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Artikel 10 / 38

OTTO JOHN Sie nannten ihn Bumerang

aus DER SPIEGEL 31/1954

In seinem Rhöndorfer Rosengarten am Zennigsweg erfuhr Bundeskanzler Konrad Adenauer am Donnerstag früh vergangener Woche von seiner Sekretärin Lucie Hohmann die unglaublichste Nachricht seit Bestehen der Bundesrepublik: das Verschwinden Otto Johns in Berlin.

Die Hiobsbotschaft drang nicht unter des Kanzlers Haut. Lakonisch stimmte er ihrer Veröffentlichung durch das Bundespresseamt zu und bestätigte dann seinen Entschluß, zur Mittagsstunde abzureisen in sein traditionelles Urlaubslager Bühlerhöhe im Schwarzwald.

Otto John, 45, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, war mit seiner Gattin Lucie Marlén, 52, nach Berlin geflogen, um teilzunehmen an den Gedenkfeiern für die Opfer des 20. Juli 1944. Auch Otto Johns Bruder Hans gehört zu den Opfern dieses Tages.

Schon im Flugzeug nach Berlin, so glaubten sich Mitreisende hinterher zu erinnern, habe Otto John ein ungewöhnliches Gebaren an den Tag gelegt. Beim Aussteigen habe er, obgleich er unmittelbar neben der Flugzeugtür saß, erst alle Passagiere aussteigen lassen und ihnen dabei den Rücken zugedreht.

Schon auf dem Flughafen Tempelhof habe er gesagt, er verzichte auf alle Bedeckungs- und Sicherungsmaßnahmen, die für ihn vorgesehen waren. Er sei Manns genug, selbst auf sich aufzupassen. Die Johns stiegen im Hotel Schaetzle am Grunewald ab.

Auf dem Empfang, den der Westberliner Senat am 19. Juli abends um 7.30 Uhr im Haus Gerhus für die Angehörigen der Hingerichteten gab, fiel Otto John wieder auf.

Gute Bekannte des Bonner Abwehrchefs, wie der Graf Kielmansegg und Achim Oster aus der Dienststelle Blank, mußten erleben, daß Otto John sie gar nicht begrüßte oder bei den Unterhaltungen durch seine Gesprächspartner hindurchzusehen schien, mit seinen Gedanken offenbar siriusweit entfernt.

Einen anderen Berufskollegen stellte Otto John an diesem Abend dreimal seiner Frau vor. Und sogar Prinz Louis Ferdinand, der Chef des Hauses Hohenzollern, der auch im Hotel Schaetzle abgestiegen war und für gewöhnlich in der Öffentlichkeit mit Aufmerksamkeiten seines bürgerlichen Freundes John überhäuft wird, wurde auf diesem Empfang von dem Verfassungsschutz-Präsidenten vernachlässigt.*)

Am nächsten Morgen, am 20. Juli, fand in der Jesus-Christus-Kirche zu Dahlem der Gedenkgottesdienst für die Opfer der Verschwörung gegen Hitler statt. Otto John, der noch auf der Vorjahrsfeier zu Füßen des Denkmals im Hof der Bendlerstraße kaltschnäuzige Bemerkungen über ein paar schluchzende Frauen hatte fallen lassen, verließ das Gotteshaus diesmal selbst sichtlich mitgenommen, mit rotgeränderten, verweinten Augen.

Bei der Gedenkfeier an der Hinrichtungsstätte in Berlin-Plötzensee hat Otto John dann mit seinem Schluchzen solch Aufsehen erregt, daß Teilnehmer in den vorderen Reihen sich mißbilligend umsahen. Einige Damen, die hinter ihm saßen, hatten den Eindruck, die Quelle dieses Schmerzes könne nach so langer Zeit doch unmöglich Trauer um des Bruders Tod sein. Sie meinten, Otto John müsse wohl simulieren.

Nach Schluß aller offiziellen Feierlichkeiten nahm Prinz Louis Ferdinand an diesem Tage seinen Freund beiseite und lud ihn für den Abend ein. Otto John wehrte ab. Er erwarte um 5 Uhr in seinem Hotel im Grunewald Besuch aus der Sowjetzone. Nun, dann eben hinterher, schlug der Prinz vor. »Ich kann nicht«, lehnte Otto John wieder ab.

Programmgemäß empfing Otto John gegen 5 Uhr seinen Sowjetzonenbesuch, der mit seinem späteren Verschwinden nichts zu tun hat. Seine Frau zog sich mit Migräne zurück, noch ehe die Bekannten gegangen waren. Otto John erschien gegen 7 Uhr im Zimmer seiner Frau. Der Besuch sei fort. Er habe jetzt noch eine Verabredung mit gemeinsamen Bekannten. Er schaue später noch einmal bei ihr herein.

Dann ging er in sein eigenes Zimmer, da das Ehepaar, wie üblich bei auswärtiger Übernachtung, getrennt wohnte. Dort leerte er alle seine Taschen aus und legte Brieftasche,

*) Prinz Louis Ferdinand berichtet in seinen Erinnerungen »Als Kaiserenkel durch die Welt«, Otto John habe schon 1937 im Gespräch »politische Sympathien für meine Familie durchblicken« lassen. Otto John, der sich mit Louis Ferdinand sehr anfreundete, war der Kontaktmann zwischen Widerstandskreisen und dem Hohenzollernprinzen. Papiere, Dienstpaß, Kofferschlüssel und Briefe auf den Tisch. Er streifte auch die Kette ab, an der er auf der bloßen Brust den Schlüssel zu seiner Geheimkassette trug, und legte sie daneben.

Der Chef des deutschen Geheimdienstes, der von Amts wegen mit mehreren Ausweisen auf verschiedene Namen zu reisen pflegte, die ihn beispielsweise als hohen Funktionär der Wasser- oder Forstwirtschaft auswiesen, steckte an diesem Abend nur sein Geld - etwa 750 Mark - und einen falschen Personalausweis ein. Um 19.40 Uhr verließ er das Hotel in einem Wagen, den das Hotel bei einem Kraftfahrzeugunternehmen für seine Gäste gechartert hatte.

Die wenigen Sicherheitsvorkehrungen, die zum Schutz des Chefs des deutschen Nachrichtendienstes auf der kleinen Westberliner Insel im roten Meer getroffen waren, erloschen damit automatisch. Sie bestanden ohnehin nur in einem Begleiter, der Adjutantendienste tat, einem Dienstwagen mit erprobtem Chauffeur - den er während der Berliner Tage nie benutzte - und darin, daß Otto John tagsüber alle zwei bis vier Stunden in der Berliner Zentrale seines Amtes anrief, um mitzuteilen, wo er sich aufhalte; von abends 8 Uhr bis morgens 8 Uhr ruhte auch diese Vorsichtsmaßnahme.

Etwa zu der Zeit, zu der John mit dem Auto abgefahren war, hatte Louis Ferdinand nach einem langen Stadtbummel mit seinem Freund Horst Behrend, Manager einer evangelischen Westberliner Theatergruppe (SPIEGEL 44/1953), das Hotel Schaetzle wieder betreten. Er ging sofort in sein Zimmer.

Zehn Minuten später klopfte Frau John und fragte: »Habt ihr meinen Holden nicht gesehen?« Darauf Louis Ferdinand: »Ich habe keine Ahnung, wo Otto ist.« Frau John: »Ich habe bis eben geschlafen, mir ist so elend durch diesen ganzen Zirkus.«

Als um 20.15 Uhr Otto John - der sich gegen 19 Uhr bei seiner Frau verabschiedet hatte - noch nicht da war, begannen

Louis Ferdinand und sein Begleiter mit Frau John allein zu essen. Sie sagte lediglich: »Wahrscheinlich ist ihm was dazwischengekommen - ich bin froh, wenn wir erst Donnerstag wieder zu Hause sind.«

Gegen halb zehn Uhr sagte Frau John, daß sie zu abgespannt sei, um weiter aufzubleiben. Sie bestellte sich eine Flasche Rotwein und ging zu Bett.

Otto John hatte dem Fahrer des Mietwagens, Horst Bartelke, 38, aus Schöneberg, gesagt, er möge ihn zum »Maison Française« am Kurfürstendamm fahren. Horst Bartelke verbesserte seinen Fahrgast, er meine wohl »Maison de France« (Frankreich-Haus). Nach rund zehn Minuten Fahrt setzte Horst Bartelke den Otto John vor dem »Maison de France« ab. Er bekam von seinem wortkargen und verfallen aussehenden Fahrgast 50 Pfennig Trinkgeld und achtete dann nicht mehr darauf, ob Otto John wirklich in das »Maison« ging.

Im Restaurant des »Maison« warteten zwei Offiziere des britischen Nachrichtendienstes, die sich hier mit Otto John für 8 Uhr verabredet hatten. Aber John kam nicht. Schließlich rief einer der Engländer im Hotel Schaetzle bei Frau John an: Wo denn ihr Gatte bleibe? Frau John sagte, er habe wohl noch eine Verabredung mit Bekannten aus der Sowjetzone.

Statt in das »Maison de France« muß der berlinkundige Abwehrchef ein paar Schritte weiter in die Uhlandstraße 175 gegangen sein. Dort wohnte der seit Jahren mit Otto John befreundete Gynäkologe und Chirurg Dr. Wolfgang Wohlgemuth, der nach der »Röhm-Affäre« 1934 vier Monate »wegen kommunistischer Umtriebe« festgesetzt worden war, den Krieg als Stabsarzt der Luftwaffe überstanden und nach dem Zusammenbruch die Praxis von Hitlers Leibarzt Dr. Morell in Westberlin übernommen hatte. Wohlgemuth hatte als Assistent Sauerbruchs in der Charité in Ostberlin gearbeitet.

Wohlgemuth, Sohn eines Leipziger Musikwissenschaftlers, war als Berliner

Student Mitglied der kommunistischen Jugendbewegung geworden, von der er sich in späteren Jahren zurückzog, weil ihn sein Studium und seine Arbeit voll beanspruchten.

Seine Freizeit widmete er von jungen Jahren an dann ausschließlich der Liebe und dem Trompetenblasen. Er verfaßte eine wissenschaftliche Arbeit über den Lippenansatz beim Trompetenblasen. Vom Trompeter-Star des Rias-Tanzorchesters, Macky Kasper, behauptete Wohlgemuth mehrfach unwidersprochen: »Dem habe ich den Lippenansatz und das richtige Blasen erst beigebracht.«

Nach dem Krieg war Wohlgemuth häufiger Gast amerikanischer Soldatenklubs, in denen er oft nächtelang den Besetzern auf der Trompete New-Orleans-Melodien vorspielte. Er besaß drei Wohnungen, drei Autos - einen amerikanischen Ford-Wagen, der noch nicht ganz bezahlt war, einen Volkswagen und einen als Ambulanz eingerichteten VW-Bus, der vorsorglich in Hamburg als Basis einer neuen Existenz untergestellt werden sollte - und war dreimal verheiratet.

Seine dritte Wohnung*) in der Lietzenburger Straße 27, eine Atelierwohnung im 5. Stock, diente dem geachteten Arzt als Bohème-Oase. Hier spielte er seinen Freunden stundenlang amerikanische Jazz-Platten vor und empfing jene weiblichen Besuche, die er nicht mit zu sich nach Hause nehmen mochte.

Über einen Mangel an solchen Besuchen hatte er niemals zu klagen. Der Arzt war dafür bekannt, daß er sein Geld großzügig für alle Annehmlichkeiten des Lebens ausgab. Er folgte dem Beispiel Sauerbruchs: Er nahm es von den Reichen und behandelte Bedürftige umsonst. Mit ständig rund 200 Privatpatienten und 400 Kassenpatienten stand er mit an der Spitze der medizinischen Großverdiener.

Während des Krieges hatte dieser Wolfgang Wohlgemuth den von der Gestapo verfolgten Hans John, den Bruder Ottos, behandelt. Es war dies nicht nur ein Verhältnis von Arzt zu Patient, sondern es war das Verhältnis zweier politisch Gleichgesinnter, denen der Faschismus Hitlers ein Greuel war. Auf dieser Basis gründete sich auch das spätere Freundschaftsverhältnis zu Otto John.

Auch nachdem Otto John Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz geworden war, hat er bei seinen häufigen Berlin-Besuchen jedesmal Wolfgang Wohlgemuth aufgesucht, kaum dagegen das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz, das von diesen Besuchen überhaupt nichts erfuhr. Die Besuche waren gänzlich privat. Wohlgemuth führte seinen Freund, der ohne jede Bedeckung gekommen war, durch Berliner Homosexuellenlokale.

Dem Berliner Verfassungsschutz hatte Otto John häufig gesagt, für ihn sei eine Reise nach Berlin zu umständlich, man solle zu ihm nach Köln kommen, wenn etwas zu besprechen sei. Sein erstes intensives Aktenstudium bei den Berliner Kollegen trieb er in den Tagen unmittelbar vor seinem Verschwinden.

Wolfgang Wohlgemuths geschiedene zweite Frau, die Schauspielerin Ingrid Lutz (erste Frau: Schauspielerin Charlotte Thiele), sagt über ihren ehemaligen Mann: »Er war ein Arzt aus Leidenschaft und weiter nichts. Er arbeitete wie ein Tier

*) Die zweite Wohnung Babelsberger Straße 50 wird von Wohlgemuths dritter Frau Rosemarie, 20, bewohnt. Der Arzt hatte seine Gattin kennengelernt, als sie ihn, noch minderjährig, in seiner Praxis konsultierte. Im Anschluß an die Behandlung legte Rosemaries Großmutter dem Arzt nahe, ihre Enkelin zu heiraten. Er tat dies, richtete Rosemarie die Wohnung ein und verlangte von ihr, sie solle sich nicht Frau Wohlgemuth nennen. Die Ehe war in letzter Zeit stark gefährdet. und kannte nichts als seine Arbeit. Frauen natürlich ausgenommen.

»Politisch war er überhaupt nicht profiliert. Er war der Typ, der eben immer widersprechen mußte. Darum ist es durchaus möglich, daß er bei irgendwelchen Anlässen so etwas wie kommunistische Reden schwang. In seiner Bibliothek zum Beispiel gab es kein einziges politisches Buch, nur medizinische Werke. Ich halte es für absoluten Unsinn, zu behaupten, er sei jemals ein Kommunist gewesen. Sein Traum war eine eigene Klinik. Seine Leidenschaft war die Charité.«

Amerikanische, deutsche und englische Abwehrstellen hatten Otto John mehrmals vor seinem Freund Dr. Wohlgemuth gewarnt. Besonders der britische Secret Service hatte ein Auge auf Dr. Wohlgemuth geworfen, hielt ihn für einen Ostagenten, überwachte ihn laufend und hatte auch bereits so viel Material gegen ihn gesammelt, daß ihm ein Eingreifen gerechtfertigt schien. Solche Schritte gegen Dr. Wohlgemuth unterblieben nur deshalb, weil nach englischer Abwehrerfahrung ein erkannter und ständig unter Beobachtung stehender Agent mehr wert ist als ein unschädlich gemachter Spion.

Otto John setzte sich über alle Warnungen hinweg. Noch vierzehn Tage vor seiner Abreise nach Berlin hatte er Dr. Wohlgemuth im Bundesverfassungsschutzamt zu Köln empfangen. Gemeinsamen Bonner Bekannten schlug der Dr. Wohlgemuth bei diesem Besuch vor, sie sollten doch ihre 18jährige Tochter als Reisebegleiterin der Frau John mit nach Berlin zur Seite geben, denn »Frau John wird in Berlin sehr einsam sein ...«. Als John dann nach Berlin reiste, mußte ihm seine Sekretärin, Frau Schwarte, Name und Adresse Wohlgemuths extra auf einen Zettel notieren.

Etwa eine Stunde nachdem Otto John am Dienstagabend das Haus des Wolfgang Wohlgemuth in der Uhlandstraße 175 betreten haben muß, sah die Portiersfrau, wie der Mieter Dr. Wohlgemuth gegen neun Uhr abends mit einem ihr unbekannten Herrn das Haus verließ.

Kurz nach neun Uhr passierten, wie ein Westberliner Zollbeamter vor der Polizei ausgesagt hat, Wolfgang Wohlgemuth und Otto John die Sektorengrenze an der Sandkrugbrücke. Der Beamte fragte wie üblich: »Haben Sie was zu verzollen?«, worauf er die Antwort bekam: »Wir wollen in die Charité.«

Der Zollbeamte machte die Autoinsassen wie üblich darauf aufmerksam, daß sie jetzt in den Sowjetsektor führen. Er hörte die Antwort: »Da wollen wir ja hin.« Dann verschwand das Auto im Sowjetsektor.

Nicht sehr viel später kam Dr. Wohlgemuth vor der Charité in Ostberlin vorgefahren, aber nun allein und in einer Ostberliner Taxe. Er fragte, ob er im Zimmer eines Assistenzarztes übernachten könne.

In der Aufnahme der Charité sagte Wohlgemuth wörtlich zu einem ihm bekannten Arzt: »Ich habe mich auf eine Dummheit eingelassen! Der hat mich reingerissen! Und meinen Wagen bin ich auch noch los!«

Nach einer Weile ließ er sich mit einem Charité-Auto zur Sektorengrenze fahren. Er ging aber nicht nach Westberlin, sondern kam zu Fuß wieder in das Krankenhaus zurück. Da fuhr plötzlich sein Ford, von einem älteren Mann gesteuert, vor: Wohlgemuth sagte: »Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr!« Dann stieg er in sein Auto und fuhr davon.

Um Mitternacht beobachtete die Portiersfrau im Hause Uhlandstraße 175 in Westberlin, wie ihr Mieter Wohlgemuth wieder

vor dem Hause parkte. Um fünf Uhr morgens am 21. Juli habe er wieder das Haus verlassen und sei mit seinem Kraftwagen weggefahren, sagt sie. Zu dieser frühen Stunde hat Wohlgemuth auch noch einmal an seiner Stamm-Tankstelle getankt.

Das ist das letzte, was der Westen positiv von dem Verbleib des westdeutschen Nachrichtenchefs und seines Begleiters weiß. Am anderen Morgen gegen neun Uhr informierte Frau John den Adjutanten ihres Gatten, der mit im Hotel Schaetzle wohnte, und der Adjutant rief das Berliner Verfassungsschutzamt an. Frau John gab später zu Protokoll, es sei zwar schon öfters vorgekommen, daß ihr Mann einmal eine Nacht auswärts bliebe. Stets habe er dann aber am nächsten Morgen gemeldet, wo und in welcher Verfassung er sich befinde.

Gegen halb neun Uhr kam die zweite der zwei Sprechstundenhilfen des Dr. Wohlgemuth in dessen Praxis und fand dort eine Notiz ihres Chefs in dessen unverkennbarer Kugelschreiberschrift vor:

Liebe X. (die zweite Sprechstundenhilfe), ein bestimmter Vorfall, der eventuell einen falschen Verdacht auf mich lenken könnte, veranlaßt mich, heute in die Charité zu gehen. Der Rechtsanwalt Y. erhält hiermit die Vollmacht über mein E gentum. Setz Dich mit Z. in Verbindung. Es handelt sich darum, daß Herr John nicht mehr nach dem Westsektor zurückkehren will. Er hatte in der Charité anläßlich einer Besichtigung ein Gespräch mit Ostberliner Kollegen geführt. Nun könnte ich dadurch in Verdacht geraten, ich hätte ihn beeinflußt. Bis zur Klärung werde ich abwarten. Auf Wiedersehen, eventuell in der Charité. O. (die erste Sprechstundenhilfe) bringt Sachen mit rüber. Sie wird alles berichten. Hat nichts mit allem zu tun.

Gegen halb zehn rief die Sprechstundenhilfe einen Bekannten an und erzählte von der Mitteilung ihres Chefs. Dieser Bekannte alarmierte die Westberliner Polizei.

Genau 24 Stunden, nachdem Johns Adjutant Alarm gegeben hatte, am Donnerstagmorgen, dem 22. Juli, um 9 Uhr, kamen

die westdeutschen Kriminalisten vom Bundeskriminalamt, dem Verfassungsschutzamt und der Westberliner Polizei auf Grund aller Ergebnisse, die ihnen bis dahin zugänglich waren, nicht zuletzt auf Grund dieses Briefes, zu der Schlußfolgerung, daß der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz freiwillig die Unfreiheit gewählt hatte. In Bonn begann ein Zirkus ohnegleichen.

Im Bundeshausrestaurant wehten die Gerüchte von Tisch zu Tisch der Journalisten, die Bundesbehörden gaben abwechselnd bekannt, daß Otto John entführt oder entwichen sei. Der Wirrwarr wurde verstärkt durch die Abwesenheit der zuständigen Beamten und Politiker.

Bundesinnenminister Schröder war an diesem Morgen mit sorgsam eingepacktem Frack zu den Bayreuther Festspielen gefahren, der Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Hans Globke, befand sich zur Kur in Bad Gastein. Otto Johns Stellvertreter im Amt, Radtke, war ebenfalls auf Ferienreise, und gegen Mittag verließ auch der Kanzler noch Bonn.

Am nächsten Tage zitierten die zur Bundesratssitzung in Bonn weilenden Ministerpräsidenten den Leiter der Polizeiabteilung im Innenministerium, Ministerialrat Egidi, ins Bundeshaus. Wenige Stunden später fand eine Kabinettssitzung statt, vom Vizekanzler eingedenk seiner »Vulkan«-Blamage im vorjährigen Kanzlerurlaub mit Scheu geleitet. Der gesamtdeutsche Minister Jakob Kaiser, der einst Otto John zu seinem Amt verholfen hatte, weigerte sich zunächst, zu erscheinen. Er erschien dann aber doch. Ziel all dieser fruchtlosen Besprechungen war es nur, festzustellen, ob Otto John freiwillig oder unter Zwang in den Osten hinübergewechselt war. Eine eindeutige Klärung gelang nicht.

Die Annahme, Dr. Otto John sei nach Ostberlin entführt worden, gründete sich zunächst auf Meldungen an die Westberliner Polizei, wonach John eine Taxe für die Fahrt zum »Maison de France« benutzt habe. Die Taxe aber und der Fahrer, so hieß es in den ersten Meldungen, seien nun seit dieser Fahrt vermißt. Inzwischen stellte sich heraus, daß John nicht mit einer Taxe, sondern eben mit einem vom Hotel gemieteten Wagen gefahren war.

Der Fahrer dieses Wagens, Horst Bartelke, hatte zufällig und ohne jeden Zusammenhang mit Johns Verschwinden sein Arbeitsverhältnis bei dem Kraftfahrzeugunternehmen zum 20. Juli gekündigt, um eine andere Stelle zu übernehmen. Horst Bartelke hatte denn auch nach der John-Fahrt noch einen anderen Hotelgast mit dem Mietwagen in die Innenstadt gefahren, den Wagen dann beim Unternehmen abgestellt und war schließlich, wie vorher verabredet, am 21. Juli dort nicht wieder erschienen. So entstand dann die Meldung, »Taxe« und Fahrer seien zusammen mit John verschwunden.

An jenem Freitag traf aus London um 11.20 Uhr auf dem Flughafen Wahn auch die Tochter aus erster Ehe von Otto Johns Frau, Gisela Mann, ein. Frau John war am Donnerstagabend unter Bewachung mit einem Nervenzusammenbruch von Berlin nach Bonn geflogen worden.

Und unbemerkt von den Auguren der provisorischen Bundeshauptstadt war am selben Tage auch ein bemerkenswerter Besuch aus England mit dem Hoek-van-Holland-Expreß am Rhein einpassiert und im Hotel Schaumburger Hof in Bad Godesberg abgestiegen: Sefton Delmer, Starreporter von Lord Beaverbrooks Millionenblatt »Daily Express«, der als Deutschland-Propagandist im Foreign Office

im Kriege unmittelbarer Vorgesetzter des nach dem 20. Juli 1944 nach London emigrierten Otto John gewesen war.

»Ich bin rein zufällig hier«, sagt Sefton Delmer treuherzig. Eine Woche zuvor hatte er noch Reportagen aus Colombo geschrieben. Der britische Journalist kennt Otto John aus den Kriegstagen her besser als die meisten Bonner Politiker und Beamten. Er hat in London eines der entscheidendsten Kapitel im Leben des Otto John aus nächster Nähe beobachtet.

Das Attentat vom 20. Juli 1944 hatte Otto John, der von den Plänen der Verschwörer wußte, im OKH in der Berliner Bendlerstraße miterlebt. Er war einer der wenigen, denen es gelang unterzutauchen. Dank seiner Lufthansa-Verbindungen glückte ihm die Flucht durch die Luft nach Madrid. Er ließ sich - da er mit seinen damals 34 Jahren bereits Lufthansa-Syndikus war - auf die Besatzungsliste eines Flugzeuges setzen. Die Fluggäste wurden vor dem Abflug eingehend kontrolliert, die Besatzungsmitglieder nicht.

Unter falschem Namen wandte John sich in Madrid an den damaligen britischen Botschafter in Spanien, Sir Samuel Hoare. Ehe die Gestapo ihn in Madrid aufspürte und einen Auslieferungsantrag stellen konnte, floh Otto John weiter nach Lissabon.

In der portugiesischen Hauptstadt wurde er zum erstenmal verhaftet und eingesperrt. Für diese Arretierung gab es keinerlei politische Gründe. Schuld war vielmehr eine besondere Veranlagung des damals blendend aussehenden Junggesellen, die auch zu seiner Amtszeit in der Bundesrepublik, zehn Jahre später, noch politische Auswirkungen haben sollte, obgleich sein Gesicht vom übermäßigen Trinken inzwischen aufgedunsen war und seine Haare, dunkel geworden, sich zu lichten begannen.

Einen Auslieferungsantrag des Dritten Reiches lehnten die Portugiesen jedoch ab. Im November 1944 wurde Otto John als politischer Flüchtling nach England eingeflogen. Beim ersten Start mußte die Maschine über Gibraltar umdrehen, weil sie wegen der Windverhältnisse dort nicht landen konnte. »Als ich nach Lissabon zurückkam«, erzählte Otto John später, »bekam ich den Spitznamen ''Bumerang''.«

In London erwartete Sefton Delmer den Otto John. Er holte ihn aus dem Internierungslager, das damals in englischen Schulen untergebracht war, und setzte ihn zunächst in der Auswertungsabteilung seines Stabes ein, in der auch das heutige Vorstandsmitglied der SPD, Fritz Heine, beschäftigt war.

Erste Aufgabe des Sefton Delmer war es, Otto John, wie allen Emigranten-Mitarbeitern, einen Decknamen zu verpassen. Da John schon ein spezifisch englischer Name war, bedachte ihn Delmer im Gegensatz zu anderen Emigranten mit einem spezifisch deutschen Pseudonym.

Hier, bei seiner Arbeit in MI 6, Public Branch, lernte Otto John eine junge Sekretärin Gisela kennen. Deren Mutter, Lucie Marlén, Schauspielerin und Tochter eines Berliner Emigranten-Professors, wurde wenig später seine Frau, obgleich sie sieben Jahre älter ist als er.

Nach der Kapitulation unterstützte Otto John die britische Anklagebehörde in Nürnberg bei den »Kriegsverbrecherprozessen«. Und nachdem er in London seine Zulassung als Anwalt durchgesetzt hatte, assistierte er auch der britischen Anklage im Prozeß gegen den deutschen Feldmarschall Fritz Erich von Lewinski, genannt von Manstein, im Hamburger Curio-Haus.

Es ist ein Gespräch überliefert, das John über den Fall Manstein später geführt hat. Sein Gesprächspartner sagte, die Strafe von achtzehn Jahren Gefängnis sei für den Marschall doch sehr hart. John antwortete erregt, man hätte ihn aufhängen sollen.

Dieser Otto John wurde im Dezember 1950 überraschend zum kommissarischen Leiter des neugeschaffenen Bundesamtes für Verfassungsschutz ernannt, später avancierte er zu dessen Präsidenten. Er war der siebte Kandidat. Seine sechs Vorgänger waren von den alliierten Besatzungsmächten abgelehnt worden, unter ihnen der Canaris-Vorgänger Admiral Patzig und der Widerständler Fabian von Schlabrendorff. Seine Ernennung hatte John ausschließlich den Engländern zu verdanken. Sie hatten sich für ihn stark gemacht.

Dr. Robert Lehr, damals Bundesinnenminister, gibt über die Anstellung Otto Johns diese Version: »Ich habe alle erreichbaren Quellen nachgeprüft. Diese Prüfung ist zu seinen Gunsten ausgegangen. Sonst hätte ich ihn nicht zum Präsidenten des Amtes vorgeschlagen. Man soll es John nicht übelnehmen, daß er den Waffendienst für Hitler ablehnte und daß er sich nach dem 20. Juli 1944 der Todesgefahr entzog.

»Ein Streit um die Besetzung des Amtes unter den Alliierten ist nicht an mich herangekommen. Wenn es ihn gegeben hat, ist er schon vor meiner Amtsübernahme im Innenministerium entschieden worden.

»Ich habe ohne Druck einer Besatzungsmacht und ganz selbständig meine Entscheidung getroffen. Für John fand ich eine ganze Reihe von Empfehlungen vor. Die Hauptempfehlung kam für mich und meine Beurteilung von Jakob Kaiser, der John aus der Widerstandsbewegung kannte. Nach der Beauftragung Johns, 1950. kurz nach meinem Amtsantritt habe ich ihn einige Monate unbestätigt im Amt belassen. Diese Probe hat er tadellos durchgehalten.«

Bundeskanzler Adenauer, der den Otto John vor seiner Ernennung einmal empfing, hatte dagegen nur einen mäßigen Eindruck:

»Er jefällt mir nicht.« In seiner ganzen Amtszeit als Präsident ist es Otto John daher auch nicht ein einziges Mal gelungen, noch einmal vom Bundeskanzler empfangen zu werden. Er drang mit den wichtigsten, geheimsten Nachrichten über staatsgefährdende und subversive Elemente nie weiter als bis ins Vorzimmer, zu Staatssekretär Otto Lenz und Personalchef Hans Globke.

Diese Entwicklung kam nicht von ungefähr. Der Schlüsselmann im Palais Schaumburg, Hans Globke, hatte von Anfang an nicht auf Otto John, sondern auf den General a. D. Reinhard Gehlen gesetzt, der im Auftrage der Amerikaner ein ebenso teures wie solides und umfassendes Nachrichtennetz aufgebaut hatte. Was der offizielle Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Otto John nie erreichte, konnte und kann General Gehlen über Hans Globke jederzeit erreichen: eine Unterredung mit dem Bundeskanzler.

Neben Gehlen und John hatte sich als dritter Nachrichtenchef in Westdeutschland der Oberstleutnant a. D. Friedrich Wilhelm Heinz im Amt Blank etabliert. Friedrich Wilhelm Heinz bat am 29. September 1953 seinen Chef Theodor Blank »in gegenseitigem Einverständnis« um Entlassung.

Otto John war an diesem Abbruch einer nachrichtendienstlichen Karriere nicht unbeteiligt gewesen. Er hatte in monatelanger Arbeit gegen Friedrich Wilhelm Heinz Verdachtsmomente dafür gesammelt, daß der militärische Abwehrchef der Bundesregierung mit ausländischen Nachrichtennetzen in Verbindung stehe.

Wichtiger Zeuge Otto Johns in diesem Streit war der holländische Agent Jan Eland gewesen (SPIEGEL 47/1953). Als Eland seine Schuldigkeit getan hatte, bezahlte ihm Otto John aus eigener Tasche mit einem Hundertmarkschein seine Ausreise in die Schweiz. Dort verschied Jan Eland - nachdem er zwischendurch in Holland war - in der Nacht vom 2. auf den 3. November im Hotel Walche in Zürich unter mysteriösen Umständen.

Damals wurde als wahrscheinlich eine absichtliche Überdosierung an Schlaftabletten als Todesursache angenommen. Kurze Zeit vor Otto Johns Verschwinden in Berlin jedoch hat die Schweizer Kriminalpolizei auf Grund neuerer Unterlagen die Untersuchung über den Tod Jan Elands wieder aufgenommen. Ihr Verdacht lautet: Mord.

Mit der Organisation Gehlen ist Otto John nie so direkt wie mit dem Friedrich Wilhelm Heinz aneinandergeraten. Die Rivalität zwischen den beiden Nachrichtendiensten aber bestand die ganze Zeit hindurch, obwohl die Dienste theoretisch eigentlich verschiedene Aufgaben haben: Gehlen soll offensiv im Osten erkunden, John sollte die Bundesrepublik vor subversiven Elementen schützen.

General Gehlen, der von seinem Hauptquartier Pullach bei München aus ungleich größere Mittel einsetzen konnte als Otto John, hängte den offiziellen Verfassungsschutz in mehreren Fällen klar ab.

Seine Meldungen wanderten mit Vorrang auf Konrad Adenauers Schreibtisch, während Meldungen aus dem Kölner Verfassungsschutzamt von der Bundeskanzlei in mehreren Fällen erst zur Gegenrecherche an die Organisation Gehlen weitergeleitet wurden. NS-Gegner John hegte schon deshalb einen besonderen Widerwillen gegen die Gehlen-Organisation, weil in ihr höhere SD-Führer aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt beschäftigt sind.

Kurz vor Otto Johns Verschwinden in Berlin fiel - wie im Fall Eland - auch im Fall der Gehlen-Organisation eine bemerkenswerte Entscheidung. Das Bundeskanzleramt entschloß sich, den gesamten

Apparat des Generals Gehlen zu übernehmen. Es bewilligte dem General einen jährlichen Etat von zunächst 26 Millionen Mark. Die Administration sollte dem Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Hans Globke, unterstellt werden; die politische Verantwortung sollte einem Parlamentsgremium übertragen werden.

Gegen diese Form der Übernahme, die praktisch alle Macht im Bundeskanzleramt vereinigt hätte, wandten sich zwar in einer Kabinettssitzung, in der Konrad Adenauer den Fall in aller Kürze erledigen wollte, Sicherheitskommissar Theodor Blank, Bundesinnenminister Gerhard Schröder (als Dienstvorgesetzter Otto Johns) und Finanzminister Fritz Schäffer, so daß eine endgültige, rechtsgültige Entscheidung noch nicht getroffen ist. Otto John aber wußte, daß dies nur ein Aufschub, keine Verhinderung des Endsieges des Generals Gehlen war.

Seine Stunde als Präsident des Verfassungsschutzamtes hatte geschlagen. Das beste, was er sich in der neuen Konstellation erhoffen konnte, war auf Grund seiner Luftfahrtvergangenheit im Dritten Reich ein Präsidentenposten in der neuen Deutschen Lufthansa. Aber die Lufthansa-Leute hatten es schon durchblicken lassen: Sie wollten einen Mann mit der Vergangenheit Otto Johns nicht.

Dazu wurde die öffentliche Kritik an den Praktiken des Amtes John immer stärker. Der Bundestag debattierte in aller Öffentlichkeit das Versagen des Verfassungsschutzamtes in der »Aktion Vulkan«, und Baden-Württembergs ehemaliger Ministerpräsident Reinhold Maier überführte das Amt der innerpolitischen Spitzelei gegen prominente demokratische Politiker. Otto John war mit seinem Latein am Ende. Eine beachtliche Rolle konnte ein Mann, der Manstein anklagte und jeden ehemaligen Nationalsozialisten heute noch unterscheidungslos und fanatisch haßt, auf die Dauer in der Bundesrepublik nicht mehr spielen.

Immer häufiger nahm der labile Mann mit dem unglückseligen Hang die Zuflucht zum Alkohol. »Die politische Entwicklung in der Bundesrepublik paßt mir nicht«, gestand er Freunden. Den herrschenden politischen Kräften in der B undesrepublik paßte auch Otto John nicht mehr.

In dieser Situation wurde der Präsident des Verfassungsschutzamtes von einem sowjetzonalen Agenten angelaufen. Im März dieses Jahres gestand Otto John seinem Freund Sefton Delmer - Delmer verfaßte eine von Unsinn strotzende Artikelserie über das Wiedererwachen des Nazismus in Deutschland, zu der John das Material lieferte - , daß der ehemalige Ribbentrop-Diplomat Wolfgang Freiherr Gans Edler Herr zu Putlitz ihn zum Überlaufen nach dem Osten aufgefordert habe.

Die DDR, so habe Putlitz gesagt, sei das wahre demokratische und antimilitaristische Deutschland, für das die Männer des 20. Juli gekämpft hätten. John werde es gut haben, wenn er hinüberkomme. Statt diesem Rat Folge zu leisten, hat John damals den britischen Sicherheitsbehörden vorgeschlagen, den Putlitz festzunehmen. Das ist aber nicht geschehen, und Putlitz ist ungehindert in die Sowjetzone zurückgekehrt.

Putlitz war im Krieg bei der deutschen Gesandtschaft im Haag beschäftigt gewesen. Auf Grund seiner homosexuellen Veranlagung war er von den Engländern erpreßt worden und desertierte schließlich nach London. Dort arbeitete er genau wie Otto John unter Sefton Delmer. Aber im Gegensatz zu Otto Johns ergebnislosen Bemühungen, nach dem Krieg britischer Staatsbürger zu werden, gelang es Putlitz, ein »British Subject« zu werden, ein englischer Staatsangehöriger. Von der britischen Militärregierung erst in Schleswig-Holstein

beschäftigt, desertierte Putlitz dann ein zweites Mal, diesmal nach Ostberlin, und wurde sowjetzonaler Agent.

Dem Putlitz war bei Otto John zunächst kein unmittelbarer Erfolg beschieden. Nun hatte Putlitz aber noch andere Trümpfe in der Hand:

Während des Krieges waren Geheimkarteien der Gestapo nach Thüringen verlagert worden. Später wußte niemand, wohin. Das Intelligence Corps der Westmächte hat zwar in den Kali-Schächten Thüringens viel Material gefunden, nicht aber die Gestapo-Karteien. Als die Sowjets später Thüringen von den Amerikanern übernahmen, haben sie noch einmal alles durchgekämmt, aber zunächst ebenfalls nichts von den Karteien gefunden.

Im Frühjahr 1946 hatte dann die damalige sowjetische Militäradministration an die deutsche Zentralverwaltung für Industrie den Befehl gegeben, unbeschadet jeglicher Rentabilitätsberechnung alle stillgelegten Kali-Schächte zur Förderung der Produktion wieder aufzubereiten - und bei dieser Gelegenheit wurden 1946/47 die Karteien gefunden. Sie sind heute im Besitz der Sowjets beziehungsweise des SSD.

An Hand dieser Karteien wurde bald eine systematische Werbung ehemaliger Gestapoleute in Westdeutschland, namentlich in der französischen Zone, betrieben. Unter den auf solche Weise in den Osten gelangten ehemaligen Gestapoleuten befanden sich auch drei, die heute Abteilungsleiter beim sowjetzonalen SSD sind.

Solange Zaisser an der Spitze des SSD stand, wurden diese drei Hauptabteilungsleiter sehr gefördert. Als Wollweber kam, wurden sie kaltgestellt, während sie - wahrscheinlich auf einen direkten Befehl vom sowjetischen Geheimdienst - inzwischen wieder in ihre Posten als Hauptabteilungsleiter eingesetzt worden sind. Aber ihr Chef Wollweber geht ihnen jetzt aus dem Wege. Von diesen drei Leuten wurde hauptsächlich die Werbung und Aufspürung weiterer ehemaliger Gestapomänner in Westdeutschland betrieben.

Zwei dieser ehemaligen Gestapoleute, die sich Egkerling und Rosentreter nennen, glaubten nun aus ihrer Erfahrung zu

wissen, daß der Präsident des Bundesverfassungsschutzamtes mit einem ehemaligen Gestapomitarbeiter identisch sei.

Es fanden sich Dokumente, aus denen hervorgeht, daß der Lufthansa-Syndikus Otto John während des Dritten Reiches für besondere Gestapoaufträge verpflichtet worden ist und diese Aufträge auch ausführte, wobei durchaus möglich ist, daß er von seinen Leuten des Widerstandes geradezu aufgefordert worden ist, sich in diese Sachen einzulassen.

In dieser Situation, da Otto John im Westen das Ende seiner Karriere heraufdämmern sah und im Osten Material über sich wußte, entschloß er sich, fast auf den Tag zehn Jahre nach seiner ersten Flucht, zum zweiten Frontwechsel.

Zwei Stunden, nachdem das Bundeskabinett - wieder einmal - unter Vorsitz von Vizekanzler Blücher auf Grund eines Berichtes des eben von den Bayreuther Festspielen zurückgekehrten Innenministers Gerhard Schröder Freitagabend beschloß, daß Otto John »nicht freiwillig das Bundesgebiet verlassen« habe und daß der Leiter des Bundeskriminalamtes, Dr. Hans Jeß, Johns Amt kommissarisch übernehmen solle, übertrug der Ostberliner Rundfunk eine Ansprache von Otto John, in der er verkündete, daß er (wie die britischen Diplomaten Burgess und MacLean) freiwillig übergewechselt sei:

In der Bundesrepublik ist mir die Grundlage für eine politische Aktivität entzogen worden. Nachdem ich in meinem Amt fortgesetzt von den sich überall im politischen und auch im öffentlichen Leben wieder regenden Nazis angeprangert worden bin, hat nunmehr der Herr Bundesinnenminister mir die weitere Arbeit in meinem Amt unmöglich gemacht, indem er vor der Presse erklärte, daß man nach Erlangung der Souveränität freie Hand und die Möglichkeit haben werde, Persönlichkeiten mit Verfassungsschutzaufgaben zu betrauen, die wirklich über alle Zweifel erhaben sind.

Viel weittragender als die direkten sachlichen Schäden dieses Verrats werden die indirekten politischen Auswirkungen sein.

Sachlich werden die Sowjets mit Otto John eine Enttäuschung erleben. Seine Fähigkeiten als Verräter können nicht größer sein, als es sein Wissen als Amtschef war, und das war gering. Er hatte

nur eine höchst ungenaue Kenntnis von den Vorgängen in seinem Amt. Die Materie des Nachrichtenwesens ist ihm immer fremd geblieben.

Der amerikanische Geheimdienst mißtraute ihm seit zwei Jahren und machte ihm nur noch in den seltensten Fällen Geheiminformationen zugänglich. Als Otto John auf eigenen Wunsch zu einem sechswöchigen Besuch in die Vereinigten Staaten fuhr, mußte das Innenministerium seine Reise bezahlen; die Amerikaner lehnten eine Finanzierung ab. In den Vereinigten Staaten reichten sie ihn freundlich von Frühstück zu Frühstück, ohne ihm Geheimnisse zu zeigen.

Und wie der amerikanische Geheimdienst, so bemühten sich auch die Organisation Gehlen und die militärische Abwehr des Amtes Blank seit etwa einem Jahr, dem Otto John keinerlei Einblick mehr in ihre Netze zu gestatten. Alle Meldungen über Massenverhaftungen von westlichen Agenten in der Sowjetzone sind unrichtig.

Die politischen Folgen hingegen sind unabsehbar. Für simple Bundesbürger muß die Flucht des Otto John wie ein zweiter Rudolf-Heß-Flug wirken.

»Der Wurm ist im Apfel«, kommentierte Englands großer alter Mann Winston Churchill lakonisch, als des Führers Stellvertreter 1941 mit seiner Messerschmitt nach England entwich. Als der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz 1954 ins kommunistische Lager überwechselte, fuhr Deutschlands großer alter Mann Konrad Adenauer in die Ferien.

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