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"Max und Moritz": Böse Buben, freche Mädchen

Foto: JR / Berliner Ensemble

"Max und Moritz" für Erwachsene So geht Wilhelm Busch im Instagram-Zeitalter

Max und Moritz sind jetzt Rapperinnen: Als knalliges Spektakel inszeniert Antú Romero Nunes bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen den Klassiker von Wilhelm Busch - doch er hat auch eine Botschaft.

Max und Moritz sind im Jahr 2019 keine bösen Buben mehr, sondern freche Mädchen. "Tomboys", wie sie später selbst in einer Rap-Einlage ins Mikro grölen werden: Mädchen, die so auftreten und sich so benehmen, wie es früher nur Jungs zugestanden wurde.

Das ist, zumindest auf den ersten Blick, aber auch schon die einzige gesellschaftsrelevante Aussage der knalligen "Max und Moritz"-Inszenierung von Antú Romero Nunes, die am Samstag bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen Premiere hatte und Ende Mai ans Berliner Ensemble wechseln wird.

Zu Beginn müssen sich Stefanie Reinsperger und Annika Meier, mit schwarzer Topfschnitt-Perücke beziehungsweise rotblond vom Kopf abstehender Strähne sofort als Max und Moritz zu erkennen, erst einmal aus dem Buch befreien. Sie reißen ein Loch in die imaginäre vierte Wand vor ihnen und entdecken die Zuschauer - der Wechsel auf die Bühne ist vollzogen. Die erobern sich die zwei sofort als große Spielwiese und brabbeln dabei ein unverständliches Fantasie-Italienisch vor sich hin. Wer will, kann das als Verweis auf die Commedia dell'Arte verstehen, die derbe italienische Typenkomödie, mit der Buschs Figurenkabinett tatsächlich einiges gemeinsam hat.

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"Max und Moritz": Böse Buben, freche Mädchen

Foto: JR / Berliner Ensemble

Regisseur Nunes macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt

Man muss das aber nicht wissen, um seinen Spaß zu haben, wenn Max und Moritz erstmal vergleichen, wer den Größeren hat: Als Max den Zeigefinger aus seinem Hosenlatz wachsen lässt, kontert Moritz gleich mit dem ganzen Unterarm. "#MeToo" ist aus Max' Kauderwelsch herauszuhören, und sofort sind die Hosen wieder zu. Niveau-Alarm? Ach was, das Publikum ist begeistert.

Dann tritt Witwe Bolte auf, sofort zu erkennen am ausladenden rosa schillernden Rock und der großen Schleife auf dem Kopf - die Kostümbildnerin Victoria Behr hat sich klar an den Zeichnungen von Wilhelm Busch  orientiert, sich farblich aber ihre bonbonbunten Freiheiten rausgenommen. Dass die Witwe von Sascha Nathan, also einem Mann, gespielt wird, ist hier eher nicht gendertheoretisch zu deuten, sondern wohl in der Tradition der guten alten Boulevardkomödie zu sehen.

Mit der Witwe Bolte treten auch ihr stolzer Hahn und die drei Hühner auf. Sie schleppen einen großen Bilderrahmen heran und stellen darin die ikonischen Zeichnungen aus Buschs Klassiker nach. Es blitzt, klick, neues Arrangement, klick, nächstes Bild. So beamt Nunes Buschs Comic-Strip ins Instagram-Zeitalter.

Plädoyer für die Freiheit der Kunst

Das ist wegen der ganzen Requisiten, die es heranzuschleppen gilt, dann doch ganz schön aufwendig, und so erzählt der Regisseur den dritten Streich, bei dem der Schneidermeister Böck in den Bach fällt ("Ritzeratze! voller Tücke/In die Brücke eine Lücke") ganz anders: Max und Moritz kippen ihm einfach jeder einen Eimer Wasser über den Kopf, und Frau Böck erzählt die ganze Geschichte danach der Witwe Bolte am Telefon, während sie ihren Mann wieder trockenbügelt. Nunes macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt. Der 35-jährige Regisseur ist bekannt als fantasiebegabter - manche sagen allzu verspielter - Regisseur.

Wie um sich dafür zu rechtfertigen, lässt Nunes den Böck-Darsteller Tilo Nest kurz eine andere berühmte Figur von Wilhelm Busch geben, den Maler Klecksel. Der macht sich erst textgetreu selbstironisch über den Kunstbetrieb lustig, bevor er ausholt zu einem Plädoyer für die Freiheit der Kunst: die beinhalte unbedingt auch ihre Zweckfreiheit. Dass Nest bei diesem Monolog einen Sprachfehler simulieren muss, den er sich offenbar vom Faultier Sid in den "Ice Age"-Filmen abgehört hat, soll möglicherweise kaschieren, wie wichtig Nunes diese Botschaft ist.

Nachdem das geklärt ist, können sich alle noch spontaner in die Szenen schmeißen. Annika Meier und Stefanie Reinsperger begeistern sich nicht an sich selbst, sondern an ihren Anarcho-Rollen - auch in den Zwischenspielen, in denen sie mal als Cheerleader, mal als Beatboxer oder Rapperinnen à la Princess Nokia auftreten, virtuos unterstützt von der Musikerin und Sound-Akrobatin Carolina Bigge.

Wenn Ebenen sich vermischen

Doch dann kommt Meister Lämpel. Constanze Becker, im koproduzierenden Berliner Ensemble neben Reinsperger einer der Stars, ist kaum zu erkennen als streng-knöcherner Zuchtmeister, der ankündigt, dass nun Ordnung wiederhergestellt werde.

Max und Moritz müssen wie Schulbuben die Busch-Strophen von ihrem vierten Streich aufsagen, und als Moritz nervös versagt und vom Lehrer zusammengestaucht wird, bekommt sie Szenenapplaus - weil Reinsperger den verschüchterten Bub so überzeugend spielt oder, weil die Helikoptereltern im Publikum das Kind ermuntern wollen? Die Momente, in denen sich bei Nunes die Ebenen vermischen, sind die besten.

Irgendwann werden die beiden Chaosstifter - nachdem sie sich bis auf die Unterwäsche ausziehen und so klar als Frauen zu erkennen sind - von den Stützen der Gesellschaft gemeinschaftlich in den Brotteig geworfen und im Ofen gebacken. Aus diesem Gefängnis kann sich Max, anders als im Original, nicht mehr befreien. Und Moritz will ohne ihn nicht. Ein Verweis darauf, dass Frauen durch Rollenbilder noch immer zu sehr eingeengt werden? Vielleicht. Als Zuschauerin sieht man hier nicht Frauen oder Männer, sondern Menschen, die in ein Korsett gezwängt werden sollen und daran krepieren. Bis dahin aber haben sie sich jede Menge Sympathie erspielt.

"Max und Moritz. Eine Bösebubengeschichte für Erwachsene." Nächste Vorstellungen am 11. und 12. Mai bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen  (Festspielhaus) ; ab 22. Mai im Berliner Ensemble .

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