155 Kinder und Jugendliche sind in Berlin spurlos verschwunden, 93 von ihnen werden schon länger als drei Monate gesucht. Hauptkommissar Jürgen Knobel vom Vermißtendezernat weiß kaum noch, wohin mit den Akten.James Dean klebt an der Schranktür als Autogrammkarte. Die Sonne geht unter daneben auf dem Poster. Plüschtiere auf dem Sofa an der Wand. Bücher, "5 Tage im Juni" von Stefan Heym, "1984" von Orwell. Ein Regal ist gefüllt mit T-Shirts und Blusen, an denen Roswitha Lohagen manchmal riecht. Roswitha und Ferdy Lohagen warten seit fünf Jahren auf ein Lebenszeichen ihrer Tochter Andrea. Die ganze Wohnung haben die Eltern renoviert; nur das zehn Quadratmeter kleine Zimmer am Ende des Flurs sieht noch genauso aus wie am 7. Oktober 1993, dem Tag, an dem die damals 16jährige verschwand. Oft sitzt die 49jährige Mutter in dem kleinen Zimmer und hört "Easy Lover" und "Remember" von Phil Collins oder die alten Hits von Joe Cocker, die Andrea noch selbst aufgenommen hat. Und wenn sie auf dem Tonband die Stimme ihrer Tochter hört, kommen ihr die Tränen. Jürgen Knobel glaubt zu wissen, wie den Eltern zumute ist. Denn: "Ich bin selbst Vater." Und er ist Hauptkommissar am Vermißtendezernat LK 4124 an der Keithstraße in Berlin-Schöneberg. Das Büro des Kommissars im dritten Stock im Zimmer 301 ist auf das Wesentliche beschränkt: zwei Schreibtische, zwei Telefone, ein Schrank voller Akten. Und Fotos vermißter Kinder und Jugendlicher. Eine Dreijährige auf dem Arm der Oma, ein Sechsjähriger auf einem roten Fahrrad, eine Dreizehnjährige in ihrem neuen Sommerkleid. 1503 Kinder (bis 14 Jahre) und 3381 Jugendliche (bis 18 Jahre) verschwanden im vergangenen Jahr in Berlin. Schulprobleme, Abenteuerlust, Schwierigkeiten mit den Eltern und Liebeskummer - das waren die häufigsten Gründe. Die meisten von ihnen kamen wieder. Nach einem Tag, einer Woche, einem Monat. Doch einige blieben fort. Kein Abschiedsbrief, keine Postkarte, kein Anruf. "Manchmal sind es Kleinigkeiten, die zu einer Torschlußpanik führen", sagt Hauptkommissar Jürgen Knobel, "eine schlechte Note in der Mathearbeit oder der Streit um den nicht heruntergebrachten Mülleimer." Bei Kindern verschwinden Jungen häufiger als Mädchen, bei Jugendlichen ist es umgekehrt. Manchmal bekommen der Hauptkommissar und sein Elf-Mann-Team einen Blumenstrauß von erleichterten Eltern, wenn ihr Kind wohlbehalten wieder da ist. Odereine Karte aus dem Urlaub. Doch meist hören sie nichts mehr. Das Kind ist wieder zu Hause, der Fall kommt zu den Akten, ein neuer kommt auf den Schreibtisch. Tag für Tag, Monat für Monat: 60 687 Fälle in den vergangenen 19 Jahren - so lange ist Knobel im Dezernat. Eine Polizeiarbeit, die alles andere ist als Routine. Es gibt Nächte, da kann Jürgen Knobel nicht schlafen, weil ihm ein Fall nicht aus dem Kopf geht. Dann greift er zu einem Buch, hört Musik oder redet mit seiner Lebenspartnerin Ingrid. "Ich kann die Gedanken abends nicht abstreifen wie ein altes Hemd." Roswitha Lohagen kann es auch nicht. "Heute ist alles noch viel schlimmer als vor fünf Jahren. Damals sind wir Tag und Nacht durch Belzig gelaufen und haben unsere Tochter gesucht. Wir haben Flugblätter an die Bäume geheftet, Fernfahrer angesprochen und Privatdetektive eingeschaltet. Wir waren den ganzen Tag über beschäftigt und sind abends erschöpft ins Bett gefallen. Heute bin ich den ganzen Tag am Grübeln und kann nur noch warten." Seit eineinhalb Jahren ist Roswitha Lohagen krankgeschrieben. Aber sie und ihr Mann geben die Hoffnung nicht auf. "Es ist das Einzige, was uns bleibt", sagt ihr Mann Ferdy. "Ich werde meine ,Kleene' so lange suchen, bis ich sie gefunden habe." Seine Frau nickt. Dann schalten sie den Fernseher ein und warten. Warten, das ist auch ein Teil des Alptraums von Mauro Valderrama-Nuñez (45). "Komm bitte zurück!" Drei Worte, die sein Leben bestimmen, die er mehrmals täglich leise murmelt - wie ein Gebet. Es war der 20. Februar 1997, als seine 14jährige Tochter Victoria die Wohnung in der Schliemannstraße im Prenzlauer Berg verließ und nicht wiederkam. "Wir hatten Streit gehabt", erinnert sich der Vater. "Sie fühlte sich schon so erwachsen, ich behandelte sie noch wie ein Kind. Ich verbot ihr für eine Woche den Umgang mit ihrem Freund. Das war der größte Fehler meines Lebens. Ich würde alles, was ich besitze, dafür geben, um Victoria wieder in die Arme nehmen zu können, und mich bei ihr entschuldigen." Auch Victorias vierjähriger Bruder Mario hat seine Schwester nicht vergessen. Jeden Tag beim Zubettgehen fragt er seinen Vater: "Wann kommt Vicky wieder zurück?"
Vermißt!
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