Vertriebene Menschen in Wad Madani
APA/AFP
Unzählige Vertriebene

Sudan in Gewaltspirale gefangen

Neun Monate nach Beginn der Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Milizen im Sudan hat die Krise ein neues Ausmaß erreicht: Der Alltag der Bevölkerung ist gezeichnet von Flucht, Gewalt und Plünderungen. Die Versorgungslage verschlechterte sich zuletzt zunehmend. Auf der Suche nach Schutz und Hilfe ziehen viele Vertriebene von Ort zu Ort, wie Geflüchtete der NGO Ärzte ohne Grenzen (MSF) nun berichteten.

„Zivilisten sind die einzigen, die leiden“, erzählt ein mehrfach vertriebener Sudanese der NGO. In der Hauptstadt Khartum kam es im April zu einem blutigen Machtkampf zwischen den Truppen von Militärherrscher Abdel Fattah al-Burhan und der paramilitärischen Gruppe Rapid Support Forces (RSF) seines früheren Stellvertreters Mohammed Hamdan Dagalo, bekannt als Hemeti. Eigentlich hätte RSF der Armee unterstellt und die Macht im Land wieder an eine zivile Regierung übertragen werden sollen. Stattdessen weiteten sich die Kämpfe im Frühjahr 2023 auf mehrere Regionen aus. Schätzungen zufolge wurden dabei mehr als 12.000 Menschen getötet.

„Die Situation wurde unerträglich“, erinnert sich eine aus der Stadt Omdurman – sie liegt neben der Hauptstadt Khartum – geflüchtete Frau an den Beginn der Gefechte. Gemeinsam mit ihren Kindern flüchtete sie wie viele andere aus dem Bundesstaat al-Khartum in den benachbarten Bundesstaat al-Dschasira. Die medizinische Versorgung an Ort und Stelle war mangelhaft. Besonders prekär ist die Lage, seitdem die Provinzhauptstadt Wad Madani im vergangenen Monat von den RSF-Milizen erobert wurde.

Vertriebene Menschen in Khartum
Reuters/El Tayeb Siddig
Die Kämpfe in Khartum setzten Mitte April eine große Fluchtbewegung in Gang

UNO-Büro: Millionen Menschen auf der Flucht

Innerhalb eines Monats seien mehr als 600.000 Menschen vor allem im Bundesstaat al-Dschasira neu vertrieben worden, berichtete das UNO-Nothilfebüro (OCHA) am Sonntag. In den vergangenen neun Monaten seien insgesamt mehr als 7,4 Millionen Menschen vertrieben worden oder ins Ausland geflüchtet. Die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner wurde vor Kriegsbeginn auf rund 48 Millionen Menschen geschätzt.

„Meine Familie und ich sind ursprünglich aus Darfur, aber wegen der gewaltvollen Zusammenstöße und der dortigen Krise sind wir nach Khartum gezogen, wo wir Binnenvertriebene wurden. Aber der Krieg folgte uns nach Khartum, deshalb gingen wir nach Wad Madani. Und so geht die Geschichte weiter“, sagte ein Familienvater der NGO MSF. Als es in Wad Madani Mitte Dezember zu Zusammenstößen kam, floh die Familie erneut. „Ich dachte mir: Wohin sollen wir nun gehen?“

Besorgnis über Kämpfe in wichtigem Erntegebiet

Die neuen Kampfgebiete in zentralen und östlichen Gebieten liegen nach Angaben von OCHA dort, wo die meisten Nahrungsmittel angebaut werden. Das mache die Versorgungslage noch schwieriger. Außerdem sollen von den Kämpfen inzwischen kulturelle Stätten betroffen sein: Das regionale Netzwerk für kulturelle Rechte berichtete, dass die RSF-Miliz in zwei archäologische Stätten der Insel Meroe, des Kernlandes des alten Königreichs Kusch, vorgedrungen sei. Meroe, das nördlich der Hauptstadt Khartum liegt, wurde 2011 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt.

Der Bedarf an humanitärer Hilfe steige indes weiter, berichtete OCHA. Die Verteilung sei aber wegen der Sicherheitslage, Plünderungen, bürokratischer Hürden, schlechter Telefonverbindungen und Geldmangel schwierig. Der Bedarf zur Unterstützung von fast 15 Millionen Menschen liege in diesem Jahr bei rund 2,7 Milliarden Dollar (rund 2,5 Mrd. Euro). Davon seien bisher 3,1 Prozent eingegangen.

Rick Brennan, regionaler Notfalldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), sprach am Montag auf einer Pressekonferenz in Kairo von einem „sehr schwierigen Arbeitsumfeld“. Erschwerend hinzu komme, dass es im Land zuletzt zu Ausbrüchen von Krankheiten wie Cholera, Masern, Polio, Dengue-Fieber und Malaria gekommen war.

Warnung vor „Generationenkatastrophe“

Das UNO-Kinderhilfswerk (UNICEF) warnte zuvor am Freitag vor einer „Generationenkatastrophe“ für die 24 Millionen Kinder im Land. Die Organisation schätzt, dass es sich bei der Hälfte der Vertriebenen um Kinder handle. Der Sudan sei mit der „größten Vertreibungskrise der Welt“ konfrontiert, sagte der UNICEF-Vertreter im Sudan, Mandeep O’Brien, der Nachrichtenagentur AFP. Die Zukunft des Landes stehe auf dem Spiel. 14 Millionen Kinder bräuchten dringend humanitäre Hilfe.

Gewalteskalation in Darfur

Besonders verheerend ist die Situation in den westlichen Darfur-Provinzen – in Darfur herrscht seit über 20 Jahren einer der schwersten Konflikte des Landes. Die jahrelang schwelenden Konflikte zwischen ethnischen Minderheiten wie den Masalit und den arabischstämmigen Milizen der RSF eskalierten durch den Machtkampf erneut.

Die Miliz Rapid Support Forces (RSF) ist aus Reitermilizen in der Region Darfur hervorgegangen, die für Menschenrechtsverbrechen berüchtigt sind. RSF werden Plünderungen, Massentötungen, Vergewaltigungen und ethnische Säuberung vorgeworfen.

Berichte von sudanesischen Flüchtlingen im Tschad zeichneten das Bild einer „unerträglichen Spirale der Gewalt mit Plünderungen, niedergebrannten Häusern, Schlägen, sexueller Gewalt und Massakern“, berichtete MSF kürzlich in einer Aussendung.

Hohe Sterblichkeit in Flüchtlingslagern

Die Ergebnisse der Umfrage, die das medizinische Forschungs- und Epidemiologiezentrum von Ärzte ohne Grenzen Epicentre im Vorjahr durchführte, zeige einen deutlichen Anstieg der Sterblichkeit seit Beginn des Konflikts im Sudan im April 2023 in den drei Flüchtlingslagern, in denen die Studie durchgeführt wurde. Am stärksten betroffen seien die im Lager Ourang untergebrachten Geflüchteten. Hier sei die Sterblichkeitsrate seit April 2023 um das Zwanzigfache gestiegen und habe 2,25 Todesfälle pro 10.000 Einwohner pro Tag erreicht. 83 Prozent der Getöteten seien Männer gewesen.

Die ethnische Dimension der Gewalt, die in politischen, wirtschaftlichen und ländlichen Rivalitäten zwischen den auf dem Territorium ansässigen Gemeinschaften wurzle, habe in der Hauptstadt Westdarfurs, al-Dschunaina, eine besondere Wendung angenommen. „Heute leben dort praktisch keine Masalit mehr“, so MSF.

Einer der jüngsten Gewaltausbrüche ereignete sich der Hilfsorganisation zufolge im November in Ardamatta, nordöstlich von al-Dschunaina. Berichten zufolge wurden Hunderte von Menschen getötet, als die Milizen die Kontrolle über das Gebiet übernahmen, in dem sich ein großes Lager für Vertriebene und eine Garnison der sudanesischen Streitkräfte befanden.

Kaum Aussicht auf Frieden

Eine Aussicht auf Frieden zwischen den Truppen von De-facto-Staatschef al-Burhan und den RSF-Milizen scheint in weite Ferne gerückt. Am Dienstag gab das sudanesische Außenministerium bekannt, seine Beteiligung an Vermittlungsbemühungen mit der regionalen afrikanischen Organisation IGAD einzustellen. IGAD habe den Sudan zuvor auf die Tagesordnung eines Treffens gesetzt, zu dem RSF-Führer Dagalo eingeladen war. Dagalo traf zuletzt mehrere afrikanische Staatschefs, darunter den südafrikanischen Präsident Cyril Ramaphosa und den kenianischen Präsidenten William Ruto.