein, die Grenzen von Mit- und Gegeneinander. Bis zum vierten Lebensjahr entwickelt sich eine Vorstellung davon, dass Menschen innere Zustände haben und dass sich die eigenen von denen der anderen unterscheiden können: Das kleine, aber wachsende Ich ist immer auch ein soziales Ich. Manche Forscher sagen: Das Ich entsteht von außen. Die Kindheit ist die Phase unserer größten Hilflosigkeit und Verletzbarkeit.

Die Zeit selbst ist in diesen ersten Lebensjahren ein natürlicher Verbündeter, sie ist einfach da, liegt vor uns, ohne die Last eigener Vergangenheit. Dabei sind wir tief in der Vergangenheit verwurzelt: der des Lebens, der Menschheit, der eigenen Vorfahren. Was die Eltern erlebt haben, kann prägen, wie unser Erbgut funktioniert.

Mit der Zeit zu leben heißt für Kinder, unbeschwert in der Gegenwart sein zu können, ungetrübt von Zukunftsplanung und Zukunftsängsten. Wer Glück hat, darf seinen eigenen Rhythmus finden und sich auch mal langweilen. Langsame Reifung kann später im Leben viel Gutes bewirken.

Bald kommt der erste Kontakt mit gesellschaftlichen Institutionen, vor allem mit der Schule. Dort geht es nicht nur darum, Freude am Lernen zu entwickeln, sondern mindestens genauso sehr darum, tagtäglich durch ein dichtes Netz an Beziehungen außerhalb der eigenen Familie zu navigieren – und Freundschaften zu entwickeln. Freundschaften werden für den weiteren Lebensweg so prägend sein wie die eigene Familie.

Erste Passionen entstehen, und das muss nicht immer Fußball oder Reiten sein. Sie geben Kindern Raum, wirklich Eigenes zu entdecken und zu erleben, sich abzugrenzen von den Interessen der anderen, einen selbst gewählten Weg zu gehen, ohne dass feststeht, wohin er führt. Denn darin liegt eine Essenz des westlichen Lebens von heute: Es folgt keinem starren Schema, es gibt ebenso viele Ausnahmen wie Regeln.

10-20 Jahre

10–20 Jahre

Das Überqueren des Erinnerungshügels

Der lange Weg zur Selbstständigkeit beginnt. Es ist eine aufregende und auch gefährliche Expedition und Orientierungssuche: Wer bin ich? Was will ich? Was kann ich? Heranwachsende entdecken ihr Denken und ihre Körper nochmals neu, ihre Talente und ihre Umwelt. Sie begreifen, dass die Welt auch anders sein könnte, als sie sich bisher dargeboten hat. Es geht darum, sich selbst zu erleben und zu entwickeln, indem man sich von den Eltern und anderen Autoritäten abgrenzt, Neues ausprobiert, seine Kräfte misst, Grenzen erlebt und erkundet, wie sie gesprengt werden können.

Wie im Inneren einer Schmetterlingsraupe läuft in der Pubertät im menschlichen Gehirn ein gewaltiger Umbauprozess ab. Alte Strukturen werden zerstört, neue entstehen. Das Heranreifen selbst ist unsichtbar, die Summe aller Veränderungen dagegen sehr wohl. Die Hirnanhangdrüsen überschwemmen den Körper mit Hormonen, die den großen Wandel hin zur Geschlechtsreife einleiten. Weil ihre Körper im Umbruch sind, schnell wachsen und neue Merkmale wie Brüste und Schamhaare ausbilden, ist diese Zeit für Jugendliche anstrengend. Sie spüren jetzt erstmals ihre geschlechtliche Orientierung. Wer schwul oder lesbisch ist, steht vor der Frage, wann er dieses Wissen mit wem teilt.

Oftmals sind Jugendliche leicht reizbar und brauchen viel Schlaf, vor allem morgens, weil der Biorhythmus verschoben ist. Das routinierte Denken der Eltern kollidiert mit eigenen, frisch gefundenen Einstellungen. Das lässt Konflikte entstehen und Grenzerfahrungen. Wenn sie nicht zu tiefer Entfremdung und Zerwürfnissen führen, können sie – auch wenn das zwischendurch ganz und gar abwegig erscheint – einen Sinn haben: die Reife zum eigenständigen Denken und Urteilen, dazu, Gefahren einzuschätzen und Begierden zu steuern.

Neue Maschinen treten ins Leben: Computer und Smartphones können den Horizont erweitern oder uns zu digitalen Sklaven machen. Auch wenn sie es leugnen, brauchen Jugendliche und junge Erwachsene noch einiges von dem, was Kinder brauchen: Nähe, Liebe, Aufmerksamkeit, nur eben nach ihren eigenen Regeln.

Mädchen ringen in dieser Zeit vor allem um Beziehungen in Cliquen, Jungen oftmals um ihren sozialen Status in einer Gruppe. Aus Freundeskreisen stechen vielleicht Einzelne heraus: die erste Freundin, der erste Freund. Körperliche Liebe, vielleicht schon Sex stoßen die Türe in das Erwachsenenleben auf. Rund zwei Drittel der deutschen Jugendlichen hatten mit 17 bereits Geschlechtsverkehr. Bei unseren Vorfahren war es durchaus normal, in diesem Alter schon Vater oder Mutter zu sein. In der heutigen westlichen Welt ist diese Phase vielmehr vom Lernen geprägt. Jetzt fallen Entscheidungen über Bildungswege.

Deutsche zwischen 10 und 18 Jahren verbringen durchschnittlich 3,5 Stunden am Tag mit Lernen. Zwischen 25 und 45 Jahren sind es nur noch 19 Minuten. Zwar gilt das alte Dogma, dass nur Heranwachsende etwas Neues wirklich gut lernen können, nicht mehr. Aber es stimmt weiterhin, dass das Wissen und vor allem die Lerngewohnheiten aus dieser Zeit prägend für das weitere Leben sein können: Ein Horizont entsteht.

Sich Ziele zu setzen, was auch immer diese Ziele sind, hilft, durch die Zeit des Heranwachsens zu navigieren. So werden aus tausend wählbaren Türen deutlich weniger, und diese Einschränkung kann guttun. Ob man die Ziele wirklich erreicht, ist etwas anderes.

Die Zeit des Heranwachsens kann von wilden Partys geprägt sein oder von politischem, mitmenschlichem Engagement, von trauriger Einsamkeit oder quietschfidelen Freundschaften, von Stubenhockerei oder weiten Reisen auf eigene Faust: Es wird die Zeit sein, an die später im Alter die Gedanken und Erinnerungen besonders häufig zurückgehen. Erinnerungen aus anderen Lebensphasen fallen in der Regel deutlich schwächer aus. "Erinnerungshügel" nennen das die Psychologen. Vielleicht ist es gut, das ab und an mit zu bedenken.

20-30 Jahre

20–30 Jahre

Wer jetzt kein Verbrecher ist, wird auch keiner mehr

Wer glaubt, mit zwanzig ausgewachsen zu sein, irrt. Ja, der Körper sprießt nicht mehr in die Höhe, der Penis wird nicht mehr länger, die Brüste werden, zumindest bis zu einer Schwangerschaft, nicht mehr größer. Doch im Gehirn, das maßgeblich unsere Persönlichkeit formt, geht die Reifung weiter, bilden sich neue Strukturen und, fast noch wichtiger, werden alte Strukturen abgebaut, wie von einem Gärtner, der Unkraut jätet, nur dass es hier von selbst passiert, im ununterbrochenen Wechselspiel von Genen, Gehirn und Umwelt. Die erste große Entwicklungsphase ist mit 24, 25 Jahren abgeschlossen, wenn der präfrontale Kortex, der wichtig für soziale Entscheidungsprozesse und die Ich-Entwicklung ist, als letzter Hirnteil seine erwachsene Form annimmt.

Wie Menschen dann sind – ob einzelgängerisch oder gesellig, egoistisch oder selbstlos, gewissenhaft oder nachlässig, emotional stabil oder schwankend, neugierig oder lernunwillig –, ist nun in starkem Maße entschieden. Zwar gibt es ein Leben lang die Chance, an sich zu arbeiten. Das geschieht aber immer im Rahmen der Persönlichkeit, die man mit Mitte zwanzig geworden ist. Wer mit 25 nicht kriminell ist, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für den Rest des Lebens nicht mehr.

Menschen, die jetzt in der Lage sind, in Gemeinschaft zu leben, verschiedene Blickwinkel auf Sachverhalte einzunehmen und Konflikte zu lösen, sind gut auf die wachsende Verantwortung vorbereitet, die nun ins Leben tritt: Wir müssen schwierige Entscheidungen fällen, für einen Ausbildungsplatz, einen Studiengang, einen Wohnort, einen Partner. Mit dem ersten Gehalt werden wir unabhängig, und damit stehen weitere Entscheidungen an: Wünsche erfüllen, reisen, sparen, investieren, an die Rente denken, Studienschulden zurückzahlen?

Die Vielzahl von Optionen kann ein Stressfaktor werden. Erstmalig ergibt sich dadurch auch das Risiko existenzieller Irrtümer. Für viele sind gerade dies heilsame Erfahrungen, da sie die Möglichkeit bieten, Korrekturen vorzunehmen. Manche erleben zum ersten Mal Angst, die frisch gewonnene Selbstständigkeit könnte direkt in ein existenzielles Unglück führen. Trotzdem erleben sich viele in dieser Phase immer noch behütet von Eltern, Chefs oder Professoren und Lehrern. Sie sind noch in einem Alter, in dem sich ältere Erwachsene ihrer annehmen und ihnen zur Seite stehen.

Was in Lebensläufen zwischen 20 und 30 Jahren passiert, hat sich radikal geändert. 1970 waren mit 25 Jahren schon achtzig Prozent der US-Amerikaner verheiratet, 2005 waren es nur noch halb so viele. Vor wenigen Jahrzehnten galten Frauen, die mit Ende zwanzig ihr erstes Kind bekamen, noch als "alte Mütter", heute entwickelt sich dies zur Normalität, obwohl frühes Elternsein durchaus auch heute Vorteile haben kann. Mitte zwanzig sind Menschen biologisch und körperlich häufig auf der Höhe ihrer Kraft. Auch die "flüssige Intelligenz", also zum Beispiel das schnelle Erinnern, ist in diesem Alter am stärksten ausgeprägt. Das Gehirn bildet nun kaum noch neue Nervenzellen. Eine wichtige Ausnahme ist der Hippocampus tief im Innern des Gehirns. Hier sprießen vor allem bei körperlicher Bewegung und geistigen Herausforderungen bis ins höhere Alter Neuronen, die neues Lernen und die Orientierung in Zeit und Raum fördern.

Mit der Zeit zu leben kann heißen, die Stärken dieser Lebensphase als zeitlich begrenztes Geschenk zu schätzen und zu pflegen, und nicht als selbstverständlichen Dauerzustand anzusehen. Einen Wink dafür gibt ein neues Lebensgefühl: Bis Mitte zwanzig wollen viele Menschen älter wirken, als sie sind, nun aber jünger.

30-40 Jahre

30–40 Jahre

Die Weichen werden gestellt: für Gesundheit und Glück

In der heutigen Gesellschaft beginnt mit 30 Jahren die Hochleistungsphase, die Zeit der "Kompression". Wir wenden alles an, was wir bisher gelernt haben, leben aus, wer oder was wir geworden sind. Alles passiert nun gleichzeitig: Menschen gründen Familien, die Zeit und Liebe erfordern. Daneben sollen möglichst alle im Beruf volle Leistung erbringen, um Karriere zu machen oder wenigstens nicht aussortiert zu werden. Das durchschnittliche Heiratsalter der Deutschen liegt heute bei 33,5 Jahren für Männer und bei 30,7 Jahren für Frauen. Manche müssen sich zeitgleich um trotzige Kinder, chronisch unzufriedene Chefs und bereits kranke Eltern kümmern.

Andere entscheiden sich nun bewusst für alternative Lebensformen: den Verzicht auf Kinder und Familie, den Ausbruch aus Karrierezwängen. Verschiedene Selbstbilder stehen im Wettbewerb, etwa das Eltern-Ich, das für Hingabe steht und für Verschmelzung mit der Erziehungsaufgabe, das mit dem Erwachsenen-Ich konkurriert, also dem Drang zu eigenem, unabhängigem Erleben, von Sex, Ausgehen bis Reisen. Wer sein Erwachsenen-Ich vergisst, vergisst sich selbst, wer es überbetont, vernachlässigt seine Mitmenschen.

Entwicklungspsychologen orten in dieser Lebensphase eine wichtige Weiche für späteres Wohlbefinden: Nach dem Ende der ersten Reifungsphase besteht die Chance, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Doch die starken Kräfte der "Kompression" können einen davon abhalten und direkt oder zeitverzögert in Krankheit, Depression und Eheunglück führen. Wer sich von diesen Kräften antreiben lässt, ohne zu steuern, kann rasch überfordert sein und von dem geplagt werden, was heute Burn-out heißt. Menschen neigen jetzt dazu, die Bedeutung von Einkommen, Statussymbolen und Vermögen für ihr Lebensglück zu überschätzen. Viele Psychologen mahnen deshalb zur Entschleunigung und dazu, die Lebensphasen bewusst anders zu planen. Gezielte Pausen können sinnvoll sein, um nochmals intensiv neue Fähigkeiten und neues Wissen zu erlernen, oder, etwa in einem Sabbatical, wichtige Grundfragen zu beantworten: Bin ich mit dem richtigen Menschen zusammen? Bin ich im richtigen Beruf? Bin ich der geworden, der ich sein wollte und sein will? Das kann dazu führen, die eigene Lebensweise zu festigen. Oder aber den Weg der Trennung und des Neuen zu gehen. So lässt sich vielleicht der wachsenden Gefahr entgehen, im Falle des Scheiterns persönlicher oder beruflicher Pläne zu verbittern.

Die Komplexität von Partnerschaft, Beruf, Familienleben eröffnet neue Aspekte des Lebens. Während die junge Erwachsenenzeit von kurzfristigen Thrills lebte, steht nun eher Dauer, Vertiefung an. Erste Ausbruchsfantasien und natürlich auch konkretes Ausbrechen aus Beziehungen und Karrieren sind die Folge. Für viele Menschen ist es ein schmerzhaftes Jahrzehnt, voller Irrungen und Wirrungen. Pessimisten und Melancholiker verstärken ihre negativen Gefühlswelten.

Für die spätere Gesundheit werden jetzt wichtige Weichen gestellt: Wer sich regelmäßig bewegt, ein enges Netz von Freunden unterhält und sich gut ernährt, steigert seine Chancen auf ein gesundes Alter enorm. Die Lebensweise in dieser Zeit beeinflusst wichtige Entwicklungsprozesse im Körper und im Gehirn, und kann den Ausbruch etwa einer Demenzerkrankung um entscheidende Jahre verzögern.

Ob jemand ein Eigenbrötler ist oder aber ein reiches Sozialleben hat, ist für das Glück im späteren Leben entscheidender als alle anderen Faktoren.

Menschen spüren jetzt erste Anzeichen von Alterung an ihrem Körper. Bei Frauen lässt die Fruchtbarkeit erheblich nach, Männer, die keinen Sport mehr treiben, werden viel schneller dick als in früheren Jahren, weil sich der Stoffwechsel verlangsamt. Noch schränkt das Altern das Leben aber nicht ein. Das bietet die große Chance, den Körper auf die Zukunft vorzubereiten. Die eigenen Eltern werden nun in vielen Fällen alt. Man muss überlegen, was man noch mit ihnen gemeinsam tun und erleben will.

40-50 Jahre

40–50 Jahre

Die Lebenserfahrung ist das neue Kapital

Mit etwa 40 Jahren (und nicht erst mit 50) ist die rechnerische Lebensmitte erreicht. Männer können im Schnitt mit 39 Jahren erwarten, noch 39 Jahre zu leben, Frauen mit 42 Jahren auf weitere 42 Jahre vorausblicken. Optimistisch könnte man bei seinen Lebensprojekten vom Juni des Lebens sprechen, in dem im guten Fall viele Früchte heranwachsen, bestimmte Pflanzen noch gesät oder nachgesät werden können, andere aber bereits frühzeitig absterben und verfallen.

Wer noch keine Kurskorrekturen in seinem Leben vorgenommen hat, wird nun vielleicht dazu gezwungen. Zum Beispiel Verheiratete: Scheidungen erfolgen im Durchschnitt 15 Jahre nach der Heirat, und jede dritte Ehe zerbricht heute binnen 25 Jahren. Da dies nur selten über Nacht passiert, laufen in diesem Jahrzehnt entscheidende Prozesse ab: Vertiefung oder Entfremdung, Miteinander oder Gegeneinander?

Für manche ist das Leben in dieser Zeit ein ruhiger, langsamer Fluss, bei anderen kommt es zu radikalen Umbauten am Lebensentwurf. Wieder andere holen nach, was sie hinausgezögert haben, verfolgen unerfüllte Träume von früher oder entdecken alte Leidenschaften wieder. Patchwork-Familien mit bunten, oftmals komplizierten Beziehungsgeflechten entstehen, in Beziehungen festigen sich Grundmuster, von treuer Monogamie bis zum häufigen Partnerwechsel, von Vernunftehen bis zu permanenter Romantik. Kinderlose Frauen stehen vor der Aufgabe, Frieden mit ihrem Lebensweg zu schließen. Die biologische Alterung macht sich im Körper nun stark bemerkbar, nicht nur an grauen Haaren, die sich wegfärben lassen. Bei Männern wie Frauen beginnen die Hormone, die in der Pubertät die Reifung hin zur Fruchtbarkeit gesteuert haben, deutlich abzunehmen, mit tief greifenden Folgen für die weibliche Fruchtbarkeit, und, auch bei Männern, für das Vitalitätsgefühl. Niemand ist gezwungen, sich zur Kompensation Konsumräuschen hinzugeben oder fremdzugehen: Es gibt tausend Wege, den Umbruch einer gefühlten "Lebensmittekrise" zu gestalten.

Zugleich setzt vielleicht schon bei den eigenen Kindern die Adoleszenz ein. Eltern müssen nun die schwierige Balance zwischen Distanz und Nähe meistern. Das Reifen der Kinder bringt es in Reichweite, Großeltern zu werden. Die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit wird härter, aber Verdrängung funktioniert noch. Ängste vor möglicher Altersarmut und späterer Einsamkeit kommen auf, Menschen suchen nach Lösungen und kümmern sich um ihre finanzielle Absicherung im Alter. Die Verantwortung für das Wohlbefinden der eigenen Eltern sowie von älteren Verwandten und Freunden wächst. Das verlangt nicht selten Abstriche beim eigenen Lebensgenuss, bietet aber auch die Chance, diese Beziehungen mit neuem Leben zu erfüllen.

Nicht nur im Berufsleben treten oftmals statt ständiger Neuerungen und Expansion nun Routinen in den Vordergrund. Das spart auf den ersten Blick Energien, birgt aber auch Gefahren: Aus Langeweile kann Erschöpfung wachsen, allzu viel Selbstgewissheit kann dazu führen, dass einen jüngere Konkurrenz überraschend aussticht. Positiv wirkt der Bestand an Wissen und Erfahrung, den die Zeit einem schenkt. Man erkennt Muster, die Jüngere nicht sehen, kann von selbst Bezüge herstellen, die sie noch nicht kennen, durchschaut Machtspiele und Moden. Menschen werden in dieser Phase selbst zu Mentoren und beginnen, ihre Erfahrungen weiterzugeben – und selbst wieder von Jungen zu lernen. Das zu nutzen und auszubauen heißt, mit der Zeit zu leben. Viele beginnen aber, gegen die Zeit zu leben, und verzweifeln an Falten und grauen Haaren.

50-60 Jahre

50–60 Jahre

Die Zufriedenheit kehrt zurück. Neu ist die Erfahrung von Verlust

Eigentlich sollten jetzt gute Zeiten beginnen. Die Lebenszufriedenheit erreicht in den westlichen Ländern bei einer Mehrheit der Menschen Ende 40 einen Tiefpunkt, steigt dann aber wieder deutlich an. Zugleich sendet der Körper nun allerdings viele unüberhörbare Signale: Die Kräfte lassen schneller nach, die Sinne werden schwächer, Stress fühlt sich noch anstrengender an, es fällt zunehmend schwer, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Ohne Training bauen die Muskeln viel schneller ab als früher, um mehrere Prozent pro Jahr. Eine Grundregel von Altersforschern lautet daher: Ab jetzt muss man mehr machen als früher und nicht weniger. Unter Gleichaltrigen wächst nun eine gewisse Kluft: mit zunehmendem Alter fällt das seelische und körperliche Wohlbefinden bei verschiedenen Menschen deutlich auseinander. Die einen fühlen sich zunehmend alt, schwach, müde und verbraucht, während die anderen fidel und scheinbar alterslos durch die Gegend springen und ihre Jugendlichkeit zur Schau stellen.

Von 1.000 Menschen, mit denen ein 60-jähriger Mann von heute gleichzeitig geboren wurde, sind jetzt noch 896 am Leben: Das Thema Tod tritt nun unvermeidlich ins eigene Leben und wirft Sinnfragen neu auf, auch wenn bei denen, die es bis hierhin geschafft haben, die Lebenserwartung stetig steigt.

Wahrscheinlich hat man nun bereits selbst eine Erkrankung erlebt, die nicht nach ein paar Tagen wieder verschwunden war, oder man kennt einen Gleichaltrigen, den es "erwischt" hat, der an einer schweren Krankheit oder einem überraschenden Herzinfarkt gestorben ist. Das Leben liefert in diesem Alter harte Erfahrungen von echten Verlusten.

In früheren Jahrzehnten stand die "primäre Kontrolle" im Vordergrund, das aktive Anstreben von Zielen. Nun geht es zunehmend auch um das, was Entwicklungspsychologen "sekundäre Kontrolle" nennen: Man gestaltet sich selbst um, setzt sich neue Ziele, wenn man merkt, dass man nicht mehr alles direkt kontrollieren und erreichen kann, was früher einmal wichtig war. Wenn man rigide an den Zielen aus jüngeren Jahren festhält, steigt das Risiko von Depression und Unzufriedenheit stark an. Es ist deshalb oftmals auch ein Jahrzehnt der Resignation oder von Abstürzen in Alkohol oder in die Depression: "Ich habe alles falsch gemacht. Mein Leben war sinnlos. Allen anderen geht es besser als mir."

Für jene, die zufrieden mit ihrem Lebensweg sind, beginnen die Jahrzehnte der größten Ausgeglichenheit, die Würfel sind gefallen, das Leben meint es gut. Gegen die Zeit zu leben hieße, auf Biegen und Brechen an alten Zielen festzuhalten, mit der Zeit zu leben, sich neue, angepasste Ziele zu setzen. Das Gehirn ist dafür plastisch genug. Viele Menschen schalten in dieser Lebensphase von Expansion auf Erhalt um. Es geht also – buchstäblich ebenso wie im übertragenen Sinn – nicht mehr darum, endlich einen Marathon in Bestzeit zu laufen, sondern es dauerhaft zu schaffen, zweimal die Woche zehn Kilometer zu bewältigen.

Bevor Routinen sich zum Feind entwickeln, kann man sie aufbrechen: in neue Stadtteile fahren oder ferne Erdgegenden bereisen, das Navigationsgerät ausschalten, Zeit schaffen, um Neues zu lernen, sich Lebenslügen stellen und sie akzeptieren oder überwinden. Es wird immer wahrscheinlicher, dass die Kinder nun aus dem Haus sind und die eigenen Eltern nicht mehr leben.

Beides kann schmerzhaft sein und öffnet zugleich neue Möglichkeiten: sich neu zu erfinden, die eigene Identität weiterzuentwickeln, sich neue Betätigungsfelder im Ehrenamt oder Hobby zu suchen, die Beziehungen zum Partner und zu Freunden zu intensivieren. Es kann guttun, jüngere Freunde zu gewinnen. Ein guter Wissenschaftler zu sein heißt nun nicht mehr unbedingt, eine geniale Einzelleistung zu vollbringen, sondern junge Forscher auf geniale, inspirierende Weise zu betreuen. Ein guter Vorgesetzter zu sein bedeutet, delegieren zu können und Weitblick zu entfalten.

Bei vielen Menschen stellen sich nun große Ängste vor dem nahenden höheren Alter ein, vor Krankheit und Tod. Aber dafür gibt es weniger Gründe als je zuvor: Bei vielen verschieben gesunde Ernährung und Sport den radikalen Verfall des Körpers weit hinter den 75. Geburtstag.

Auch deshalb kommt zunehmend das zum Tragen, was Entwicklungspsychologen das "Paradox des Wohlbefindens" nennen: Das subjektive Wohlbefinden lässt trotz fortschreitenden Alterns nicht zwangsläufig nach, zahlreichen Studien zufolge bleibt es gleich oder steigt sogar, zumindest bis zum 60. Lebensjahr. Danach kann es unter den richtigen Bedingungen längere Zeit auf einem Plateau verharren, wie lange, hängt auch von eigenen Anstrengungen ab und von der Einbettung in ein gutes Netz von Freunden und Verwandten.

60-70 Jahre

60–70 Jahre

Neugierig bleiben, wieder mehr riskieren

65 ist das neue 55 – so sagen es Demografen und Altersforscher. Als das Rentenalter 1916 auf 65 Jahre festgesetzt wurde, waren viele Menschen in diesem Alter schon körperlich erschöpft, nicht mehr belastbar und dem Tod nahe. Nur drei von zehn Deutschen erreichten überhaupt diese Altersgrenze. Heute sieht es anders aus. Viele Manager, Künstler, Politiker kommen erst jetzt, oder noch später, zum Zenit ihres Schaffens. Die "neuen Alten" sind in großer Zahl auf Elektrorädern unterwegs, reisen um die Welt, nehmen aktiv am Leben teil. Der Eintritt ins Rentenalter heißt schon lange nicht mehr, dass man dann automatisch aufhört zu arbeiten: Die einen verdienen weiter Geld, weil sie es mangels Altersvorsorge und Vermögen müssen, die anderen, weil sie eine erfüllende Tätigkeit nicht einfach wegen einer Jahreszahl aufgeben wollen.

In dieser Phase verfügen die Deutschen im Durchschnitt über ihr größtes Geldvermögen – jetzt heißt es Kredite abbezahlen, die eigene Lebensführung an ein geringeres Einkommen anpassen, noch mal investieren, zum Beispiel in eine kleinere Wohnung, oder aber schenken und spenden. Das lohnt sich, denn das alternde Gehirn spendet viel mehr Belohnungsgefühle fürs Schenken als das jüngere Gehirn. Altruistisch zu sein macht im Alter deutlich mehr Freude als in jungen Jahren.

Überhaupt kann sich jetzt Altersmilde breitmachen. Das Verlangen nach Harmonie und emotionaler Stabilität wächst ebenso wie die Fähigkeit, zu vermitteln und zu moderieren. Ältere Menschen fangen an, die Dinge positiver zu sehen als jüngere, sie werden oftmals gutmütiger. Psychologen sprechen von einem "Positivfilter". Wenn man Menschen mit 70 Jahren Fotos von lächelnden und von bedrohlichen Gesichtern zeigt, nehmen sie Letztere viel schwächer wahr als Jüngere. Dadurch werden Kräfte freigesetzt.

Es geht nun um das Hinauszögern von Abbauprozessen, nicht um ihre Umkehr. Dabei hilft es, sich immer wieder auch außerhalb seiner Komfortzonen zu bewegen, neugierig zu bleiben und öfters mal Dinge zu tun, bei denen man nicht weiß, was am Ende herauskommt.

Laut Statistischem Bundesamt verbringen Menschen im Rentenalter nur zwei Minuten pro Tag mit Lernen – etwas mehr würde sich durchaus lohnen. Aus gutem Grund schreiben sich viele in dieser Phase an Volkshochschulen und Universitäten ein, um noch dazuzulernen. Das Gehirn belohnt das mit neu sprießenden Verbindungen und einem besseren Erinnerungsvermögen. Menschen im Ruhestand haben mit 2 Stunden und 14 Minuten nur unwesentlich länger sozialen Umgang mit anderen als diejenigen, die mitten im Beruf stehen – auch hier gibt es viel Raum, jetzt neue Beziehungen zu knüpfen, vor allem mit Jüngeren. Die Terminlast nimmt ab, viel Zeit wird frei, die mit Sinn gefüllt sein will.

Wer es schafft, 70 zu werden, hat gute Chancen, bis Mitte 80 zu leben. Allerdings sind nun von 1.000 Gleichaltrigen schon 230 Männer und 128 Frauen gestorben. Vorsorge entwickelt sich zu einem zentralen Thema – aber gesund zu bleiben muss nicht heißen, ständig zum Arzt zu gehen: Auch Kunstkurse und Waldspaziergänge können gesund halten. Ebenso wichtig wird die Rückschau auf das, was das Leben bisher schon gegeben hat, auf das, was man aus Rückschlägen gelernt hat, und auf das, was schiefgegangen ist. Vielleicht richtet sich eine solche Rückschau auch auf frühere Ängste, die mit dem Altern verbunden waren und sich nun nicht bewahrheiten. Beim Erinnern wirkt hier ebenfalls der "Positivfilter": Mit Ausnahme wirklich traumatischer Erlebnisse, die sich im Kopf verselbstständigen erscheint vieles weniger schlimm, als es früher empfunden wurde.

70-80 Jahre

70–80 Jahre

Es ist nie zu spät für eine neue Liebe

Was man sich als Jugendlicher und junger Erwachsener nie vorstellen konnte, einmal in Richtung 80 zu gehen, ist nun Wirklichkeit. Das Arbeitsgedächtnis ist nicht besser geworden, es fällt schwerer, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun oder unter Stress Leistungen zu erbringen. Menschen müssen manche Dinge aufgeben, die sie mal gerne gemacht haben, weil diese zu anstrengend geworden sind oder zu Schmerzen führen. Überhaupt wird für viele der Schmerz zu einem Begleiter, mit dem sie sich arrangieren müssen. Aber viel mehr Fähigkeiten als erwartet sind erhalten geblieben.

Die Liebe zum Leben erlischt meist nicht. Viele sprühen in dieser Lebensphase noch vor Energie, weil Yoga, Pilates, Qigong sie innerlich und äußerlich frisch gehalten haben. Die moderne Medizin bietet ein immer größeres Arsenal an Ersatzteilen, vom Kniegelenk bis zum Hirnschrittmacher. Manche Menschen verwandeln sich in Cyborgs, so viel Technik kommt in ihnen zum Einsatz. Natürlich kommen Sorgen auf, dass der Körper länger lebt, als man will, und man erlebt solche Fälle im persönlichen Umfeld. Die Auseinandersetzung mit Patientenverfügungen kann spätestens jetzt zur Klarheit beitragen, wo für einen selbst die Grenzen verlaufen. Der Angst vor Gebrechlichkeit und Demenz zu viel Platz zu lassen wäre aber selbst ein großer Stressfaktor, der Lebensqualität raubt.

Wenn Umfeld und Gesellschaft es erlauben, können Menschen in dieser Phase sich als Bereicherung erleben: Sie können mit ihrer Erfahrung und mit einer moderierenden Art den Jüngeren helfen. Zudem können sie die Jüngeren entlasten, etwa bei der Kinderbetreuung. Enkeln und anderen Kindern bieten Ältere eine andere Perspektive auf das Leben als die Eltern. Erstaunlich ist, dass die Leistungsfähigkeit in diesem Alter viel stärker von den Erwartungen des Umfelds abhängt als bei jüngeren Menschen: In Studien schnitten Menschen dieser Altersgruppe umso besser ab, je positiver ihnen die Aufgaben präsentiert wurden. Hieß es zur Einführung, die erstaunlich hohe Leistungsfähigkeit Älterer solle untersucht werden, fielen die Testergebnisse deutlich besser aus – das bedeutet, dass Ältere sehr empfindlich gegenüber gesellschaftlichen Vorurteilen sind.

Für Frauen wird es in diesem Jahrzehnt wahrscheinlich, dass ihr Mann zum Pflegefall wird oder sie ihn verlieren. Nun ist, für Männer wie Frauen, Fürsorge und Hingabe für den anderen erforderlich. Männer sterben im Durchschnitt mit 74,2 Jahren. Von 1.000 gleichzeitig Geborenen sind mit 70 noch 770 Männer am Leben. Allerdings reicht die Lebenserwartung für Männer, die dieses Alter einigermaßen gesund erreichen, deutlich weiter in die Zukunft, bis fast 84. Bei Frauen sind es 86,5 Jahre. Unter Frauen sind selbst mit 80 Jahren von 1.000 gleichzeitig Geborenen noch 700 am Leben, weshalb sie in Pflegeheimen hauptsächlich andere Frauen antreffen. Es wird normal, an Beerdigungen teilzunehmen. Der Verlust des Partners und von Freunden stellt Menschen vor Herausforderungen: die Trauer zu überwinden, mit der Einsamkeit umzugehen, ein neues Wohn- und Lebensumfeld zu finden, das dem Alter angemessen ist.

Viele Menschen ziehen jetzt Bilanz und wenden sich nach innen, manche entdecken ihre religiösen Seiten neu, denn es geht darum, sich mit der eigenen Endlichkeit zu arrangieren: Glaube ich an ein Leben nach dem Tod? Wie werde ich in der Erinnerung meiner Mitmenschen fortleben? Was will ich in den kommenden Jahren noch besitzen, was verschenken? Noch bestehen viele Möglichkeiten, das zu beeinflussen.

Jetzt können auch jüngere Freunde von großer Hilfe sein, vor allem für Kinderlose. Wer sie nicht hat, kann sie vielleicht noch finden. Im ganzen Körper schreiten Abbauprozesse voran, Hirnmasse, Knochensubstanz und Muskelmasse schrumpfen. Aber immer noch lässt sich der Abbau durch altbekannte Methoden hinauszögern. Klare Tagesstrukturen geben Halt. Beschäftigungen außerhalb der Familie bereichern das Leben. Statt des 10-Kilometers-Laufs gibt es nun vielleicht einen täglichen Spaziergang, der ab und an in ein neues Viertel führt. Es ist nicht zu spät für eine neue Vorliebe. Nicht einmal für eine neue Liebe.

80-90 Jahre

80–90 Jahre

Jetzt beeinflussen die Gene wieder stärker das Leben

Willkommen in der am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppe. Bis zum Jahr 2050 wird sich die Zahl der Menschen über 80 in Deutschland den Prognosen zufolge auf zehn Millionen Menschen mehr als verdoppeln. Vom Wohlbefinden und der gesellschaftlichen Teilhabe dieser Altersgruppe hängt in Zukunft viel ab. Wenn jeder siebte oder achte Deutsche bettlägerig würde, wäre die Gesellschaft wahrscheinlich überfordert. Aber zumindest in Deutschland wächst nicht allein die Zahl der Lebensjahre, sondern auch die Zahl der gesunden Lebensjahre. Die Phase von Krankheit und Siechtum ganz am Ende des Lebens wird künftig kürzer sein, sie zieht sich immer seltener qualvoll lange hin.

Heute klafft das Allgemeinbefinden der Älteren noch stark auseinander. Die einen leiden unter verstopften Arterien, einem unterdurchbluteten Gehirn, Diabetes oder an den Folgen von Schlaganfall oder Herzinfarkt. Die anderen treffen sich auf dem Tennisplatz und in Vereinen, surfen im Internet, chatten mit ihren Enkeln und unternehmen große Reisen. Jetzt wirkt sich am stärksten das aus, was man früher im Leben getan und gelassen hat, die Kluft zwischen Gesunden und Kranken ist enorm. All die Morgende, an denen man sich zum Sport aufgerafft hat, summieren sich nun kraftvoll positiv in Knochen, Muskeln, Gehirn.

Der Verlust von Freunden wiegt schwer, aber nicht so stark, wenn man in ein reiches Beziehungsnetz eingebunden ist, das mehrere Generationen überspannt. Ja, es gibt die prosozialen Athleten, die verbittert früh sterben, und die eigenbrötlerischen Zigarrenraucher, die glücklich und zufrieden steinalt werden, aber in der Tendenz ist es eben doch anders. Je älter man wird, desto stärker beeinflussen wieder die Gene das körperliche Geschehen, das heißt, der Einfluss etwa von gesunder Ernährung sinkt (ist aber immer noch deutlich vorhanden). Die Gene werden ungenauer darin, die richtigen Eiweiße herzustellen, sie produzieren erratisch molekularen Krimskrams, der dem Körper nicht dient. In vielen Zellen ist die DNS-Sequenz mutiert, Blutgefäße und Gewebe versagen ihren Dienst. Warum und wie genau das biologische Altern stattfindet, ist noch nicht vollends erforscht. Bekannt ist allerdings, dass der Stoffwechsel schädliche Substanzen nicht mehr so effektiv abbaut wie früher. So kommt es dazu, dass sich im Gehirn oftmals Eiweißplaques ablagern, die zum Schrumpfen und Absterben ganzer Areale führen. Ab 80 trifft es jeden siebten, ab 85 jeden vierten Deutschen.

Traumatische Erlebnisse in der Kindheit und Dauerstress im Erwachsenenalter erhöhen das Risiko, an Demenz zu erkranken. Für die Betroffenen beginnt eine Reise weg von der mit den Mitmenschen geteilten Wirklichkeit. Und für die Pflegenden beginnt eine anstrengende Zeit. Gefährlich sind jetzt auch Stürze aller Art, von denen sich die Betroffenen oftmals nicht erholen.Dennoch sind viele Menschen dankbar für jeden Tag, den sie erleben dürfen, und können sich nicht vorstellen, warum sich früher in den Wunsch, möglichst lang mit Kindern, Enkeln, Freunden zu leben, so viel Angst gemischt hat. Vorsätze, sich bei der Diagnose von Alzheimer oder Krebs sofort umzubringen oder auf medizinische Behandlung zu verzichten, verblassen.

Palliativmediziner berichten, dass es Menschen vor allem darauf ankommt, nicht allein zu sein und keine vermeidbaren Schmerzen erleiden zu müssen. Ist das gegeben, kann das Leben trotz aller Härten und Hürden weiter Freuden bieten. Kleinere, bescheidenere Freuden aber dennoch. Die Frage, ob sie wieder jung sein wollten, beantworten nicht alle mit Ja. Manchen erscheint diese Aussicht als zu anstrengend.

90+ Jahre

90+ Jahre

Eine Reise in die Vergangenheit

Der Traum von einem wirklich langen Leben, jetzt geht er in Erfüllung – aber auch so, wie man es sich vorgestellt hat? Es sind nicht wenige, die diese Phase erreichen. Von 1.000 Menschen, die vor 90 Jahren geboren wurden, sind bei den Frauen jetzt noch 293 am Leben, bei den Männern 165. Das Leben kann trotz Krankheiten und Schmerzen unerwartet lange weitergehen. Mehr als 300.000 Menschen weltweit sind bereits älter als 100. Der Lebenszeitrekord liegt bei 122 Jahren und 164 Tagen.

Was früher ohne Mühen ging – aufstehen, Essen machen, einkaufen –, kann nun als Höchstleistung erscheinen. Hilfe von Familie, Freunden oder Pflegern wird in vielen Belangen unverzichtbar, Hochbetagte sind zu einem großen Teil auf andere angewiesen. Sie stehen vor der Aufgabe, an diesem Kontrollverlust nicht zu verzweifeln. Aber das gelingt vielen überraschend gut: Sie haben die Kunst des Alterns gelernt, zu der ständige Kompromisse und die Anpassung an das Unvermeidliche zählen.

Hochbetagte haben das Privileg, auf hundert Jahre Menschheitsentwicklung, Naturveränderung, Technologiesprünge zurückblicken zu können, sofern das Gedächtnis mitspielt. Wer heute 100 Jahre alt ist, wurde zu Beginn des Ersten Weltkriegs geboren und hat noch eine Welt weitgehend ohne Telefone erlebt. Besonders Hochbetagte sind oft erstaunlich gut darin, sich an ihre Kindheit und Jugend zu erinnern. Für Menschen, die im hohen Alter mit Demenz leben, spannt sich der Bogen besonders stark in die Vergangenheit zurück. Sie leben häufig zeitweise wieder in der Kindheit und Jugend, manche rufen nachts nach der Mutter. Bei den psychisch Gesunden passiert Ähnliches in abgeschwächter Form. Weil das Gehirn schlechter darin wird, neue Erinnerungen zu bilden, treten solche an frühere Lebensphasen in den Vordergrund. Ein Großteil des Lebens ist aber der Erinnerung nicht zugänglich – so viel, was passiert ist, ist unwiederbringlich verschwunden.

Die Altersmilde kommt nun voll zum Tragen. Vor allem Menschen in der allerletzten Lebensphase wollen oft den Bedürfnissen der Zurückbleibenden gerecht werden. Wichtiger als die Frage, wie sie selbst sterben, ist ihnen, wie es ihren Nachkommen ergehen wird. Nun kann passieren, dass man im Krankenhaus an Schläuchen hängt. Manche Menschen entfalten dann einen Willen zum Sterben, andere klammern sich noch an den letzten Sekunden fest, sind dankbar für die Beatmungsmaschinen und Sonden, mit deren Hilfe sie weiterexistieren. Ruhig und gelassen im Kreis einer Familie zu sterben oder in Gegenwart von Freunden ist nun ein Ideal. Palliativmediziner beobachten, dass Menschen im Großen und Ganzen so sterben, wie sie gelebt haben. Kämpfernaturen begehren gegen das Ende auf, ruhige Charaktere verabschieden sich leise. Der Glaube daran, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, gibt vielen Menschen Hoffnung. Was auch immer geschehen ist und geschehen wird, es ist ein Wunder, das zu Ende geht.

Der Autor wurde unterstützt von: Ulman Lindenberger, Max-Planck-Institut (MPI) für Bildungsforschung; Ulrich Mayr, University of Oregon; Jim Vaupel, MPI für demografische Forschung, Ursula Staudinger, Columbia University; Gian Borasio, Universität Lausanne; Walter Heinz, Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung; Holger Kuntze, Praxis für Psychotherapie; Cornelia Füllkrug-Wenzel, Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung; Ulla Giesler; Aysel Osmanoglu, GLS-Bank

Was jetzt erst geht, was wieder geht, was nicht mehr geht: Kerstin Düring, Rike Uhlenkamp

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