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Artikel 60 / 134

Vaterland Das deutsche Wesen

aus DER SPIEGEL 50/1993

Peter Merseburger plädiert für eine »Aussöhnung mit dem Begriff der Nation«.

Wolf Jobst Siedler sieht nationale Flagellanten das kulturelle Erbe der Nazi-Zeit mißachten.

Wolfgang Menge will die deutschen Schlachthelden des Zweiten Weltkriegs im Schulunterricht gewürdigt wissen.

Arnulf Baring fordert ein »gesundes Nationalgefühl«, das »größere Verantwortung« und Atomwaffen einschließt.

Helmut Schmidt sucht nach neuen nationalen Symbolen.

Martin Walser glaubt, brandstiftende Jugendliche seien »eine Antwort auf die Vernachlässigung des Nationalen durch uns alle«.

Muß man über 60 sein (oder unter 20), um Deutschland an fehlendem Nationalbewußtsein leiden zu sehen? Den Schmerz seiner Generation hat Martin Walser, bohrend wie kein anderer, bis in die Kindheit zurückverfolgt, weil »Deutschland für mich ein Wort aus jener Vergangenheit ist«. Walser bedauert, daß er »die Unschuld der Erinnerung nicht vermitteln kann«, die Unschuld der »Arbeitsszenen aus Kohlewaggons der Jahre 1940 bis 1943«, die Unschuld des »6- bis 18jährigen, der Auschwitz nicht bemerkt hat«.

Daß das Wort Deutschland nach der Entdeckung der Schuld »nur noch brauchbar für den Wetterbericht« war, das zehrte: »Das liegt am Jahrgang. Jüngere sind frei davon.«

Vielen Spätgeborenen Großdeutschlands, die sich nach 1945 in den Aufbau des besseren, wenn auch nur halben Deutschland stürzten, hat der Fall der Mauer den Traum eröffnet, vor dem Ende ihrer Tage zu vollenden, was sie im Wirtschaftswunder verfehlten: ihrem neuen Deutschland ein nationales Bewußtsein zu geben.

Der Nachdruck, mit dem die nationalen Erwecker davon sprechen, daß die Nachkriegszeit zu Ende sei, entspringt ihrer Ungeduld. Der Zug sei abgefahren, entgegneten sie zu Recht den Skeptikern, die an der Vereinigung zweifelten. Jetzt steht die Lok, und sie legen schwitzend Kohle nach.

Irgendwo im mystischen Nebel nationaler Wonne liegt das Ziel der Reise. Das Deutschland Bismarcks in neuer Form sieht Arnulf Baring auferstehen. Peter Merseburger schwebt das »Gegenstück einer Politik des kalten Herzens« vor. Martin Walser möchte die »peinliche Ausgrenzung« der »Pfleger nationaler Tendenzen« beenden.

Das junge Deutschland, wie soll es das Nationale pflegen? Jeden Morgen das Deutschlandlied im Kindergarten? Pflichtjahr für alle bei der Kriegsgräberfürsorge? Mehr Schwarz-Rot-Gold in den Straßen?

Was tut man gegen die Vernachlässigung des Nationalen? Schickt man Soldaten in die weite Welt? Baut man in Berlin das Hohenzollern-Schloß wieder auf? Wählt man einen Bundespräsidenten, der so redet, wie die Pfleger nationaler Tendenzen reden?

Wie soll sie aussehen, die nationale Identität, die wir mit Helmut Schmidt »suchen und finden« sollen?

Die mächtigen Worte vom »normalen Nationalstaat«, vom »Interesse des Auslands«, von der »größeren Verantwortung«, wirken sie nicht so pompös leer wie der Koloß aus Plastikplanen in der Mitte der Hauptstadt, der in den Berlinern die Sehnsucht nach dem Schloß wecken soll?

Stöbert man in dem warmen Mief, den die Worte verhüllen, findet man wenig darüber, was sein soll, viel darüber, was nicht sein soll. »Nation« ist zum Kittwort der Ratlosen aller Generationen geworden, zum Schlüsselwort für den Wiedereintritt in eine »Normalität«, die es für die Deutschen nie lange gegeben hat. Ihr Nationalstaat gedieh spät, entartete bald zum massenmordenden Imperium, zerfiel schließlich in zwei Strafrepubliken.

Als ob Nationalbewußtsein für jedes Volk so selbstverständlich wäre wie Moral für jeden Menschen, blickt Walser wehmütig auf 40 Jahre »Ausgrenzung des Wortes« zurück, auf eine Periode der Anomalie, der »Selbstunterdrückung«, der Verklemmung. »Wer vor 1945 Lesen und Schreiben gelernt hat, der hat die Ausgrenzung miterlebt.«

Nicht alle seine Altersgenossen werden Walser zustimmen (jeder, der über eine »Generation« schreibt, verdichtet), dennoch hat er recht: Die Teilung Deutschlands schien dieser Generation immer perverser als den folgenden.

Wer nach 1945 Lesen und Schreiben gelernt hat, lauscht Walsers Erzählungen mit der Enttäuschung eines Kindes, das nicht bekam, was alle anderen bekamen: das offenbar allen Weltbürgern zustehende Quantum Nationalbewußtsein.

Ist jedem Menschen gleichsam von Natur aus das Nationalgefühl mitgegeben? Ist er seelisch behindert, wenn es ihm fehlt? Darf man fragen, wer ihn so verkrüppelt hat? Muß man vaterlandslos Debile therapieren?

Wer nach 1945 Schreiben und Lesen gelernt hat, der mußte irgendwann nach der Pubertät - neben seinem Verhältnis zum anderen Geschlecht - auch sein Verhältnis zu den Millionen Deutschen um sich herum verstehen lernen.

Er blickte sich nach Menschen um, die er achten und mögen konnte, weil er in ihnen auch sich selbst sehen und mögen wollte. »Die Vorzüge, der Wert und Sinn der Nation sind zugleich die eigenen« (Norbert Elias).

Unter den Deutschen, die vor ihm Lesen und Schreiben gelernt hatten, fand er wenige, mit denen er sich gemein fühlte. Wenn er wissen wollte, was sie gemein gemacht hatte als Nation, hörte er wenig, was er mögen konnte.

Wenn er Ausländer traf, erlebte er, daß er für das, was der Nationalismus seiner Vorfahren angerichtet hatte, haftbar gemacht wurde und daß ihr Wesen auch ihm unterstellt wurde.

Wer nach 1945 Schreiben und Lesen gelernt hat, konnte sich als Deutscher nur lieben lernen, wenn er das, was deutsch ist, ändern half.

Er war stolz darauf, die Tanzstunde zu verweigern.

Er war stolz auf Helmut Schmidt, der den Entschluß zur Stationierung atomarer Waffen in »beiden Teilen unseres Vaterlandes« mit dem Ermächtigungsgesetz Hitlers verglich.

Er war stolz auf Armin Harys Goldmedaillen.

Er war stolz auf die Halbstarken mit dem Entenschwanz, über welche die Wochenend schrieb: »Die Zukunft hat schon begonnen - der Terror einer ebenso labilen wie brutalen Generation von Halbwüchsigen leitet sie ein.«

Er war stolz darauf, die Rolling Stones in der Waldbühne gesehen zu haben und Rudi Dutschke in der Lila Eule.

Er war stolz auf seine langen Haare und den kurzen Rock seiner Freundin.

Er war stolz auf die Deutschen, die gegen Vietnamkrieg, Notstandsgesetze, Atomkraftwerke, gegen alles mögliche demonstrierten.

Er war stolz auf die kurzen Haare und den langen Rock seiner Freundin.

Er war stolz auf die Grünen, die Feministinnen, die Schwulen, die Müslis, die Punks, die Skinheads, die Grauen Panther, die Türken und all die anderen Staatsbürger, die ihm sein Land angenehm machten.

Wer nach 1945 Schreiben und Lesen gelernt hat, der war nie »stolz«, der war »froh« darüber, daß sein »Vaterland« nicht mehr das Deutschland Konrad Adenauers war. Er dachte nicht an die »nationale Identität«, sondern an das »kollektive Selbstbewußtsein«, was dasselbe ist, aber nicht mehr dasselbe war.

Wenn Patrioten »amtlich Unzuständige« sind, »die sich um das Gemeinwohl kümmern« (Wolf Lepenies), dann hat das ach so postnationale Deutschland Millionen junger Patrioten in die Welt gesetzt.

Die Schüler und Studenten gehören zu ihnen, die lieber auf die Straße gingen als zum Karriereberater; auch die Bürgerinitiativler, die Kirchengruppen, die Friedensbewegten, die Naturschützer, die Hausbesetzer und auch die Autonomen, die sich in Rostock vor die Asylbewerber stellten.

Wer nach 1945 Lesen und Schreiben gelernt hat und von der »Vernachlässigung des Nationalen« liest, der sieht Weihnachtskerzen in den Fenstern und Schlesiertreffen im Fernsehen, der hört 17.-Juni-Appelle und 3.-Oktober-Reden, der ahnt, daß ein kluger Mensch wie Martin Walser mehr im Sinn haben muß als Rituale - aber was?

Von »Samisdatdeutschen« spricht der Schriftsteller, von einer kleinen Gruppe von Deutschen also, die nur im Untergrund ihrer Liebe zur Nation nachgehen durften, ausgegrenzt, unterdrückt, totgeschwiegen.

Fragt man die Deutschen, so antworten 76 Prozent der Westdeutschen, sie seien »stolz darauf, deutsch zu sein«, egal, ob man sie 1971, 1981 oder 1990 vernahm. Und ebenso viele halten Nationalbewußtsein für »eine gute Eigenschaft«. 58 Prozent »freuen sich«, wenn sie die Bundesflagge sehen (1977: 47 Prozent, 1951: 23 Prozent).

Bis auf die sechziger Jahre, als sich ihr Unbehagen in ein paar Landtagssitzen für die NDP niederschlug, reichte es den 45 Millionen Samisdatdeutschen offenbar, wenn ihr Nationalgefühl allabendlich kurz vor dem Testbild mit dem Deutschlandlied befriedigt wurde, alle paar Wochen durch ein Fußballänderspiel und ansonsten durch schwarzrotgoldene Balken auf der Titelseite der Bild.

Als die Mauer fiel, währte der nationale Taumel, mehr im Inland als im Ausland gefürchtet, exakt bis zum 31. Dezember 1989. Mit dem Feuerwerk am Brandenburger Tor endete die Begeisterung so abrupt, als hätte jemand den Schluß befohlen.

Warum schwenken die Deutschen ihre Flagge nicht so wild wie die Amerikaner? Warum ist ihr Nationalstolz nicht so perlend wie der der Franzosen? Weil, wie Walser in brusttrommelnder Selbstüberschätzung glauben machen möchte, »die Intellektuellen« das Wort Nation 40 Jahre lang ausgegrenzt haben?

Ein Gefühl könne einem keiner vorschreiben, hat Walser zu Recht vor einigen Jahren Kritikern geantwortet, die ihm seine nationalen Gefühle vorhielten. »Man hat es oder hat es nicht.«

Kann es sein, daß die Mehrheit der Deutschen, klug geworden im Blick zurück, stolz darauf ist, daß sich ihr Nationalstolz hinter vorgezogenen Gardinen auslebt? Daß es reichte, wenn Ludwig Erhard sagte: »Wir sind wieder wer«; wenn Willy Brandt aufs Wahlplakat schrieb: »Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land«; wenn Helmut Schmidt einmal im Jahr den »Bericht zur Lage der Nation« gab; wenn Helmut Kohl einmal die Woche vom »Vaterland« sprach?

Fragt man die Deutschen, was ihnen einfällt, wenn sie an ihr Land denken, sagen sie (in dieser Reihenfolge): Industrie, Heimat, Leistung, Ordnung, Fortschritt, Sauberkeit. Ihr Nationalbewußtsein ruht auf der Stärke der Mark, der Sicherheit ihres Arbeitsplatzes (falls vorhanden) und der Qualität deutscher Wertarbeit.

Weil die jüngere Vergangenheit kaum Anlaß für Stolz bot und Goethe, Schiller und Bach nicht jedem die Brust schwellen lassen, hielten sich die, denen danach war, an Mercedes, AEG und Krupp. »Nation« war nach dem Krieg für die Bundesdeutschen nicht mehr Kulturnation und Schicksalsgemeinschaft, sondern Arbeitsgemeinschaft und Sozialversicherung.

Die Nation als Versorgungseinrichtung, als Garant für Arbeit und Brot, als Arbeitsamt und Rentenbehörde - das wurde zum Kern westdeutscher Vaterlandsliebe.

Darum beunruhigten Wirtschaftskrisen die Bundesbürger stets mehr als Identitätskrisen.

Darum ist mehr vom »Standort Deutschland« die Rede als von Deutschland.

Darum ist es für Ausländer in der Bundesrepublik lebenswichtig, durch Lohnsteuerzahlungen ihre nationale Nützlichkeit zu beweisen.

Darum fällt die Einheit mit den Ostdeutschen so schwer: Die Westdeutschen sehen die Basis ihrer in 45 Jahren geschaffenen nationalen Gemeinschaft durch 16 Millionen Wirtschaftsflüchtlinge aus der DDR gefährdet.

Sie sollen teilen (das hat man ihnen inzwischen gestanden), weil in einer Nation jeder für den anderen haftet (das versucht man ihnen gerade beizubringen).

Jahrzehntelang hat man den Bundesbürgern vorgeschwärmt, ihr Wohlstand sei der Grund für die Wertschätzung in aller Welt; nun appelliert man ausgerechnet an das Nationalbewußtsein, um sie zum Verzicht auf Wohlstand zu bewegen.

Aus dieser Zwickmühle wird auch der Umweg über das Ausland nicht hinausführen. Noch so viele deutsche Soldaten in Belet Huen, Phnom Penh oder sonstwo, noch so laute Rufe nach einem Sitz im Uno-Sicherheitsrat können nicht jene Hurraschreie hervorrufen, die das Knurren im Innern übertönen.

Nicht das Blut, nicht die Kultur, nicht der Staat machen die Nation, »der Mensch macht die Nation«, so der englische Philosoph Ernest Gellner. Zur Nation werden Menschen mit gemeinsamer Sprache nur durch ihren Willen, nicht durch die Staatsgrenze, die sie zusammensperrt.

Ein Fünftel der Westdeutschen und nur ein Zehntel der Ostdeutschen fühlen sich »gemeinsam als Deutsche«. Die gegenseitige Anerkennung, Basis jeder Nation, ist seit der staatlichen Einheit nicht gewachsen, sondern gesunken. Nur 35 Prozent der Westdeutschen hoffen noch, »daß die Einheit gelingt«. Auch um die Ziele ist Zwist: 71 Prozent der Westdeutschen und 85 Prozent der Ostdeutschen sehen sich durch »entgegengesetzte Interessen« getrennt.

Der Stolz, Deutscher zu sein, bröckelt auf beiden Seiten, weil der eine sich im anderen nicht erkennen möchte, weil der Deutsche den Deutschen im anderen nicht mag. Wenn dann noch der Arbeitsplatz gefährdet ist, stehen bei denen, die sich bedroht fühlen, nur noch 45 Prozent zu ihrem Nationalstolz.

Und gerade der, der im Westen Republikaner wählt, hält nicht viel von den Vaterlandsleuten im Osten: Nur 42 Prozent sehen in ihnen »in erster Linie Deutsche«.

Lange bevor die Verachtung zwischen Ost und West die Nation spalten konnte, beobachtete Norbert Elias in der Bundesrepublik »die enorme Feindseligkeit, die Teile der Bevölkerung im Verhältnis zu anderen Teilen fühlen«. Den Westdeutschen fehle, so schrieb der Philosoph 1977, »das Bewußtsein einer alle Gruppen umfassenden Schicksalsgemeinschaft«.

Noch im Jahr vor der Zufallsvereinigung lobte Hans Magnus Enzensberger das tiefe Bedürfnis der Westdeutschen »nach gemütlicher Segregation«, nach Absonderung. Steuerberater veranstalteten Steuerberaterbälle, auf denen Zahnärzte nichts zu suchen hätten; Anthroposophen besuchten am liebsten Anthroposophen. Und Alternativler pflegten nur Umgang mit Alternativlern. »Eine deutsche Gesellschaft« habe es, so schien es ihm, »vermutlich nie gegeben«.

Tatsächlich war die Bundesrepublik, bis zu dem Tag, als ihr die Mauer ins Haus fiel, nicht nur eine Föderation der Länder, sondern auch der Gruppen. Nicht nur den nationalen Konsens zwischen einem Bochumer Punk und einem Hamburger Reeder gab es nicht, auch den nicht zwischen einer Münchner Hausfrau und einem Bremer Lehrer, und nicht den zwischen einem Taxifahrer aus Köln und dem Ökobauern aus Dorfmark.

82 Prozent der westdeutschen Jugendlichen zwischen 16 und 25 Jahren fühlen sich in erster Linie der Region verbunden, in der sie leben, nur 14 Prozent fühlen »nationalstaatlich«. Die Jugendlichen sind diejenigen unter den Deutschen, bei denen der Stolz, Deutscher zu sein, am wenigsten ausgeprägt ist.

Sie haben Zugriff auf und Zutritt zu vielen Nationen: Vom Kollektiv der Straßengang bis zur virtuellen Nation des Computerklubs können sie wählen zwischen Gemeinschaften ohne Vaterland, die ihnen offensichtlich mehr Heimatgefühl geben als die Einheit mit 80 Millionen Landsleuten.

Wer nach 1965 Schreiben und Lesen gelernt hat, der hat ein weniger ideologisches und mehr pragmatisches Verhältnis zu allen möglichen Kollektiven. Nicht im historischen Jenseits, sondern im weltlichen Alltag (oder im All) sucht er sich die Werte, aus denen er seine Burg baut.

Wer als Kind Mickey Mouse und Asterix gelesen hat, wer als Jugendlicher »Die Zwei« und »Saturday Night Fever« gesehen und »Queen« und »Police« gehört hat, wer von der Sandkiste bis zum ersten Girokonto im Geiste des weltmaschigen Benettonismus groß geworden ist, den langweilt Deutschkult.

Der Internationalismus der Pop-, Film-, Mode- und Cola-Industrie hat sein Auge geschärft bei der Suche nach dem, was er schön, edel und gut findet, und da bleibt aus deutschen Landen nicht viel auf dem Tisch.

Warum soll er stolz sein auf ein Land, dessen Jeans, Bands, Politiker und Filme so sind, daß er nichts mit ihnen zu tun haben möchte? Was soll er sich Goethe, Schiller und Bach an die deutsche Brust heften, wenn er deshalb Hitler, Goebbels und Eichmann aufgehalst bekommt?

Er möchte nicht mehr wie Günter Graß jeden Tag »Auschwitz mitdenken«, aber er weiß (ahnt), daß Auschwitz eine der Ursachen dafür ist, wie es in den deutschen Kinos, Städten und Seelen aussieht. Daß Deutschland nun lediglich »eine größere Provinz in Europa« (Wolf Lepenies) ist, mußte ihm keiner sagen.

Seit das Blumenbanner der Nation of Woodstock von Coca-Cola um die Welt getragen wurde, blühen und sterben die Inter-Nationen der Jugendlichen aller Länder im Fünf-Jahres-Takt, ausgerufen vom Zeitgeist, begraben vom Zeitgeist. 18 Prozent der deutschen Jugendlichen fühlen »transnational«. Sollen wir sie bedauern oder beglückwünschen?

Die Sprache der Nation der Gleichaltrigen ist ihre Musik, ist ihre Mode; sie kommunizieren über MTV und jedes andere Massenmedium, das ihre Botschaften sendet, weil es von ihnen empfangen werden möchte.

Anfangs wurde Popmusik von Jugendlichen für Jugendliche gemacht; seit die internationale Jugendindustrie die Produktion und den Transport der Botschaften übernommen hat, versucht die grenzüberfliegende Schicksalsgemeinschaft der Heranwachsenden erfolglos, der Kommerzialisierung ihrer Stile, Gefühle und Leidenschaften zu entgehen - kaum tragen sie ihre Jeans verkehrt herum, starrt ihnen ihre Kreation aus Millionen Reklameanzeigen entgegen.

Die internationale Zeichensprache der Skinheads ist simpel und in jedem Land von den Dümmsten zu verstehen: Scher deinen Kopf kahl, trage Stiefel mit Stahlkappe, trinke viel Bier, höre knallharte Musik - und du bist unverwechselbar.

Der Haß auf Hippies und Yuppies vereint die Internationale der sozialen Verlierer; die Gewalt gegen Ausländer gehört für viele rechte Kahlköpfe zu der Sorte von Freizeitspaß, mit der man sich das Leben in den unteren Rängen der Gesellschaft abwechslungsreich gestaltet.

Ihr Nationalismus entspringt nicht blinder Vaterlandsliebe, sondern ist nicht viel mehr als die gewaltsame Durchsetzung des Anspruchs, daß das Land, in dem man geboren ist, verdammt noch mal alle Landsleute besser zu behandeln habe als jeden Fremden.

In anderen Ländern stößt diese sich vortastende Gewalt rechter Jugendlicher schneller auf den Widerstand von Patrioten aller Couleur.

In Deutschland können sich die Hakenkreuzschläger in der reich gefüllten Asservatenkammer der Geschichte bedienen, können im Strom von 81 rechtsextremistischen Organisationen und Zehntausenden Sympathisanten marschieren; vor allem aber konnten sie sich angefeuert fühlen durch den Massenchor, der vor der Flut der Fremden warnt.

Immer dann, wenn in den monatlichen Befragungen der Westdeutschen die »Ausländer« zum wichtigsten Problem der Nation aufstiegen, schnellte auch die monatliche Zahl der »fremdenfeindlichen Straftaten« nach oben. Die Ausschläge der ausländerfeindlichen Stimmung im Lande waren nahezu deckungsgleich mit der Kurve der ausländerfeindlichen Anschläge.

Als Stoßtrupp der Stammtische durften die Schläger und Brandstifter 4067mal zuschlagen, bis Mahnwachen und Lichterketten zumindest das Bild vom demokratischen Deutschland zu retten versuchten.

Die meisten der etwa 1400 15- bis 25jährigen, die bei rechtsradikalen Anschlägen gestellt wurden, sind Freizeitterroristen, die, soweit sie sich zu ihrem Tun äußern, aus Haß, Spaß und Langeweile auf Ausländer losgehen. Nicht aus politischer Verzweiflung sind sie zu Gewalttätern geworden - sie sind Gewalttäter, die sich politische Begründungen ausleihen, um gesellschaftlichen Beifall zu ernten.

Man muß schon vor 1945 Schreiben und Lesen gelernt haben, um wie Martin Walser auf den Gedanken zu kommen, diese Jugendlichen seien kahlköpfig geworden, »weil ihr Diskurs (der nach rechts tendierende) überhaupt nicht zugelassen wurde«.

Werden S-Bahn-Surfer zu S-Bahn-Surfern, weil ihre Meinung zum öffentlichen Nahverkehr nicht gefragt ist? Werden Hooligans zu Hooligans, weil ihre Argumente gegen die Abseitsregel ungehört bleiben?

»Kostümfaschisten« nennt Walser die »Skinheadbuben« - und versucht doch, sie als Opfer politischer Ausgrenzung vorzuführen, zur Erweckung des Nationalen in uns allen. Muß man nach 1945 Schreiben und Lesen gelernt haben, um nicht zu begreifen, warum ausgerechnet vorauseilender Nationalexhibitionismus nach rechts tendierende Jugendliche davon abhalten soll, rechtsradikal zu werden?

Muß man erst mit dem Gleitschirm abgestürzt sein, um wie Heiner Geißler zu erkennen, daß in »der Enttabuisierung rechtsradikaler Themen« der »eigentliche Grund« für das brandlegende Zusammenspiel zwischen jugendlichem Protest und nationalistischen Kostümverleihern liegt?

Ob zartbraune Jungen die Karriere vom Protestrechten, über den Gewalttäter, den Nazi-Sympathisanten und den Wehrsportler bis zum schwarzbraunen Terroristen durchlaufen, hängt davon ab, ob sie sich als Avantgarde einer breiteren Bewegung fühlen können. Im Monat nach der Asylrechtsänderung durch den Bundestag verdreifachte sich die Zahl der Anschläge auf Ausländer im Vergleich zum Vormonat.

Der überwiegenden Mehrheit ihrer Altersgenossen sind Kahlköpfe ein Greuel. Weniger als 5 Prozent der deutschen Jugendlichen bringen Skinheads Verständnis entgegen. 13 Prozent bevorzugen Punks, 17 Prozent Hausbesetzer, 72 Prozent sympathisieren mit Friedensbewegten.

Die Hitliste der westdeutschen Jugendgruppen wird von den Umweltschützern angeführt (77 Prozent der Kids mögen sie), die Haßliste beherrschen die Hooligans und Skinheads (89 Prozent beziehungsweise 82 Prozent verachten sie).

Sozial gehören die rechten Protestler zu den unteren Schichten ihrer Jahrgänge, ökonomisch zählen sie zu den Verlierern, ideologisch zu den Außenseitern. Sie sind nicht die Avantgarde ihrer Generation, sie sind die Nachhut, und deshalb schlagen sie um sich.

Ihr Aufstand ist keine Jugendrevolte, ist kein Kampf der jüngeren Generation einer Nation gegen die ältere, um unter dem Vorwand der besseren Moral an die Jobs und die Macht der Altvorderen zu kommen, ist nicht einer von diesen zyklischen Ausbrüchen, welche der Bundesrepublik alle zehn Jahre neue Schallplatten, neue Weltanschauungen und neue Aufsteiger verschaffen.

Die 48er durften alles neu machen, den 58ern reichten zersplitterte Konzertsäle, die 68er erschlugen den Untertanengeist, die 78er entdeckten den ökologischen Untergang, die 88er genossen nur.

Jugendprotest wird in liberalen Gesellschaften immer auf die gleiche Weise verdaut: Die juvenile Elite entdeckt den Ungehorsam und den Geist der Zeit, worauf die juvenile Masse den Zeitgeist so lange trivialisiert, bis auch die senile Masse ihm anhängt.

Nationalismus ist in Deutschland (bisher) der Geist der jungen, aufstiegsorientierten Verlierer, ist die Holzkeule derjenigen, die ihre Nation überfremdet wähnen und sich deshalb dem Staat entfremden.

Sie sehen die Aufstiegskanäle verstopft - durch die Gewinner ihres Jahrgangs und die Heranwachsenden, die vor ihnen schreiben und lesen gelernt haben. Sie fürchten, daß die Vereinigung und »die Ausländer« ihre Chancen weiter verringern.

»Generation X« nennt Douglas Coupland jene bedauernswerten Jahrgänge von Kids, denen klar wird, daß sie die erste Nachkriegsgeneration abgeben, deren Lebensstandard unter dem der Eltern bleiben wird. Die jungen Mittelstandsverlierer reagieren (bisher) mit »Lessness« darauf, mit jener Weltanschauung, die weniger Konsum zum Beweis für mehr Moral erklärt. Die jungen Unterschichtsverlierer greifen zum Baseballschläger.

Ihre Gewalt ist international, auch wenn sie sich in Deutschland und anderswo national gebärdet. Sie gehört inzwischen so selbstverständlich zur Kultur dieser Kids, daß man die erstaunliche Gewaltlosigkeit zurückliegender Jahrgänge als Ausnahmeerscheinung zu bewundern beginnt.

Schuld an der Gewalt der deutschen Generation X sei die Generation Y - klagt die deutsche Generation Z. Die »antiautoritäre Erziehung« der 68er sei verantwortlich dafür, daß sich rechte »Mordbrenner als Avantgarde« (Helmut Schmidt) fühlen können; die »Maßstäbe« hätten sich »im ätzenden Säurebad der Kritik aufgelöst«, die »moralische Eigenbrötelei der 68er-Rebellen« habe »die Gemeinschaft auf dem Altar der Gesellschaft geopfert« (Theo Sommer); diese Generation habe »das Fehlen einer moralischen Substanz in der deutschen Gesellschaft« zu verantworten, habe »das Gefühl für Solidarität« geschwächt und den »moralischen Grundkonsens, auf dem die Entwicklung der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik beruhte, in Frage gestellt« (Kurt Sontheimer).

Mal davon abgesehen, daß die ostdeutschen Mordbrenner nicht antiautoritär, sondern im Sinne Schmidtscher Sekundärtugenden erzogen wurden; mal davon abgesehen, daß auch die westdeutschen Skinheads nicht im sozialen Milieu von Erziehungsexperimenten mißrieten; mal davon abgesehen, daß gerade die Eigenbrötler Solidarität praktizieren und die Rebellen Gemeinsinn beweisen; mal davon abgesehen, daß gerade durch die 68er die moralische Leere des Wirtschaftswunderlandes gefüllt wurde - zu loben ist die Klarheit, mit der Sontheimer, Sommer und Schmidt, drei Männer, die vor 1945 Schreiben und Lesen gelernt haben, über die nationale Identität des neuen Deutschland räsonieren.

»Von der Egozentrik des zurückliegenden Vierteljahrhunderts« müsse man sich verabschieden, fordern sie, wenn aus dieser Nation etwas werden solle: Bis in die Wortwahl spürt man das Unbehagen, mit der die alten Herren auf die Generation Y hinunterblicken: Menschen, die durch die »provozierende Lässigkeit ihrer Mode« auffielen, die einen »sich um gesellschaftliche Normen und Verpflichtungen wenig scherenden Lebensstil« pflegten und die »Selbstverwirklichung bis zum Exzeß« predigten.

Merkwürdigerweise schauen die Vordenker der Generation Z mehr zurück als nach vorn, wenn sie sich mit der Zukunft der Nation beschäftigen, und dieser Blick ist seltsam getrübt. Als wäre Rudi Dutschke Bundeskanzler gewesen und er selber SDS-Führer, so macht Helmut Schmidt die »Entwicklung an unseren Schulen und Hochschulen« für das gegenwärtige »rücksichtslose Spekulantentum in Unternehmen« verantwortlich, natürlich auch für die »Gewalt im Fernsehen«.

Der Mär zum Trotz haben die allmächtigen 68er in ihrem Vierteljahrhundert gleich viermal verloren: das erste Mal 1968, als der revolutionäre Sturz des Kapitalismus scheiterte und in der Modernisierung desselben endete. Das zweite Mal 1978, als der Zukunftsglaube der 68er im Loch der »ökologischen Apokalypse« (Reinhard Mohr) verschwand. Das dritte Mal 1988, als im hedonistischen Wirbel der Moden auch dem letzten klar wurde, daß das, was als politischer Aufstand gegen »den Westen« begonnen hatte, »kulturell zu dessen Vollstrecker« (Thomas Schmid) geworden war.

Das vierte Mal 1989, als auch noch die Mauer auf die Geschlagenen fiel.

Jede Generation ist fest davon überzeugt, daß die nachfolgende Generation verkommener und dümmer ist - und entbehrlich. Man mag darum Helmut Schmidt nachsehen, wenn er den »25jährigen von 1968« attestiert, »als 50jährige im Jahr 1993« hätten sie »keine ausreichende Führungskraft«.

Jeder schließe für einige Sekunden die Augen und lasse diese Jahrgänge aus der Führungsetage von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Geiste an sich vorbeiziehen - der Alt-Bundeskanzler hat recht. Nieten in Nadelstreifen, Nieten in Jeans.

Die meisten der »intellektuellen Führer von damals leben nicht mehr«, bilanziert Helmut Schmidt feixend, »oder sind aus Altersgründen von der Bühne abgetreten«, in den geistigen Vorruhestand. Allenfalls als Prügelochsen treten sie in Erscheinung, wenn irgendein Feuilletonist mal wieder, in diesen Kreisen beliebt, alte Irrtümer züchtigen möchte oder, noch begehrter, einen bekehrten »Alt-68er« vorführt wie einen Stier, der Milch zu geben begonnen hat.

Die, natürlich bis auf Antje Vollmer und Hermann Gremliza, sprachlose Generation trägt zur öffentlichen Meinungsbildung nichts Originäres bei; die geistige Opposition zur Generation der Kohls und Schmidts reicht über die Titanic-Redaktion nicht mehr hinaus; diejenigen, die bis in die Kommandohöhen der Gesellschaft vordringen, verfetten oder verglühen.

Schon aus biologischen Gründen hätte jetzt, Anfang der neunziger Jahre, die Generation der Unsichtbaren - gezwungenermaßen - die Meinungsführerschaft übernehmen müssen. Aber die scheußliche Vereinigung hat sie vor Schreck endgültig ins stumme Abseits flüchten lassen und der Generation der Unvermeidlichen den Mut gegeben, die friedliche Koexistenz des letzten Vierteljahrhunderts - uns die Macht, euch die Kultur - zu kündigen: Das junge Deutschland soll, vom Ballast des 68er-Revöltchens befreit, zu neuer Identität finden.

Auf der Sperrmülliste: die »Konfliktpädagogik« (Kohl), der Pazifismus, die »Individualisierung von Lebensstilen« (Schäuble), der Feminismus, die »vermeintlich nationenübergreifenden Ideologien« (Schmidt) und all die anderen Unappetitlichkeiten, die den Deutschen schon immer gestört haben.

Hat nicht auch die Ausdauer genervt, mit der die Generation Y in der Jugend der Generation Z meinte herumstöbern zu müssen? Das deutsche Volk, forderte schon Franz Josef Strauß, müsse »nicht mehr den gebeugten Gang des Sträflings der Weltgeschichte« gehen. Alfred Dregger rief 1982, als Helmut Kohl noch erfolglos zur geistig-moralischen Wende blies, »alle Deutschen auf, aus dem Schatten Hitlers herauszutreten, wir müssen normal werden«. Heute warnt Helmut Schmidt davor, »unserer Jugend die lange Geschichte unseres Volkes als ein Verbrecheralbum vorzustellen«.

Für viele derjenigen, die vor oder nach 1945 Schreiben und Lesen gelernt haben, war nach den Jahren des Schweigens, in denen nur wenige der deutschen Barbarei auf den Grund gingen, das Abarbeiten deutscher Schuld zum Kern ihrer nationalen Identität geworden. Sie waren (sind) stolz darauf, sich zu schämen, daß sie Deutsche sind.

Die Nachkriegszeit kann für diesen Teil der Deutschen, von dem Soziologen Bernhard Giesen »Holocaust-Nation« genannt, nicht zu Ende gehen, weil ihr Deutschsein am Ende wäre.

Deshalb steht auf der Suche nach einer gemeinsamen nationalen Identität nicht nur die Ost-Nation der West-Nation im Weg, auch die Holocaust-Nation und die Wir-sind-normal-Nation blockieren einander: Für die einen heißt Deutschsein, anders zu sein als andere, für die anderen heißt Deutschsein, so zu sein wie andere.

Nicht jeder, der vor 1945 Schreiben und Lesen gelernt hat, gerät »in einen Geschichtswirbel« (Walser), wenn das Wort Nation fällt; und nicht jeder, der nach 1945 Schreiben und Lesen gelernt hat, versinkt im, von Botho Strauß beklagten, »verklemmten deutschen Selbsthaß«, wenn er Schwarz-Rot-Gold sieht.

Strauß gehört zu jenen Nachkriegsintellektuellen, denen an den Nachkriegsintellektuellen zu stören begonnen hat, daß sie »grimmig sind gegen das Unsere«. Das Unsere ist der Soldat, ist die Kirche, die Tradition, ist die Autorität, ist das Volk. Das Eure sind »die Heerscharen von Vertriebenen«, die das Unsere zerstören und deshalb von den Intellektuellen freundlich begrüßt werden.

Der postlinke Selbsthaß von Intellektuellen erreicht selten die germanische Wucht Straußscher Prosa, meist schmeichelt er auch in der Wortwahl dem Ohr des Volkes. »Intellektuelle sind Idioten«, schreibt Günther Nenning, und deshalb möchte er sie zur Strafe für die Irrtümer der letzten Jahrzehnte ins Volk jagen, um dessen »elementare Gefühle« zu spüren.

»Das Volk« spielt in den Feuilletons der neunziger Jahre die Rolle »der Arbeiterklasse« der sechziger Jahre; seiner Klugheit nahe zu kommen scheint das Ziel aller Debatten; ehrwürdige Volksweisheiten (jeder ist sich selbst der nächste; der Mensch ist schlecht; andere Länder, andere Sitten; Übermut tut selten gut) werden, linguistisch geliftet, als Tabuverletzungen präsentiert.

Der Intellektuelle lebt vom Widerspruch zum Volk; wenn er aufhört, gegen die Stimme der Mehrheit anzubrüllen, schafft er sich ab - in einer Zeit, in der es noch mehr an Geist denn an Geld mangelt und Aufklärung nötiger ist als 1968.

Das Scheitern der Utopie vom guten Menschen scheint in der Kapitulation vor dem bösen Menschen zu enden. Ehedem Linksliberale drehen ihr müdes Haupt und suchen Trost und Wahrheit nun da, wo sie das Volk vermuten.

In rechter Gewalt sehen sie die letzte Warnung des Unseren vor »Überfremdung« und wollen das deutsche Wesen retten, bevor es den Rechten in die Hände fällt. Der Rechtsliberale macht, was der Linksliberale gemacht hat: Er reicht die Argumente vom äußeren Rand ängstlich zur Mitte der Gesellschaft durch.

Intelligente Beobachter in den Wachtürmen rechter Gesinnung wie die Kommentatoren des Monatsblattes Junge Freiheit loben solche Geistreichungen als Hilfe auf dem »dornigen Weg zur Wiederherstellung der geistigen Persönlichkeit Deutschlands«, als Belege für jene »reflexive Gründlichkeit«, die »ein Erbteil der kulturellen Eigenart Deutschlands ist«.

Der völkische Weihrauch über den Feuilletons, der neue Sound im Gleichschritt marschierender Birkenstocksandalen löst auf diesen Hochständen deutscher Weltsicht wiehernde Freude aus, wähnte man doch zumindest dieses Terrain fest in den Händen jener Generation, die man in diesen Kreisen hoffnungslos »linksliberal mit neomarxistisch-antifaschistischen Schnittmengen« (Junge Freiheit) zu nennen pflegt.

Nach den Morden von Mölln flackerte der universelle Humanismus der 68er noch in Lichterketten auf. Nach den Morden von Solingen brach eine Welle von Nachfolgetaten los.

National zu sein, ohne nationalistisch zu werden, das möchten Deutsche aller Generationen - von Deutschen aller Generationen mißtrauisch betrachtet wie anonyme Alkoholiker, die behaupten, nur ein Gläschen trinken zu wollen.

Nationale Identität entsteht nicht durch Stiftungen und Seminare, nicht in Heino-Konzerten und an Feiertagen. Was deutsch ist, bestimmt alltäglich Bild, entscheiden die Medien, der Bundestag, die Stammtische.

Jede Generation verändert die Nation, gibt ihr etwas, nimmt ihr etwas. Generation Y hat der Bundesrepublik den Gehorsam entzogen. Und gegeben? Die Bürgerinitiativen, die Grünen und das Gefühl, ein guter Mensch zu sein.

Generation Z gab der Nation den Glauben an die Mark und an die Amerikaner und den Auftrag, irgendwann wieder eine Nation zu sein wie andere auch. Darum schreiben Alt-48er heute Artikel und Manifeste, in denen sie den Mangel an Nationalgefühl beklagen und die Allmacht des Geldes bedauern.

Wenn nach fast einem halben Jahrhundert bundesdeutscher Konkurrenzwirtschaft sich ihre Verfechter über die »schamlose Selbstbedienungsmentalität« in der »Raffgesellschaft« empören, ist das diese Art von Doppelmoral, die schon in den sechziger Jahren auf den Sonntagnachmittagsspaziergängen für verzweifelte Heiterkeit sorgte.

Die nationalen Erwecker werden die Deutschen so lange zur Solidarität, zum Teilen, zum Lohnverzicht trommeln, bis diesen das Wort »Nation«, zum Verdruß von Martin Walser, mehr vergällt ist, als es die Intellektuellen vermochten.

Wer nach 1965 Schreiben und Lesen gelernt hat, wurde groß unter den Stalinorgeln der Reklamerepublik und hat ein beruhigend abgeklärtes Verhältnis zu Verheißungen jeder Art.

Die deutsche Generation X wird sich ihre nationale Identität aus dem mischen, was ihr Generation Z an nationaler Wehmut und Generation Y an nationaler Diskretion vorgelebt hat - und aus dem, was auf dem internationalen Markt der guten Eigenschaften verwertbar erscheint.

Ihre »Affinität zur völkischen Paranoia« (Adorno) ist schwach, es überwiegt das Bestreben, »in Wahrheit zu leben« (Havel). Was hoffen läßt, daß diesen Deutschen ökologischer Globalismus wichtiger sein wird als nationaler Dunst, Weltexport einträglicher als Chauvinismus und ein Einwanderungsgesetz ehrlicher als Kohls Gastfreundschaftssound.

Sie leben unter dem Fluch (mit dem Segen), von der Vergeblichkeit aller großen Alternativen überzeugt zu sein.

Im Moment starren sie teilnahmslos auf das »große, weiche, empfindliche Ungeheuer« (Enzensberger), das ihre Nation sein soll. Mal kommt es ihnen klug, vertraut und schön vor, mal ist es tumb, brutal und eklig.

Aber immer muß man Angst haben, wohin es im nächsten Moment tritt. Y

»Jeden Morgen das Deutschlandlied im Kindergarten?«

»Der Deutsche mag den Deutschen im anderen nicht«

»Ihr Nationalbewußtsein ruht auf der Stärke der Mark«

»Groß geworden im Geist des weltmaschigen Benettonismus«

»Als Stoßtrupp der Stammtische durften die Brandstifter 4067mal zuschlagen«

»Die erste Generation, deren Lebensstandard unter dem der Eltern bleiben wird«

»Die geistige Opposition reicht über die Titanic-Redaktion nicht mehr hinaus«

»Das weiche, empfindliche Ungeheuer, das ihre Nation sein soll«

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