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»Politik im Blindflug«

Nach zahlreichen internationalen Vergleichsstudien ist klar, dass Schulen und Universitäten kräftig reformiert werden müssen. Doch Bund-Länder-Blockaden und bürokratische Verkrustungen hemmen die Erneuerung. Wie kann das deutsche Bildungssystem leistungsfähiger werden?
aus DER SPIEGEL 34/2005

Schon wieder so ein italienischer Städtename. Erst stürzte Pisa, Kürzel eines internationalen Schülertests, die deutschen Bildungspolitiker in helle Aufregung. Und nun müssen sie sich mit Bologna herumschlagen.

Auf einer Konferenz in Bologna vereinbarten drei Dutzend Staaten vor sechs Jahren, einen »Hochschulraum Europa« zu schaffen. Bis 2010 sollen Bachelor- und Master-Abschlüsse die nationalen Examina ablösen. Die deutschen Professoren verbinden seither den Namen der Stadt mit Papierkrieg und Gremiensitzungen. Jeder Studiengang braucht ein Konzept und eine Prüfungsordnung - bei rund 11 000 Studiengängen eine Mammutaufgabe.

Um den Universitäten zu helfen, hat die Hochschulrektorenkonferenz in Bonn das »Kompetenzzentrum Bologna« eingerichtet. Der Beratungsbedarf sei enorm, sagt Projektleiterin Andrea Frank.

Eigentlich ein sinnvolles Vorhaben - für Hessens Ministerpräsidenten Roland Koch jedoch eine Provokation. Die Arbeit der Bologna-Experten hält der CDU-Politiker für einen dreisten Verstoß gegen die Bildungshoheit der Länder. Deshalb klagt Koch gegen die Initiative vor dem Bundesverfassungsgericht, die Entscheidung in der Hauptsache steht noch aus. Grund der ganzen Aufregung: Das Kompetenzzentrum bekommt Geld von der Bundesregierung - die überschaubare Summe von 4,4 Millionen Euro.

Der Hickhack um das Bologna-Zentrum ist typisch für die deutsche Bildungsmisere. Es gelten die drei ehernen Gesetze des real existierenden Föderalismus. Erstens: Was vom Bund kommt, passt den Ländern nicht. Zweitens: Ein Blockierer findet sich immer. Drittens: Weit mehr als um Inhalte geht es ums Prinzip.

»Wir sind in einem Prozess der Selbstfesselung gefangen«, sagt Hans-Peter Schneider, Direktor des Deutschen Instituts für Föderalismusforschung in Hannover. Er hat in einer kürzlich veröffentlichten Studie die Bildungssysteme von 14 Nationen miteinander verglichen. Sein Befund: Das deutsche Bildungswesen schneide auch »infolge struktureller und organisatorischer Defizite« international »erschreckend schlecht« ab. Vorbilder in Europa seien Schweden, Großbritannien und die Niederlande.

Wer die Fesseln lösen will, wird das föderale System neu ordnen müssen. Ein großangelegter Versuch ist allerdings Ende vergangenen Jahres kläglich gescheitert. So bleibt der nächsten Regierung eine schwere Aufgabe.

Unterhalb dieser Schwelle hat die amtierende Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) immer wieder versucht, die Befugnisse der Zentralregierung zu erweitern. Gegen diese Strategie gab es allerdings erhebliche Widerstände, auch vom Bundesverfassungsgericht.

Die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan (CDU), Bildungsexpertin in Angela Merkels Kompetenzteam, will den umgekehrten Weg gehen: Der Bund, sagt Schavan, solle sich auf die Forschung konzentrieren und »die Länder unterstützen« (siehe Interview Seite 74).

Darüber, dass an Schulen, Hochschulen und Forschungsinstituten kräftig reformiert werden muss, sind sich die Experten einig. Internationale Vergleichsstudien haben den Rückstand Deutschlands mit brutaler Klarheit offen gelegt:

* Die deutschen Schüler sind international nur Mittelmaß. Die Pisa-Studien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bescheinigen den 15-Jährigen immer noch erhebliche Defizite in den Kerndisziplinen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. Die gleichaltrigen Schulkameraden in Ländern wie Finnland, Japan oder Südkorea sind ein bis eineinhalb Schuljahre voraus.

* Das Land der Dichter und Denker hat keine Spitzenuniversität mehr. Im neuesten Hochschul-Ranking der Jiao Tong University in Shanghai landet die Ludwig-Maximilians-Universität München als beste deutsche Hochschule auf Rang 51, direkt gefolgt von der benachbarten TU. Die Rangliste des »Times Higher Education Supplement« führt die Heidelberger Universität als beste deutsche Hochschule auf Platz 47.

* Zukunfts- und gewinnträchtige Spitzenforschung findet derzeit vor allem in anderen Staaten statt. Deutschland hat seine Blütezeit lange hinter sich: Während das Land zwischen 1901 und 1910 noch zwölf Nobelpreise in den Fächern Chemie, Physik und Medizin einheimsen konnte und damit doppelt so viele wie Großbritannien und die USA zusammen, sieht die Bilanz am Anfang des 21. Jahrhunderts ernüchternd aus: Zwischen 1995 und 2004 konnten sich die Vereinigten Staaten mit 44 Preisträgern schmücken, Großbritannien mit 10 und die Bundesrepublik gerade einmal mit 4. Besonders bitter: Von diesen forschen drei außerhalb des Landes.

Eine der möglichen Ursachen ist das Geld. Den OECD-Ländern war Bildung im Jahr 2001 im Schnitt 6,2 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts wert, Deutschland dagegen nur 5,3 Prozent. Spitzenreiter ist Südkorea mit 8,2 Prozent, Dänemark und die Vereinigten Staaten liegen bei über 7 Prozent. Öffentliche und private Ausgaben sind in dieser Erhebung zusammengefasst (siehe Grafik links).

Auch mit der Chancengleichheit ist es nicht weit her. Nur in Ungarn und Belgien haben Ausländerkinder und Kinder aus armen Familien schlechtere Bildungsaussichten als in Deutschland, so der Befund

der Pisa-Forscher. Der »Eurostudent Report 2005« weist Deutschland in Sachen Aufstiegschancen im Vergleich von acht europäischen Staaten den zweitschlechtesten Wert zu. Das kann sich das rohstoffarme, aber traditionell erfindungsreiche Land in einer globalisierten Weltwirtschaft auf Dauer nicht leisten.

Doch anstatt den unvermeidlichen globalen Wettstreit anzunehmen, wehren sich konservative Professoren, altlinke Lehrer und weltfremde Studentenvertreter in seltsamer Allianz gegen die »Ökonomisierung« des Lernens. »Wahre Bildung« statt »Ware Bildung« zu fordern gehört zum Transparentklassiker einer jeden Studentendemonstration.

Für Bildung sorgt der Staat, für den Einzelnen muss sie aber Selbstzweck sein, so lautet das verquere Postulat. Jede Nutzbarmachung hindere die Persönlichkeit an ihrer freien Entfaltung.

Wer so stark das Recht auf Selbstfindung hochhält, vergisst bisweilen, dass Bildung auch Anstrengung kostet. »Lieber alle gleich schlecht als unterschiedlich gut«, kritisiert der ehemalige niedersächsische Wissenschaftsminister Thomas Oppermann (SPD) das unausgesprochene, aber jahrelang weithin gültige Ideal. Leistungsorientierung wurde an Schulen und Hochschulen mitunter misstrauisch beäugt - sie könnte ja sozial ungerecht sein. Paradoxerweise leiden unter diesem Diktum aber gerade die Aufstiegswilligen aus den, so der Pädagogenjargon, »bildungsferneren Schichten«.

Denn das ursprünglich auf Chancengleichheit ausgerichtete egalitäre System an staatlichen Hochschulen sorge dafür, dass sich am Ende doch die Kinder aus begütertem und bildungsnahem Elternhaus durchsetzen, erläutert Stephan Jansen, Präsident der privaten Zeppelin University in Friedrichshafen. Studenten hätten es schwer, sagt Jansen, »durch Leistungen im Studium potentielle Arbeitgeber auf sich aufmerksam zu machen«. Die entscheidenden Akzente können sie nur durch Sprachkurse, Auslandsaufenthalte und Praktika setzen - und dafür braucht man oft den Rückhalt von zu Hause.

Dabei schrieb sich gerade die rot-grüne Bundesregierung auf die Fahnen, eine neue Aufstiegsmobilität zu schaffen. »Wir wollen ein Klima des geistigen Aufbruchs fördern, das Bildung, Wissenschaft und Forschung neue Entfaltungsmöglichkeiten bietet, bestehende strukturelle Verkrustungen aufbricht und der jungen Generation Zukunftschancen eröffnet«, kündigten die frischgewählten Volksvertreter 1998 vollmundig an. Vier Jahre später hieß es im Koalitionsvertrag: »Deutschland muss im Bildungsbereich weltweit einen Spitzenplatz einnehmen.«

An die Tradition, hehre Ansprüche zu formulieren, knüpft auch CDU-Kanzlerkandidatin Merkel an. Die promovierte Physikerin hat versprochen, bei einem Wahlsieg Bildung und Wissenschaft zu fördern: »Unsere Schätze sind die Menschen. Es ist existentiell, dass wir Dinge können, die andere nicht können.«

Auf den einzelnen Reformbaustellen Schule, Hochschule und Forschung gibt es noch viel zu tun.

Nach den ernüchternden Ergebnissen der Pisa-Studie stürzten sich Pädagogen und Bildungspolitiker sogleich in ihre Lieblingsdebatte: Wäre eine Einheitsschule besser und sozial gerechter? Oder beweist die Rangliste der deutschen Bundesländer mit Bayern an der Spitze nicht gerade die Überlegenheit des dreigliedrigen Systems aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium?

Die Diskussion bestimmte den Landtagswahlkampf Anfang des Jahres in Schleswig-Holstein, die Grünen schrieben ihre Ablehnung des dreigliedrigen Schulsystems

gar ins Programm für die Bundestagswahl. Dabei ist längst erwiesen, dass die Gesamtschule zur Resterampe für Bildungsverlierer verkommt, wenn sie parallel zu Gymnasium, Realschule und Hauptschule angeboten wird. Und sie im ganzen Land als einzige Schulform zu installieren, wie es etwa der Pisa-Champion Finnland getan hat, ist im deutschen föderalen System undenkbar: Alle 16 Bundesländer würden niemals mitziehen.

»Die Debatte um das richtige System ist überflüssig wie ein Kropf«, sagt Wilfried Bos, Leiter des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der Universität Dortmund. »Wir brauchen guten Unterricht, in welcher Schulform er stattfindet, ist völlig gleichgültig.«

Als grundlegenden Denkfehler der deutschen Schulpolitik benennt Bos die »Input-Orientierung": »Wir haben tausend Erlasse in Deutschland, die vorschreiben, wie groß die Klassen sein sollen oder wie die Unterrichtsstunden getaktet werden sollen. Ob diese Regelungen tatsächlich etwas bewirken, haben wir lange Zeit nicht überprüft.« Erfolgreiche Schulnationen machen es umgekehrt. Sie definieren nur die erwünschten Ergebnisse des Unterrichts und schreiben den Schulen nicht vor, wie sie diese erreichen sollen.

Alles bis ins Kleinste zu regeln wirke sich für die Kollegien demotivierend aus, stimmt Gabriele Behler (SPD), ehemalige Schulministerin von Nordrhein-Westfalen, zu: »Ob nun zwei oder drei Sätze zum Sozialverhalten im Zeugnis stehen, sollte wirklich die Schule entscheiden dürfen.« Während sich die Deutschen um solche Details und um die richtige Schulform stritten, so Behler, brächten andere Nationen ihre Schulen auf Vordermann. »Unsere Bildungspolitik im Blindflug ist der Grund für den internationalen Rückstand.«

Untätigkeit kann man den Kultusministern sicherlich nicht vorwerfen: Fünf Jahre nach der ersten Pisa-Erhebung lernt gut ein Drittel der Grundschüler Englisch, durchlaufen Gymnasiasten die Schule in einigen Bundesländern in acht statt wie bisher in neun Jahren. Andere Länder schicken externe Prüfer in ihre Schulen oder führen wieder Kopfnoten für Verhalten und Mitarbeit ein. Die Kultusminister einigten sich auf einheitliche Bildungsstandards und Beispielaufgaben, die ein eigens gegründetes Institut zur Qualitätsentwicklung überwachen soll.

Alles sicherlich sinnvolle Maßnahmen, doch bleiben sie Stückwerk. Eine wirkliche Umpolung der Schulpolitik könnte so aussehen: stärkere Erfolgskontrollen, dafür weniger Bürokratie. Die Schulen würden von manchen unsinnigen Regelungen der Kultusministerien befreit und erhielten mehr Freiheiten. Im Gegenzug müssten sie in Evaluationen regelmäßig nachweisen, welches Wissen und welche Kompetenzen sie tatsächlich in den Köpfen der Schüler untergebracht haben.

So transparent waren die deutschen Schulen schon einmal - im 19. Jahrhundert. Das preußische Unterrichtsministerium verpflichtete die höheren Lehranstalten im Jahr 1824 darauf, Rechenschaft darüber abzulegen, was auf dem Stundenplan steht, wie viel Unterricht ausfällt, welche Ausbildung die Lehrer haben und ob die Schüler Prüfungen bestanden haben. Die Berichte lagen an den Schulen aus, konnten von den Eltern eingesehen werden und wurden unter den Schulen ausgetauscht.

Mehr Offenheit für Leistungsbewertung fordert Schulforscher Bos auch von den Pädagogen. Bisher laufe es vor allem so: »Nach der Pause wird die Tür zugemacht, und niemand weiß so genau, was dahinter geschieht.« Stattdessen sollten sich die Lehrer gegenseitig im Unterricht beobachten, sich stärker in Gruppen vorbereiten und die Unterrichtsziele aufeinander abstimmen. »Solche Dinge sind erlaubt, dafür kommt man nicht ins Gefängnis, aber sie finden so gut wie nicht statt.«

Während in manchen OECD-Ländern die Schulen selbständig entscheiden, wen sie einstellen oder bei schlechter Leistung entlassen wollen, treffen in Deutschland solche Entscheidungen die Schulbehörden. Das Pisa-Siegerland Finnland wählt dagegen seine Lehramtsstudenten in aufwendigen Bewerbungsverfahren aus, wie sie hierzulande eher internationale Großkonzerne veranstalten. Der Beruf ist beliebt und respektiert, auf jeden Studienplatz kommen etwa sieben Bewerber.

Internationalisierung, Exzellenz- und Profilbildung - der Umbau an Universitäten und Fachhochschulen ist in vollem Gange. Nach dem Willen der Erneuerer soll das Studium künftig passgenau auf den Beruf

vorbereiten, und das möglichst schon mit dem Bachelor-Abschluss nach drei Studienjahren.

Das Reformtempo sei sehr hoch, berichtet Sandra Pott, Privatdozentin für Germanistik an der Universität Hamburg. Die 31-jährige habilitierte Nachwuchswissenschaftlerin entschied sich gegen eine Karriere an einer ausländischen Universität oder bei einer Unternehmensberatung. Stattdessen leitet sie jetzt im Rahmen des Emmy-Noether-Programms der Deutschen Forschungsgemeinschaft, das die Abwanderung hochqualifizierter Forscher verhindern soll, eine Forschergruppe von jungen Germanisten.

Pott findet die Umbauten an den Universitäten richtig und wichtig: Im Bachelor- und Master-System zählen die Scheine von Anfang an für die Endnote, das motiviere die Studenten und helfe so den Lehrenden. Der Mehraufwand sei allerdings erheblich, denn jetzt müsse jedes einzelne Modul geprüft werden. Gern würde sie auch persönliche Auswahlgespräche mit Studienbewerbern führen, wie es den Unis bereits erlaubt ist, doch dafür fehlt die Zeit.

Denn in der Wissenschaft herrsche, laut Pott, noch immer eine »akademisch-politische Planwirtschaft«. Durch den Sparzwang würden die Lehrenden »mit administrativen Aufgaben überhäuft« und bisweilen von ihrer eigentlichen Arbeit abgehalten.

Bei all den Strukturreformen unterschätze man außerdem die zentrale Frage: »Wie motiviert man eigentlich Menschen, ihre maximale Leistung zu bringen?« Eine Universität, betont die Dozentin, bestehe nun einmal aus denkenden und fühlenden Persönlichkeiten.

Zu motivierenden, aber nicht unbedingt teuren Faktoren zählt Pott ansehnliche Seminarräume und Büros, Universitätsclubs für Lehrende und Studierende oder einfach nur den Stehempfang nach dem Vortrag. »Wir müssen unsere Gäste aus eigener Tasche zum Essen einladen.« Solche Knauserigkeiten der deutschen Unis verstörten insbesondere Wissenschaftler aus dem Ausland, die eine andere Behandlung gewöhnt seien. »Was die deutsche Universität einmal attraktiv machte, wurde eingespart und muss neu erobert werden.«

Besserung für die darbenden Bildungsanstalten sollen Studiengebühren bringen. Spätestens ab 2007 wollen die meisten unionsgeführten Länder zur Kasse bitten. Sie einigten sich bereits auf eine Obergrenze von zunächst 500 Euro pro Semester.

Die Gebührenfans in Deutschland setzen große Hoffnungen in die Campus-Maut.

»Mit Studiengebühren, die vollständig in die Bildung investiert werden, ist es einfacher, gute Forschung und Lehre zu erreichen«, sagt Tom Zeller, 25, Politikstudent an der Freien Universität Berlin und bildungspolitischer Sprecher der Jungen Union. Durch Gebühren könne ein »Dienstleistungsverhältnis zwischen Hochschulen und Studenten« geschaffen werden. Wer etwas bezahle, dürfe eine Gegenleistung einfordern, beispielsweise gutausgestattete und länger geöffnete Bibliotheken, ansprechbare Dozenten, mehr wissenschaftliche Hilfskräfte, Seminarräume, die mit moderner Technik ausgestattet sind.

Die Erwartungen können sich allerdings nur dann erfüllen, wenn die Länder nicht bei den Universitäten geizen, sobald das Geld der Studenten fließt. Und wenn die Finanzminister keine Chance haben, die Gebühreneinnahmen gelegentlich für andere Zwecke einzusetzen. Ferdinand Kirchhof, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Tübingen, weist darauf hin, dass eine gesetzliche Zweckbindung nötig sei, »um Begehrlichkeiten von vornherein zu identifizieren und zu vermeiden«.

Der Jurist sieht zudem eine verfassungsrechtliche Verpflichtung: »Der Staat muss mit Kredit- und Stundungsmodellen dafür sorgen, dass das Studium faktisch allen Schichten offen steht.«

Entsprechende Angebote stehen in der Breite noch aus. Die staatliche Förderbank KfW zog im Juli ein bereits ausgearbeitetes Konzept für einen Studienkredit zurück. Man hoffe auf ein »besseres Umfeld« nach der Bundestagswahl, erklärte die KfW Bankengruppe. Sie will das Angebot wahrscheinlich zum Sommersemester 2006 auf den Markt bringen. Danach können Hochschüler aller Fächer für die Dauer von maximal zehn Semestern ein Darlehen in Höhe von bis zu 650 Euro pro Monat aufnehmen. Der Zinssatz soll zwischen 5 und 5,5 Prozent liegen.

Dass Studenten durchaus Schulden in Kauf nehmen, wenn sie im Gegenzug eine ausgezeichnete Ausbildung bekommen, zeigt das Beispiel der Zeppelin University in Friedrichshafen.

Satte 3700 Euro pro Semester kostet das Studium am Bodenseeufer. Die Gebühren etwa für einen Bachelor in »Corporate Management and Economics« summieren sich somit auf über 20 000 Euro, den Preis eines Mittelklassewagens. Studenten, die das Geld nicht aus eigener Tasche aufbringen können, gewährt die Sparkasse Bodensee einen Kredit. Jeder zweite greift auf das Darlehensangebot zurück.

Die Zahl der Bewerbungen sei groß, und zwar »gerade nicht von Kindern reicher Eltern«, berichtet Hochschulpräsident Jansen. Ganze Großfamilien rückten zur Besichtigung an, mancher Abiturient zeige eine Entschlossenheit, wie er sie »bisher nur beim Kauf von Markenturnschuhen an den Tag legte«. Genau so will der 34-jährige

Hochschulgründer sein Angebot auch positionieren. »Bildung muss eine Quengelware werden, wie an der Kasse im Supermarkt. Die Kinder müssen einen bestimmten Bildungsgang so sehr anstreben, dass sie die Studiengebühren selbst übernehmen wollen und die Eltern glücklich sind, wenn sie dazu beitragen dürfen.«

Wer an die Zeppelin University will, muss zusätzlich zu den üblichen Bewerbungsunterlagen einige schriftliche Essays einreichen. Kandidaten führen zwei Gespräche mit einem Auswahlgremium und lösen einen Praxisfall aus dem sozialen oder ökonomischen Bereich. »Ein Studium ist immer auch eine Existenzgründung«, sagt Jansen.

Die Studienbedingungen sind komfortabel. Insgesamt rund 40 Professoren und wissenschaftliche Mitarbeiter betreuen rund 200 Studenten. Praktika und Auslandsaufenthalte sind fester Bestandteil des Studiums, jedem Nachwuchsakademiker stehen ein wissenschaftlicher Mentor und ein Coach aus der Praxis zur Seite.

Von solchen Verhältnissen können die Studenten an Massenuniversitäten nur träumen. Im regelmäßig erscheinenden »Studierendensurvey« der Universität Konstanz zeigten sich zwei Drittel der Befragten vom inhaltlichen Niveau der Lehrveranstaltungen überzeugt. Doch weniger als die Hälfte der angehenden Akademiker fühlt sich gut beraten und betreut. Nur 8 Prozent berichten von häufigem Kontakt zu ihren Professoren, 46 Prozent treffen nur selten mit ihnen zusammen, 22 Prozent nie. »Für die allermeisten Studierenden bleibt die ,Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden' bloße Idee oder Illusion«, schreiben die Autoren der Studie.

Die Betreuung dürfte sich in Zukunft weiter verschlechtern, weil die Zahl der Studenten steigen wird - laut einer Prognose der Kultusminister von derzeit rund zwei Millionen auf zweieinhalb Millionen im Jahr 2011.

Den Bewahrern der alten Ordinarien-Universität mögen solche Zahlen ein Graus sein. International gesehen hat Deutschland jedoch zu wenig Studenten: Nur 35 Prozent eines Altersjahrgangs nahmen 2002 hierzulande ein Studium auf, gegenüber 51 Prozent im OECD-Durchschnitt.

Die »Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder« sorgt für Aufbruchstimmung unter deutschen Wissenschaftlern. Überall feilen Fakultäten an ihrem Profil, um sich gegen andere Fachbereiche einen Teil des 1,9-Milliarden-Euro-Kuchens zu sichern. Mit dem Geld sollen etwa 30 Forschungszentren und 40 Graduiertenkollegs gefördert werden. Nach dem ursprünglichen Plan von Bundesbildungsministerin Bulmahn sollte die Finanzspritze lediglich einer Hand voll Spitzenuniversitäten zukommen, doch das war ausgerechnet einigen Unionsministerpräsidenten zu viel Wettbewerb: Sie setzten eine Verteilung der Gelder mit der Gießkanne durch.

Seit August können die Universitäten nun ihre Bewerbungen einreichen, die ersten Sieger des Schaulaufens sollen im Herbst 2006 gekürt werden. Zusätzlich haben sich Bund und Länder verpflichtet, bis zum Jahr 2010 die Zuwendungen an die großen Forschungsinstitute jährlich um mindestens drei Prozent anzuheben.

An Investitionen mit Symbolwert mangelt es also nicht. Auch die Rückholinitiativen für qualifizierte Exil-Akademiker sind teilweise üppig ausgestattet. So dürfen sich die Sieger des nach dem Nobelpreisträger Wolfgang Paul benannten Forschungspreises über bis zu 2,3 Millionen Euro Fördergelder freuen - das ist eine höhere Dotierung als der Nobelpreis selbst.

Einzelne kluge Köpfe folgen dem Locken: So gelang es, den renommierten Physiker Eberhard Bodenschatz von der Cornell University ans Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in

Göttingen zu holen. Im Juli ist der 46-jährige Wissenschaftler zurückgekommen, die Umzugskartons sind noch nicht alle ausgepackt. Der Heimkehrer lobt das »ideale Umfeld«, das mit viel Geld und Aufwand für seine Grundlagenforschung geschaffen wurde. Seine 25-köpfige Arbeitsgruppe, die mit ihm nach Deutschland kommt, wird unter anderem in einem neugebauten Gebäude am Windkanal experimentieren.

Um Bodenschatz anzuwerben, reiste der damalige niedersächsische Wissenschaftsminister Oppermann eigens an die amerikanische Eliteuniversität. Der Physiker hatte eigentlich nicht an Rückkehr gedacht, doch der persönliche Einsatz überzeugte ihn: »Sonst kommt man ja über den Atlantik nach Deutschland und wird nach einem Vorstellungsgespräch nicht einmal zum anschließenden Beisammensein eingeladen.«

Freilich ist die Sogwirkung des Auslands ungebrochen. Viele Nachwuchswissenschaftler wollen auf das inoffizielle Prädikat »i. A. g.« - in Amerika gewesen - nicht verzichten. Schätzungsweise 20 000 deutsche Wissenschaftler arbeiten derzeit in den USA. Rund 40 Prozent der im Ausland lebenden und forschenden Deutschen wollen dem Heimatland nach eigenen Angaben dauerhaft den Rücken kehren.

Denn der Fehler liegt im System: Während sich Nachwuchskräfte in den USA problemlos Forschungsmittel und Sponsorengeld besorgen können, sind sie in Deutschland in ein enges Korsett aus arbeits- und hochschulrechtlichen Verordnungen eingeschnürt. In Amerika sind sie Wissenschaftsmanager in eigener Sache, in Deutschland oft Bittsteller, abhängig vom Wohlwollen ihrer akademischen Zieheltern und von Kapazitätsverordnungen.

Um junge Forscher im Land zu halten, schuf die Bundesregierung die Juniorprofessur: Sie soll Nachwuchswissenschaftlern eigenständiges Forschen und Lehren direkt nach der Doktorarbeit ermöglichen. Laut Bundesbildungsministerium wurden bis Ende des vergangenen Jahres 850 Stellen für Juniorprofessuren bewilligt.

Doch die größte Sorge der Nachwuchswissenschaftler bleibt es, mit Mitte dreißig oder Anfang vierzig trotz bester Qualifikationen ohne festen Job dazustehen - trotz einer vorherigen Anstellung als Juniorprofessor. Es kann Jahre dauern, bis auf dem eigenen Fachgebiet eine Professur frei wird, für den Absprung in den Arbeitsmarkt außerhalb der Universität ist es dann meist schon zu spät.

In den USA bekommen erfolgreiche Nachwuchswissenschaftler dagegen zu Beginn ihrer Laufbahn eine feste Stelle, »tenure« genannt, in Aussicht gestellt. Junge Hochschullehrer werden zunächst als »Assistant Professor« eingestellt, über die Jahre müssen sie sich auf dem »tenure track« bewähren. Das System ist offen leistungsorientiert und gibt werdenden Professoren eine verlässliche Einschätzung darüber, wo sie gerade stehen.

Solche Regelungen verhindert in Deutschland bislang das starre Personalstatut. Wissenschaftsorganisationen fordern deshalb ein eigenes Tarifrecht für die Forschung, das das Arbeitsgebiet vom Öffentlichen Dienst abkoppelt und flexible Lösungen erlaubt.

»Strukturell hapert es in Deutschland einfach an Flexibilität«, moniert Armin Pscherer. Der 39-jährige Tumorforscher am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg hat zusammen mit einem Kollegen die Initiative »Maintain Brains. Wir wollen forschen - in Deutschland« gegründet. Über 13 000 Wissenschaftler unterschrieben innerhalb kurzer Zeit deren Aufruf. Die britische Fachzeitschrift »Scientist« berichtete gar von einer »verlorenen Generation« deutscher Wissenschaftler, die im Ausland ihr Heil sucht.

Besonders die hiesige »Regulierungssucht« und das »Obrigkeitsdenken« seien »für die akademische Forschung absolut tödlich«, kritisiert Pscherer. Es werde »in Planstellen gedacht und nicht nach wissenschaftlichem Erfolg«.

Die Bundesregierung plante sogar zusätzliche Hürden mit einer Regelung, die Forschungseinrichtungen und Hochschulen zwingen sollte, Projektmitarbeiter nach spätestens zwölf Jahren unbefristet einzustellen. Es sei gut gemeint, wenn man Wissenschaftler als Arbeitnehmer schützen wolle, sagt Pscherer. Nur bewirke man genau das Gegenteil: Die Hochschulen stellen lieber gar nicht erst ein, weil sie fürchten, nach Auslaufen eines Projekts auf den Kosten für den dann unkündbaren Mitarbeiter sitzen zu bleiben.

Sprühende Aufbruchstimmung kann sich da schwerlich einstellen. Allen Lockerungsübungen zum Trotz sind Bildung und Forschung hierzulande gefesselt durch Besitzstandsdenken und kameralistische Zwangsbewirtschaftung. Ehe an Schulen und Hochschulen der Geist echter Erneuerung um sich greifen kann, bremsen die Gremien, und die Bedenkenträger in den Ministerien verteidigen den Status quo genauso wie die gutausgestatteten Stabstellen von Beamtenbund und Lehrergewerkschaften.

Mit möglicherweise fatalen Folgen, warnt Föderalismusexperte Schneider: Solange Bildungspolitiker und Lobbyisten vor allem ihre Pfründen sichern wollen, hinderten sie Deutschland daran, »sich endlich ein modernes Bildungs- und Erziehungssystem zuzulegen«. JAN FRIEDMANN

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