Studierende mit alarmierenden Lese- und Schreibschwächen

Aber mit großer Medienkompetenz: Eine Befragung unter 135 deutschen Fakultäten diagnostiziert einen Kompetenzwandel zuungunsten sprachlicher Fähigkeiten

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Verlernen wir das Lesen von Texten, die mehr als eine schnelle, für eine überschaubar kurze Zeit hochgefahrene Aufmerksamkeit verlangen, Mühe und Ausdauer, die Fähigkeit, komplizierten Satzgefügen zu folgen? Von einer Änderung des Leseverhaltens durch das Netz und durch die im Vergleich zur Buchkultur anders angelegten Texte war schon vor vier Jahren die Rede ( Macht uns das Netz unkonzentrierter, zerstreuter und dümmer?), diskutiert wurde sie in der Folge in mehreren Ländern mit der leicht irreführenden Fragestellung, ob Google uns verdumme.

Nun kommt die Klage in neuer Form zurück – mit der beruhigenden Nachricht, dass ein Zusammenhang der schwindenden Lesekompetenz mit Dummheit ursächlich nicht gegeben sei. Ob man kulturpessimistisch von einem Verdummungsprozess sprechen kann, ist Anschauungssache. Denn die Studenten, bei denen mit einiger Besorgnis eine Verarmung von Sprach-, Lese- und Schreibkompetenzen festgestellt wurde, sind natürlich nicht dümmer als früher. Sie haben im Vergleich zu vorhergehenden Studentenjahrgängen andere Fertigkeiten entwickelt, etwa eine größere Medienkompetenz, die ihnen "unbestritten" attestiert wird, und möglicherweise auch eine größere Flexibilität, vielleicht auch eine bessere Durchsetzungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Das ist, kurz umrissen, Teilergebnis einer Umfrage an den Philosophischen Fakultäten zur Studierfähigkeit. Ein anderes Ergebnis der Studie berührt die Eingangsfrage:

"Es gibt vor allem Schwierigkeiten bei der Rechtschreibung, der Orthographie, der Beherrschung von Grammatik und Syntax. Es ist insgesamt eine mangelnde Fähigkeit beobachtet worden, selbstständig zu formulieren, zusammenhängende Texte zu schreiben und vor allem auch eine mangelnde Fähigkeit bei der Lesekompetenz, also etwa bei Vorträgen mitzuschreiben. (...)

Also, natürlich können sie lesen. Aber es fällt ihnen sehr schwer, den roten Faden eines Textes zu begreifen. Und auch eine ähnliche Beobachtung haben wir aus den Vorlesungen erhalten, dass die Studierenden nicht in der Lage sind, also den Verlauf einer Vorlesung in ihren Exzerpten so zu folgen, dass sie das nachher noch mit Gewinn dann wieder verwenden können."

Der Befund stammt von Gerhard Wolf, Professor für Ältere Deutsche Philologie an der Universität Bayreuth und Vorsitzender des Philosophischen Fakultätentages. Er hat ihn in leicht variierter Form in zwei Interviews deutlich gemacht, aktuell für Deutschland Radio Kultur und vor gut einer Woche für die FAZ. Als dünkelhaftes, subjektives Urteil eines elitären Bildungsbürgers alten Zuschnitts – ein Vorwurf, der gerade gegenüber Alt-Philologen rasch erhoben wird – kann man das nicht leicht abtun. Denn die Diagnose wird offenbar von vielen anderen Lehrstuhlinhabern geteilt. Und sie betrifft auch die Fremdsprachen.

Befragt werden sollten 135 Fakultäten. Wie viele davon geantwortet haben, wird von Gerhard Wolf allerdings nicht mit absoluter Genauigkeit mitgeteilt. Gegenüber der FAZ spricht er davon, dass bei der Umfrage "von 60 angeschriebenen Fakultäten etwa 30 geantwortet" haben. Im Radiointerview lässt Wolf anklingen, dass man sich im Kreis der Vertreter aller 135 Fakultäten über die Qualitätsmängel bei den Studierenden unterhalten habe, was auf einen Konsens in der Wahrnehmung schließen lässt. Darüber hinaus erwähnt Wolf, dass man zwar besonders in den Geisteswissenschaften über die beobachteten Defizite alarmiert sei, dass es aber in den Naturwissenschaften "nicht viel besser" aussehe.

Die Studie wurde bisher nicht veröffentlicht. Begründung: Die zurückgesandten Fragebögen hatten im Ergebnis "bestürzt", weil die Kritik "heftig" war. Derart, dass man nicht alles veröffentlichen wollte.

"Also diese Sache ist unendlich heikel. Man muss nämlich bedenken, dass in dem Moment, wo man Kritik an den Schulen übt, man sofort also auch die Politik als Gegner hat. Und das wollen wir nicht. Wir sind daran interessiert, dass die momentanen Diskussionen in der KMK über die Bildungsstandards im Abitur, dass diese Diskussionen zu einem vernünftigen Ende führen und hier also diese Defizite, die ich gerade beschrieben habe, versuchen, zu neutralisieren. Aber das ist etwas, was wir also durch ein öffentliches Medienecho eigentlich nicht irgendwie belasten wollten."

Das ist eine etwas ambivalente Haltung, einerseits will Professor Wolf das Alarmsignal von den nachlassenden Lese- und Schriftkompetenzen der Studierenden schon hören lassen, andererseits will er die Kritik, die sich aufgrund dieser Defizite auf das Bildungssystem, die Lehrpläne, die Schulen, die Lehrerausbildung, deren Kompetenz und Art des Unterrichtens etc. erstrecken würde, nur andeuten. Die Kritik am Unterricht ist an einigen Stellen herauszuhören. "Selbst englische Texte werden nicht flüssig gelesen, obwohl Englisch in der Schule zu Recht eine wichtige Rolle spielt. Es scheint aber nicht richtig vermittelt zu werden."

Doch bleibt Wolfs Kritik unspezifisch, generell. Er belässt es dabei, die bekannten Phänomene, den Zeitdruck und die Verschulung, in allgemeiner Form zu bestätigen und dazu pauschale kritische Ratschläge einzustreuen, die niemandem zu nahe treten: "Meiner Ansicht nach fehlt es an Training, an Leseförderung in der Schule." Es gehe ihm nicht darum, betont er, die Schüler und Studenten zu "bashen".

Wolf plädiert für ein Studium Generale als sinnvolle Lösung des Problems, für mehr Weltwissen, das die Fachkompetenzen bereichert. Das, so deutet er an, wäre sinnvoll im Hinblick auf eine Studienreform oder der angestrebten Reform des Bologna-Prozesses. Vor allem an Geschichtskenntnis ist ihm gelegen. Es sei bedauerlich, "wenn Studenten unsicher sind, ob der Zweite Weltkrieg im 19. oder 20. Jahrhundert war. Auch die Geschichte des Christentums ist vielen unbekannt. Die Gefahr ist, dass sich dadurch ein Aberglaube und eine antirationalistische Haltung ausbilden".