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"Schüler müssen weiblicher werden": Lehrerin klagt an: Das Schulsystem benachteiligt Jungen!
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Bored little school boy in classroom looking out of window
Getty Images/J-Elgaard Schüler in einem Klassenraum

Alle sprechen nur davon, dass Frauen benachteiligt werden. Doch in der Schule ist die Welt eine andere, findet Sigrid Wagner. Sie habe in ihrer Zeit als Lehrerin immer wieder beobachtet, wie Mädchen bevorzugt werden, schreibt sie in ihrem Buch. FOCUS Online veröffentlicht einen Auszug.

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Als Mutter von vier Söhnen hat mich das Phänomen, dass Mädchen es häufig bedeutend leichter in der Schule haben, schon immer beschäftigt. Bei der Erziehung unserer vier Jungs und unserer Tochter haben wir immer Wert darauf gelegt, sie nicht verbissen geschlechtsspezifisch zu erziehen, sondern ihnen die gleichen Angebote zu machen: Die Jungs haben gleichermaßen gerne gekocht und gebacken wie die Tochter Möbel zusammengebaut oder ihr Zimmer tapeziert und gestrichen hat. Sie sind alle durch die, wie ich es nenne, „Kunstturnerschule“ gegangen.

Und doch haben meine Söhne im Vergleich zu meiner Tochter völlig andere Schulerfahrungen gemacht, und diese Unterschiede sehe ich (und auch sie selbst, übrigens) zu einem signifikanten Teil im Geschlecht begründet.

Und damit sind sie nicht allein, viele meiner Schülerinnen und Schüler berichten von unterschiedlicher Behandlung und Bewertung. Das hat meiner Ansicht nach auch damit zu tun, dass vor allem in den Grundschulen die Lehrerschaft überwiegend aus Frauen besteht. (…)

Jungen werden bei der Benotung benachteiligt

Selbstverständlich sind Frauen nicht qua Geschlecht die schlechteren pädagogischen Gegenüber für Jungen. (…) Es gibt aber auch Studien, die nahelegen, dass Jungen generell im Verhältnis zu Mädchen anders bewertet werden, unabhängig davon, ob Lehrer oder Lehrerinnen sie unterrichten: Eine Studie des „Aktionsrats Bildung“ – eines von der Wirtschaft beauftragten Expertengremiums aus Pädagogen und Sozialwissenschaftlern – stellte zum Beispiel fest, dass Jungen und Mädchen anders behandelt und unterschiedlich benotet werden.

Ein interessanter Aspekt dieser Untersuchungen ist die Einschätzung der Lehrer und Lehrerinnen, dass sie sich dem eigenen Empfinden nach zu zwei Dritteln mit ihrer Aufmerksamkeit den „rabaukigen“ Jungen widmen und deshalb die Mädchen   mit besseren Noten „entschädigen“.

Zur Person

Sigrid Wagner wurde 1955 in Goslar geboren. Sie studierte an der Universität Hamburg Lehramt und war bis 2011 Lehrerin an allen Sekundarstufen in zwölf verschiedenen Fächern und in zwei Bundesländern, der Pfalz und in NRW. Zuletzt war sie an einer Förderschule in NRW tätig.

Ich habe aber auch unabhängig von der Notengebung Bedenken, welche Auswirkungen der hohe Frauenanteil auf die Schüler hat. Für mich verhält es sich damit ähnlich wie mit reinen Frauen- oder Männerchören: Jeder für sich kann ganz wunderbar klingen. Allerdings kommen die ganze Kraft und das Potenzial von Chormusik erst bei einem gemischten Chor voll zum Tragen.

Lehrerinnen und Lehrer haben nun mal unterschiedliche Herangehensweisen an den Unterricht. Und wenn man einmal sorgsam beobachtet hat, wie freudig sich Kinder, gerade in der Grundschule und schon im Kindergarten, auf die wenigen männlichen Lehrer oder Erzieher „stürzen“ und um ihre Aufmerksamkeit buhlen (und das tun übrigens auch die Mädchen), dann spricht dies eine ganz eigene Sprache. Es ist neben einem atmosphärischen Thema auch eines, das auf das Verhalten der Jungs maßgebend einwirkt, wenn nicht unbedingt während der Schulzeit, dann doch vielleicht danach im Berufsleben.

Grundschullehrer bestätigen das: Jungen suchen sich und brauchen männliche Vorbilder. Das schlage, berichten sie, sich auch ganz konkret auf den Unterrichtsstoff nieder; auffällig sei zum Beispiel das positive Verhalten der Jungen gegenüber Lehrern im Sexualkundeunterricht. Jungen hätten oft ganz andere Fragen als die Mädchen und trauten sich eher, diese den Kollegen als den Kolleginnen zu stellen.

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Schüler müssen "weiblicher werden", um vor den Lehrern bestehen zu können

So hat unser Schulsystem mittlerweile einen neuen männlichen Schülertypus geprägt, der sich ständig gezwungen sieht, in „weibliche“ Verhaltensmuster zu schlüpfen, um schulisch einigermaßen über die Runden zu kommen. Ich weiß, dass ich hier pauschalisiere, wenn ich solch allgemeine Aussagen über „die Mädchen“ und „die Jungs“ treffe. Natürlich gibt es auch unter den Mädchen die Unangepassten und bei den Jungen die Stillen, Sanften. Und man kann sich stundenlang darüber streiten, woher dieses „typisch männlich“ oder „typisch weiblich“ kommt, ob die Gene, die Hormone oder das soziale Umfeld und die Erziehung zu geschlechtsspezifischem Handeln führen.

Aber meine Beobachtungen aus fast einem Vierteljahrhundert Berufstätigkeit als Lehrerin und als Mutter von vier Jungen und einem Mädchen haben es immer wieder gezeigt: Viele Lehrerinnen legen Wert auf Zurückhaltung, Sanftmut, Fleiß und Disziplin – und eher keinen Wert auf einen robusten und derben Humor oder einen kritischen Geist.

„Ich kann halt nicht so ,schwallen' wie die Mädchen.“

Erstere Attribute finden sie vornehmlich bei Mädchen, erwarten diese aber auch von den Jungs. Im Verhalten und in den Denkmustern der Mädchen erkennen sie sich leichter selber. Und das hat Folgen für die Notengebung: (…) O-Ton eines meiner Schüler, der sich über die Bevorzugung der Mädchen in der Lerngruppe einer Kollegin beschwerte: „Ich kann halt nicht so ,schwallen' wie die Mädchen.“

Im Schulalltag, dort, wo sie die überwiegende Zeit ihres Tages verbringen, fehlen den Jungen männliche Vorbilder. Stattdessen werden sie bei jedem Verhalten, das nicht dem Bild des „Idealschülers“ entspricht, gedeckelt. (…)

Auch formale Kriterien spielen bei der Bevorzugung von Mädchen eine große Rolle. Da wäre zum Beispiel die vergleichsweise ordentlichere Heftführung vieler Mädchen, die dem geplagten Lehrerauge schmeichelt. Eine schöne Schrift vereinfacht das Lesen von Heften und Klassenarbeiten, auch bunt Unterstrichenes hilft dem Lehrer beim Betrachten. Manche Hefte sind so liebevoll geführt, dass man sie am liebsten in Schaukästen im Schulgebäude ausstellen möchte.

Bei schlechten Noten helfen Tränen

Auch theatralisch haben Mädchen oft einiges mehr zu bieten als Jungs. Bekommt eine Schülerin eine schlechte Note zurück, dann ist oft ganz großes Kino angesagt. Sturzbachähnlich schießen die Tränen per Knopfdruck in Richtung Lehrer, dessen Herz auch prompt dahinschmilzt: „Na gut, Sabrina, weil du es bist, kriegst du dieses Mal die Zwei. Das bleibt aber die Ausnahme!“ Nein, bleibt es nicht, weil Sabrina genau weiß, wie sie ihre Tränen instrumentalisiert. Habe ich Kollegen vorsichtig meine Beobachtungen mitgeteilt und auf die Vorgehensweise besagter Mädchen hingewiesen (denn „Sabrina“ war nicht die Ausnahme), reagierten die Kollegen meist sehr pikiert oder verteidigten sogar das Verhalten des jeweiligen Mädchens: Sie sei eben äußerst clever. (…)

Das „Abkoppeln“ von Jungs vom Unterrichtsgeschehen ist vor allem ab Jahrgangsstufe sieben Programm. Viele Lehrer, vor allem die weiblichen Lehrkräfte, bekommen meiner Erfahrung nach Probleme mit der psychischen und physischen Umstellung von Pubertierenden. Mädchen durchleben die Pubertät anders als Jungen. Sie sind oft emotional durchgeschüttelt, beschäftigen sich intensiv mit ihrer körperlichen Veränderung. Teilweise ziehen sie sich zurück. Lachen und Weinen liegen dicht beieinander.

Sie erstarken nach anfänglichen Unsicherheiten und gewinnen zunehmend an Selbstbewusstsein – sie entwickeln sich schlichtweg schneller als ihre gleichaltrigen Klassenkameraden. Mit all diesen Veränderungen stören sie den Unterricht nicht bedeutsam. Natürlich gibt es Ausnahmen, es sei hier aber von der überwiegenden Mehrzahl der Schülerinnen die Rede.

Die Pubertät der Schüler überfordert viele Lehrer

Anders sieht es bei vielen Jungs aus: Sie provozieren, sind risikobereiter und haben oft Ideen, die mit dem erwachsenen Verstand kaum nachzuvollziehen sind. Allein die Tatsache, dass das Wachstum des Gehirns bei Jungen zu einem späteren Zeitpunkt abgeschlossen ist als das bei Mädchen, erklärt vielleicht, warum der vermeintliche „Blödsinn“, den die Jungs verzapfen, vergleichsweise lang andauert.

Dem zu begegnen, überfordert viele Lehrer. Tagtäglich müssen vornehmlich Jungs an extra Tische: Entweder in direkte Reichweite des Lehrers, der in Folge keine Gelegenheit auslässt, den Schüler vor der Klasse bloßzustellen, weil er das für ein probates Mittel gegen Pubertätsverhalten hält. Oder der Schüler wird ganz nach hinten im Klassensaal strafversetzt, wo er dann auch noch räumlich im Nichts versinkt.

Wer kann es ihnen verübeln, dass sie unter solchen Voraussetzungen zunehmend das Interesse am Unterricht verlieren? Schule ist der Ort, an dem sie offensichtlich fehl am Platze sind, weil sie nicht der Norm entsprechen. Dann entsteht ganz schnell das Bild vom faulen Schüler, der zu nichts zu motivieren ist, der sich aus scheinbar „unerklärlichen Gründen“ zurückzieht oder, im Gegenteil, ständig stört und aufbegehrt. Viele Jungen fühlen sich in der Schule schlichtweg unverstanden, benachteiligt und alleingelassen, sie sind frustriert, nicht wenige werden sogar depressiv. (…)

Vielen Lehrern mangelt es einfach an Selbstbewusstsein, Phantasie und Einfühlungsvermögen, um mit aufmüpfigen Schülern richtig umzugehen. Wie viele unzählige Lehrgänge und Fortbildungen zur Binnendifferenzierung werden Lehrern jedes Jahr angeboten? Aber Praktizieren im Schulalltag? Fehlanzeige. Seit Jahren fühlen sich zunehmend mehr Bildungspolitiker auf den Plan gerufen, um in politischen Diskussionsrunden zu dem Thema auf Wählerstimmenfang zu gehen. Kolloquien für Erziehungswissenschaftler, Klausurtagungen für Bildungsexperten finden statt, sogar im Deutschen Bundestag stand im Oktober 2015 das Thema „Benachteiligung von Jungen im Bildungswesen“ auf der Agenda. Zahlreiche Artikel sind in Zeitungen und Zeitschriften zu der Problematik erschienen, bis heute. Es wird sogar wieder der Ruf nach getrennten Jungen- und Mädchenschulen laut. (…)

Abstruse Erziehung zu mehr "Männlichkeit"

Ob getrennter Unterricht wirklich die Lösung ist? Ob man nicht vielmehr danach fragen sollte, wie gemeinsames Lernen besser funktioniert und was man voneinander lernen kann? Problematisch finde ich, dass eine Ursache für die abgehängten Jungs nicht in den Fokus gerät: das falsche Lehrerverhalten. Nein, die Lehrerinnen und Lehrer tragen natürlich keine Mitschuld an den Ungerechtigkeiten. Es sind die falschen Konzepte und Inhalte im Lehrplan!

Welche absurden Folgen diese Auffassung hat, wird im Sportunterricht an deutschen Schulen deutlich. Wir müssen den Jungen entgegenkommen, zurück zur „Männlichkeit“, schrieben sich die Bildungspolitiker in Nordrhein-Westfalen auf die Fahnen – und deshalb steht jetzt dort das Themenfeld „Ringen und Kämpfen“ im Sportunterricht auf dem Lehrplan. Ein enger, von den Mitschülern feixend beobachteter Körperkontakt (am besten noch mit dem anderen Geschlecht) ist ja genau das, was sich pubertierende Heranwachsende wünschen.

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Buchtipp

Der Text basiert auf einem Auszug aus dem Buch von Sigrid Wagner "Das Problem sind die Lehrer. Eine Bilanz". Hier können Sie es bestellen.

 

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