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SPIEGEL-Datenanalyse Tempolimit könnte bis zu 140 Todesfälle im Jahr verhindern

Ein Tempolimit auf Autobahnen widerspreche dem gesunden Menschenverstand - sagt Verkehrsminister Andreas Scheuer. Tatsächlich würde es viele Leben retten, wie Berechnungen des SPIEGEL-Datenteams ergeben.
Foto: SPIEGEL ONLINE

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) beendete die Diskussion über ein Tempolimit so schnell, wie sie aufgekommen war. Eine Regierungskommission hatte die Einführung eines Autobahn-Tempolimits von 130 km/h vorgeschlagen - als eine von mehreren Klimaschutzmaßnahmen. Für Scheuer ein Beispiel für "alte, abgelehnte und unrealistische Forderungen" und "gegen jeden Menschenverstand". Deutsche Autobahnen seien die sichersten Straßen weltweit. Ein Tempolimit werde es nicht geben.

Dass er damit durchkam, hat auch damit zu tun, dass es in Deutschland kaum Studien zu den Auswirkungen eines Tempolimits gibt. Der ökologisch ausgerichtete Verkehrsclub Deutschland spricht von einem "forschungspolitischen Loch ", und Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) scheiterte 2016 mit den Plänen zu einem Modellversuch  am Widerstand sowohl der Landes- als auch der Bundes-CDU. Das politische Interesse, das Thema wissenschaftlich zu untersuchen, scheint äußerst begrenzt.

Eine Datenanalyse des SPIEGEL liefert allerdings brisante Erkenntnisse. Bis zu 140 Todesfälle jährlich ließen sich durch die Einführung eines allgemeinen Autobahn-Tempolimits verhindern. Details zu der Auswertung und den verwendeten Daten sind im Methodik-Kasten weiter unten aufgeführt. Hier die wichtigsten Antworten zu den Ergebnissen im Überblick:

Gibt es auf Autobahnabschnitten mit Tempolimit weniger Unfälle?

Nein. Tatsächlich ist die Zahl der Unfälle auf Abschnitten mit Tempolimit sogar höher. Je eine Milliarde gefahrener Kilometer werden auf Abschnitten mit Tempolimit 79,9 Unfälle erfasst, während auf Abschnitten ohne Tempolimit die Zahl bei 71,4 liegt.

Dies wirkt auf den ersten Blick überraschend, lässt sich aber durch unterschiedliche Gegebenheiten auf den jeweiligen Abschnitten erklären. Ein Tempolimit, wie es bislang auf rund 30 Prozent der Autobahnkilometer gilt, wird nicht grundlos eingeführt. Ursachen sind unter anderem viele Unfälle, schlechter Fahrbahnzustand, kurvige oder schlecht einsehbare Streckenabschnitte oder hohes Verkehrsaufkommen. Abschnitte mit Tempolimit bergen also oft per se ein höheres Unfallrisiko. Angesichts dessen fallen die Unterschiede zwischen beiden Gruppen sogar erstaunlich gering aus.

Gibt es auf Autobahnabschnitten mit Tempolimit weniger schwere Unfälle?

Ja. Die Zahl der Schwerverletzten und vor allem der Todesfälle liegt hier deutlich niedriger: Während mit Tempolimit 0,95 tödliche Unfälle pro Milliarde Kilometer passieren, liegt dieser Wert in Abschnitten ohne Tempolimit bei 1,67, also rund 75 Prozent höher. Auch bei Schwerverletzten liegen die Zahlen auf Abschnitten ohne Tempolimit knapp 20 Prozent höher.

Auf Autobahnabschnitten ohne Tempolimit ist das Risiko, dass es bei Unfällen zu schweren Verletzungen oder Todesfällen kommt, somit bedeutend größer. Diese Erkenntnis deckt sich auch mit Erfahrungen zur Einführung eines Tempolimits auf zwei Autobahnabschnitten in Brandenburg und Nordrhein-Westfalen. In beiden Fällen gingen Unfallzahlen und insbesondere die Zahl der Verletzten und Getöteten nach der Einführung stark zurück.

Wie lässt sich damit die Zahl der vermeidbaren Todesfälle abschätzen?

Es lässt sich folgende Modellrechnung für das Jahr 2017 aufstellen: Multipliziert man die Zahl aller gefahrenen Autobahnkilometer (246 Milliarden, Quelle: Statistisches Bundesamt ) mit der Häufigkeit tödlicher Unfälle in Abschnitten mit Tempolimit (0,95 pro Milliarde Kilometer), ergibt sich eine Simulation des Unfallgeschehens - darin gilt auf allen Streckenabschnitten ein Tempolimit.

Ergebnis der Rechnung sind 234 tödliche Unfälle mit circa 268 Todesopfern (pro Unfall mit Todesfolge sterben im Durchschnitt 1,15 Personen). Die offizielle Statistik verzeichnet 409 Todesopfer auf Autobahnen für das Jahr 2017. Die Differenz beträgt folglich 141 Personen.

Zur Absicherung unseres Vorgehens haben wir die Analyseergebnisse und auch die Methodik vorab Experten der Unfallforschung der Versicherer (UDV) zur Verfügung gestellt. Laut deren Einschätzung ist die Berechnung "plausibel und methodisch sauber".

Dass die so ermittelte Zahl der vermeidbaren Todesfälle plausibel ist, legt auch eine andere Rechnung nahe: Im Jahr 2017 wurden in Autobahnabschnitten ohne Tempolimit 114 Todesfälle mit der Unfallursache "nicht angepasste Geschwindigkeit" erfasst. Teile dieser Unfälle dürften dabei auch bei gefahrenen Geschwindigkeiten von unter 130 km/h zustande gekommen sein (z.B. Aquaplaning-Unfälle). Grob geschätzt ist bei dieser Herangehensweise von einer knapp dreistelligen Zahl an jährlichen Todesfällen auszugehen, die sich mit einem Tempolimit hätten verhindern lassen.

Beide Verfahren sind mit einer gewissen Unsicherheit behaftet, zeigen aber in etwa die Spanne der potenziell durch ein Tempolimit vermeidbaren Todesfälle.

Methodik

Politische Prioritätensetzung

Selbst wenn man anerkennt, dass die Zahl der Verkehrsunfälle in Deutschland kontinuierlich rückläufig ist und die Autobahnen im Vergleich zu anderen Straßen relativ sicher sind, so ließen sich durch die Einführung eines Tempolimits bis zu 140 Todesfälle jährlich vermeiden. Genauer beziffern lässt sich diese Zahl ohne aufwendigere Studien nicht. Dabei wären "saubere, wissenschaftliche Studien Grundvoraussetzung, um die Debatte über ein Tempolimit nicht als bloßen Meinungsstreit zu führen", so Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer.

Während in Deutschland trotz Rückgang jährlich immer noch rund 3200 Menschen bei Straßenverkehrsunfällen sterben, wird in Bezug auf das Tempolimit auch schon mal mit den internationalen Standortvorteilen für die Autoindustrie argumentiert. Andere Länder, wie Schweden oder auch die Schweiz , setzen da längst andere Prioritäten. In Schweden folgt die Verkehrspolitik der "Vision Zero". Ihr Ziel ist es, den Verkehr so umzugestalten, dass tödliche Unfälle schlicht nicht mehr passieren können.

In Deutschland hingegen war am Ende der Debatte nur klar, dass die Bundesregierung sich nicht mit einem Tempolimit auseinandersetzen möchte. Die Argumente für ein Tempolimit (Sicherheit, Klimaschutz) und dagegen (Wirtschaftsstandort, vermeintlich unpopuläre Maßnahme) verpufften im luftleeren Raum - auch weil detaillierte Berechnungen zu vermeidbaren Todesfällen bisher fehlten.