Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, diesem völligen Zusammenbruch jeglicher Ordnung, diesem Bankrott von Moral und Menschlichkeit, ging das Leben in Deutschland weiter. Es musste weitergehen. Im Land der Täter und der Mörder mussten sich die, die den Trümmern entkrochen, die geflohen waren aus dem Osten oder die von den Kriegsfronten und aus den Lagern zurückkamen, zurechtfinden in einer Welt, an deren Zerstörung sie oft auch aktiv teilgenommen hatten, in einer Welt, in der sie als Gesellschaft geächtet waren.
Historiker haben die Nachkriegszeit als Erfolgsgeschichte auf dem Weg zur Demokratie beschrieben. Das mag für die großen Linien – den Neuaufbau eines politischen Systems, Verwaltungsstrukturen und Instandsetzungen von Infrastruktur – gelten. Doch gerade in den Jahren zwischen 1945 und den frühen Fünfzigern brodelte es unter der Oberfläche, kam es in den Köpfen und Seelen der Bevölkerung zu spukhaften Obsessionen, diffusen Ängsten vor „göttlicher Rache“, kursierten Gerüchte über den nahenden Weltuntergang und herrschte unvorstellbares Misstrauen.
Die amerikanische Historikerin Monica Black beschreibt diese Unterströme der Nach-Nazi-Zeit in ihrem Buch „Deutsche Dämonen. Hexen, Wunderheiler und die Geister der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland“ (Klett-Cotta, 2021) als psychopathologisches Phänomen. Ihr Blick auf Zeitungsberichte, Gerichtsakten und andere schwer zugängliche Dokumente, ja auch auf die bei Ethnologen und Kulturwissenschaftlern beliebten Dimensionen von Stimmungen und Gerüchten, ist sicher eine Rarität, ja eine Zumutung für ihre Profession. Doch was sie so akribisch rekonstruiert und mit „Sensibilität für andere Wirklichkeiten“ an unser heutiges Tageslicht befördert, ermöglicht eine kulturelle Spurensuche im abnormen Alltag der Nachkriegsdeutschen, wie man dies noch nicht kannte.
Wie sollte ein humanes Leben auf diesem vergifteten Boden überhaupt entstehen? Filme wie der frühe „Die Mörder sind unter uns“ von 1946 blieben die Ausnahme. Die Deutschen, ob Städter oder Landbevölkerung, suchten Ausflüchte. Sie waren millionenfach hungrig nach Irrationalem, Übernatürlichem, nach Astrologie, Parapsychologie, Hellsehern, Handlesern, spiritistischen Sitzungen, Telepathie, die in der Volks- und Zauberheilkunst allesamt verankert waren und deren Wurzeln in bestimmten Regionen bis in die Zeit der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen zurückreichten.
Ob katholische Erscheinungen oder pietistische Bewegungen der „Rettungsarche“: Häufig ging es um Teufelsaustreibungen, Gesundbeterei oder Denunziation von Nachbarn als Verhexte, Böse. Allein 1952/53 gab es mehr als 130 „Hexenprozesse“ in Deutschland. Die Verfahren fanden meist in den Dorfkneipen unter reger Teilnahme der Bevölkerung statt. Ein Fall landete 1955 sogar vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe.
Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatte es Unmengen an Laienheilern gegeben, die den klassischen Ärzten mit Homöopathie, Kräuterkunde und Anthroposophie Konkurrenz machten. Laut manchen Schätzungen behandelten Heiler ohne Lizenz in den Dreißigern mehr als die Hälfte aller Krankheiten. Die klassische Medizin wurde im Nationalsozialismus oft als „verjudet“ betrachtet. Später verboten die Nazis obskure medizinische Praktiken, die sie als „okkult“ einstuften.
Nach dem Krieg erblühte dieser Traditionsstrang mit voller Wucht. Wunderheiler tauchten als messianische Erscheinungen auf, die die Ängste Zehntausender vor dem endgültigen Ende lindern sollten oder aber mit Weissagungen noch verstärkten. „Sie sind der Nachweis einer gleichermaßen moralischen, gesellschaftlichen und epistemischen Leere, die sich durch Niederlage und Zusammenbruch und durch die von den Alliierten beaufsichtigte Konfrontation mit dem Massenmord auftat“, schreibt Black.
Nicht die Verbrechen der Nationalsozialisten und der Holocaust sorgten die Menschen, sondern nur ihr eigenes Leben und die Zeit „danach“. Besatzung und Entnazifizierung wurden von ihnen als „Unheil“ und Schande empfunden. Die früh einsetzende politische Amnestie half nicht, diesen Massenpsychosen und Nervenkrisen entgegenzuwirken.
Die Menschen wiesen jeglichen Schuldgedanken zurück. Auch Medien, Wissenschaftler und Politiker schwurbelten von Schicksal, Nöten und „Volkskultur“, ohne die richtigen Worte für den moralischen Bankrott und die abgrundtiefe Niederlage einer ganzen Gesellschaft zu finden. Black erwähnt auch Alexander Mitscherlich: Als Psychologe arbeitete er in einem Prozess wegen Verstoßes gegen das Heilpraktikergesetz gegen Bruno Bernhard Gröning, die wichtigste Figur der Szene. Mitscherlich, ein Gegner des Nationalsozialismus, dem später mit seiner Frau das epochale Werk „Die Unfähigkeit zu trauern“ gelang, fand noch 1951 nur abstrakte Worte für diese Mesalliance aus Vergangenheit und Gegenwart.
Gröning, den „Messias von Herford“, stufte Mitscherlich allerdings eindeutig als gefährlich ein. Der „Wunderheiler“, ein Flüchtling aus Danzig und ehemaliger Nazi, war zum Star unter den Quacksalbern geworden, nachdem er, Jesu gleich, einen gehunfähigen Jungen zum Aufstehen motiviert hatte. Über Gröning schrieben Boulevardblätter wie die „Revue“ Serien mit Riesenauflagen, das Radio berichtete, und sogar ein erster Dokumentarfilm war entstanden. Doch was war er genau? Ein Verrückter, ein Größenwahnsinniger? Ein Psychotherapeut oder ein Paranoiker? Ein grotesker Hitler-Wiedergänger? Fest steht: Gröning vermochte es, Menschen selbst nachts Ewigkeiten voller Anspannung auf ihn warten zu lassen, bis er sich irgendwann auf den Balkon bequemte.
Gerüchte über sein Erscheinen führten jahrelang zu Verkehrschaos und Hysterie in ganzen Landstrichen. Im bayerischen Traberhof nahe Rosenheim campierten Zehntausende, um von seinem starren Blick und seinen „Heilströmen“ getroffen zu werden, was Behörden und Polizei immer wieder auf eine harte Probe stellte.
Lokalpolitiker schützten ihn. Verbote hätten zu Aufständen geführt, denn viele Pilgernde behaupteten, ihre Leidenwie Lähmung, Blindheit, Taubheit, Appetitlosigkeit, Verstopfung, Gehunfähigkeit, Unfruchtbarkeit seien durch Grönings „Liebestätigkeit“ behoben worden. Der Mann, ganz in Schwarz mit langen Rasputin-Haaren und blauen Augen, behauptete, von Gott gesandt zu sein und die Krankheiten der Menschen in sich zu absorbieren. Krankheit definierte er als kosmische Strafe für Fehlverhalten. Die Verbindung zur Hexerei war somit klar – und Deutschland, das Land der großen medizinischen und wissenschaftlichen Kultur, wirkt in diesen Beschreibungen altgermanisch-vorchristlich.
Black schreibt: „Wurden die Menschen blind und taub, weil sie nicht ertragen konnten, das zu hören oder zu sehen, was um sie herum vorging – weil sie die Niederlage nicht ertragen konnten?“ Sie stellt auch die Frage, ob manche Menschen nicht beispielsweise die Fähigkeit zu gehen als eine unbewusste Form des Protestes gegen ihre Verantwortlichkeit für Völkermord und Kriegsverbrechen verloren hatten. Wovon „heilte“ sie dann Gröning? Von ihrer Schuld?
Hannah Arendt beschrieb 1949 das „vorherrschende Selbstmitleid“ der Deutschen. Sie wollte von ihrem Schicksal als verfolgte Jüdin erzählen, die Gesprächspartner parierten gnadenlos, sie seien doch die wahren Opfer Hitlers. Viele Betroffene schrieben Hunderte von Bittbriefen an die Behörden, in denen sie die Geschichte ihrer Leiden schilderten und um Audienzen beim Wunderdoktor baten. Die Behörden ließen diese „Massenheilungen“ oft zu.
Bei Gröning, der offenbar so viel Vertrauen weckte wie einst der braune Führer, wollten sie jammern, sonst dröhnte ihr Schweigen. Der „Messias“ selbst hatte eine recht pragmatische Berufsauffassung: „Ich heile 90 Prozent, zehn Prozent sind Abfall – ist nicht meine Schuld“, erläuterte er in einer Manier, die zeigt, wie sehr er die nationalsozialistische Gedankenwelt verinnerlicht hatte. Wissenschaftler wie Viktor von Weizsäcker, der in Heidelberg auch in der Nachkriegszeit psychosomatische Medizin praktizierte, wurden als Gutachter für Grönings Wirken geholt. Doch der hatte in Kriegszeiten selbst an den Hirnen euthanasierter Kinder geforscht und die Euthanasie noch nach den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen verteidigt.
Nach Gröning gab es andere Wunderheiler wie Pietro Tranti, einen Friseur aus Düsseldorf. Übernatürliches machte 1949/50 die Runde, Mädchen hatten eine Erscheinung der Muttergottes gesehen. In ihr Dorf im Fränkischen kamen in den folgenden Jahren eineinhalb Millionen Menschen. Sowohl diese Geschichte wie die Grönings waren Titelthema des „Spiegels“.
An diese Eruptionen erinnert man sich heute nicht, wohl aber an die vielen „Heimatfilme“ der 1950er-Jahre, die eine andere Form des Trosts boten, nämlich ein völlig unpolitisches, blitzsauberes Idyll. Es sollte bis in die 1960er-Jahre dauern, bis diese Themen als rückständig und peinlich empfunden wurden. Die Zeitungen widmeten sich anderem, das Fernsehen kam auf und wurde so etwas wie ein neuer Guru für die Deutschen. Aber wichtiger war: Vergangenheit ließ sich nicht verleugnen. Die Deutschen mussten sich ihr stellen. Früher oder später.
Eine bittere Lektion bleibt: Die von Black beschriebenen irrationalen, vormodernen und auch antidemokratischen Unterströme sind nicht aus der Welt. Im deutschsprachigen Raum werden sie derzeit gerade wieder reaktiviert, all die esoterischen Noten, apokalyptischen Visionen gegen Politik, Moderne und Humanmedizin, siehe das Impfen. Gröning verteilte bei seinen Sitzungen Staniolkugeln. Heute feiern die Aluhüte fröhliche Urständ.
Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.
Dieser Artikel wurde erstmals im Dezember 2021 veröffentlicht.
Sie wollen Geschichte auch hören? „Attentäter“ ist die erste Staffel des WELT-History-Podcasts.