Die Legende der Netanyahus: Eine biblische Geschichte über einen zornigen Propheten und seine Söhne

Die Legende der Netanyahus: Eine biblische Geschichte über einen zornigen Propheten und seine Söhne

Ziv Koren / Laif

Fast zwanzig Jahre lang war Benjamin Netanyahu für die Israeli ein Beschützer. Israel hat sich unter ihm verwandelt. In das, was sein Vater prophezeite: ein Land im Überlebenskampf.

Michael Schilliger, Andrea Spalinger 24 min
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Keiner hat länger regiert, keiner wurde öfter totgeschrieben und ist doch immer wieder auferstanden. Vielleicht hätte auch keiner bessere Chancen gehabt, dem Land Frieden zu geben – oder zumindest etwas, das sich in dieser ewigen Krisenregion wie Frieden anfühlen könnte. Doch nun, 74-jährig, in seinem 17. Jahr als Ministerpräsident, scheint es, als habe er Israel an den Abgrund geführt.

Als Benjamin Netanyahu am 8. Oktober, am Tag nach dem Hamas-Überfall, vor die Kameras tritt, der Hamas den Tod ober- und unterhalb der Erde verspricht und den Israeli versichert, dass er ihre Opfer rächen werde, wirkt er erschöpft.

Es ist ein ungewohnter Anblick. Netanyahu wirkte immer stark, auch bei schweren Niederlagen liess er sich kaum Schwäche anmerken. Er war schon ein Schauspieler, als noch kein Publikum da war. In den 1980er Jahren trat er in den USA in Fernseh-Talkshows auf. Als Vermittler der Sache Israels und als Bildhauer, der an einem Denkmal für seinen gefallenen Bruder meisselte und aus diesem einen Kriegshelden machte, den heute in Israel jedes Kind kennt.

Netanyahu war da kaum 30 Jahre alt, aber er debattierte souverän und einnehmend, blieb entspannt, egal, wie kritisch die Fragen waren. Ein Mann, der wusste, was für eine Geschichte er erzählen wollte, der sich sicher war, dass sie funktionieren würde, und der darauf vertraute, dass man dem glaubt, der an sich selbst glaubt.

Später würde das so bleiben, Wähler glaubten Netanyahu immer wieder, dabei brach er seine Versprechen regelmässig, wechselte Positionen, wie es ihm gerade nützlich schien, und ging Koalitionen mit jedem ein, der ihm die Macht sichern konnte.

Nicolas Sarkozy beklagte sich einmal an einem G-20-Gipfel bei Barack Obama, Netanyahu sei ein elender Lügner. Das Mikrofon war an, und die Journalisten hörten, wie Obama antwortete: «Sei froh, dass du dich nicht wie ich jeden Tag mit ihm herumschlagen musst.»

Israel hat Politiker hervorgebracht, wie sie sonst nirgends zu finden sind. Benjamin Netanyahu erzählt gerne in Interviews, dass er bei Einsätzen mit seiner militärischen Eliteeinheit einmal fast ertrunken, ein anderes Mal angeschossen worden sei und zahlreiche Operationen hinter feindlichen Linien kommandiert habe, die so heikel seien, dass er nicht darüber reden dürfe. Netanyahu ist ein Angeber, aber die Geschichten sind wahr. Nur, die Biografie vieler israelischer Spitzenpolitiker liest sich so, als ob sie vor ihrer Politkarriere etwas James Bond gespielt hätten.

Handout / Hulton Archive

Bild links: Benjamin (rechts), 19-jährig, mit einem Freund in der Judäischen Wüste im Jahr 1968.
Bild rechts: Israels Präsident Zalman Shazar gratuliert Benjamin Netanyahu am 1. 11. 1972 für seinen Einsatz bei der Befreiung von Geiseln aus einem Sabena-Flugzeug. Netanyahu war dabei angeschossen worden.

Bloss, dass es in Israel nie ein Spiel war.

Vielleicht war das Netanyahus Fehler. Er handelte mit der Macht. Sechsmal gelang es ihm, mit unterschiedlichsten Partnern Ministerpräsident zu werden. Das wirkte zuweilen opportunistisch – geht es dem, der mit jedem paktiert, um die Sache oder um die eigene Macht?

Aber Netanyahu war nie ein waghalsiger Pokerspieler. Er bluffte zwar, spielte dann aber erstaunlich risikoscheu. Er spürte die Israeli und gab ihnen das, wonach sie sich sehnten. Bis er vergass, dass das Wohl Israels nicht mit dem Wohl Netanyahus gleichgesetzt werden kann.

Die Geschichte von Netanyahu erzählt auch davon, wie sich Israel verändert hat. Wie eine Idee, die einst nur am Rand existierte, die ganze Gesellschaft eroberte. Eine biblische Geschichte, von einem Vater und seinen Söhnen, von denen der Falsche starb und der andere alles tat, um des Vaters Vision wahr werden zu lassen.

I: Woher er kam und wer ihn schuf – ein zorniger Prophet und ein heiliger Bruder

Vater Benzion mit den Söhnen Benjamin und Yonatan und Frau Tzila (von links nach rechts).

Vater Benzion mit den Söhnen Benjamin und Yonatan und Frau Tzila (von links nach rechts).

Government of Israel / via JTA

Die Netanyahus gab es nicht. Sie sind Resultat einer Verwandlung, die im Rückblick so wirkt, als hätte eine Familie mit aller Kraft versucht, sich in die Geschichte einzuschreiben.

Die Geschichte Benjamin Netanyahus fängt – wie jede Geschichte in Israel – viele Generationen früher an. Mit dem Grossvater, einem zionistischen Redner, der in Russland umherreiste und den Juden von Palästina erzählte. Er soll ein aufpeitschender Prediger gewesen sein. Nicht nur das wird Benjamin von ihm erben. Der Grossvater ist es, der die Familie auf einen Pfad steuert, der sie innerhalb der zionistischen Bewegung, die für die Juden eine Heimat schaffen will, und später auch Israel isolieren wird.

Am sechsten zionistischen Kongress 1903 in Basel präsentiert der Anführer der Zionisten, Theodor Herzl, den sogenannten Uganda-Plan. Im Herzen Afrikas soll eine jüdische Kolonie gegründet werden. Ein Zwischenschritt auf dem Weg nach Palästina, England böte Hand. Nicht nur Netanyahus Grossvater ist erzürnt. Manchen erscheint es eine weitere Demütigung, sich mit einem Ghetto in Afrika abspeisen zu lassen. Andere sehen es gar als Verrat: Die Geschichte der Juden belege doch, dass ihnen das Land zu beiden Seiten des Jordans, Eretz Israel, zustehe.

Vom Auftritt seines Grossvaters am Kongress soll Benjamin Netanyahu bis heute ein Foto aufbewahren.

Der Grossvater heisst Nathan Mileikowsky, seinen Sohn tauft er Benzion, Sohn Zions. Mit seinen Kindern redet er Hebräisch. In den 1920er Jahren wandert die Familie Mileikowsky nach Palästina aus. Dort schreibt Nathan Kolumnen unter einem Pseudonym: Netanyahu, von Gott gegeben.

Den Namen übernehmen später seine Kinder. Benzion Netanyahu, eine Anmassung, aber auch eine Ansage.

Benzion führt fort, was sein Vater begonnen hat. Er studiert die Geschichte der Juden, und er widmet seine Energie einer Bewegung, die im Geist seines Vaters steht, den revisionistischen Zionisten. Die Revisionisten sind die Hardliner in der breiten Bewegung der Zionisten. Das grundsätzliche Ziel eint alle Zionisten: einen Staat für die Juden. Doch wie ist das zu erreichen? Und wie gross soll er sein?

Die linken Zionisten um Israels Staatsgründer David Ben-Gurion sind Idealisten. Sie glauben, die Juden könnten in das von der Uno 1947 zugeteilte Land zurückkehren und dort mit oder neben den Arabern friedlich leben. Den Revisionisten hingegen erscheint diese Haltung naiv. Sie sind überzeugt: Die Araber werden Land nie freiwillig aufgeben, die Juden müssen sich Palästina ohne Rücksicht einfach nehmen.

Und zwar deutlich mehr Land, als die Uno dem neuen Staat Israel zugesteht. Nicht nur westlich des Jordans, sondern auch östlich. Die Hymne der Revisionisten geht so: «Der Jordan hat zwei Ufer: Dieses ist uns, und das andere auch.»

Aber Benzion wächst in einem Israel auf, in dem die Revisionisten an den Rand gedrängt werden. Die aus Osteuropa eingewanderten Aschkenasim um Ben-Gurion versuchen politisch-pragmatisch und militärisch unnachgiebig das Land, das ihnen gegeben wurde, gegen die feindlichen arabischen Nachbarstaaten zu verteidigen – und mit den Palästinensern Frieden zu finden. Sie sind Sozialisten, aber auch Kämpfer.

Benzion verachtet sie. Palästinenser existieren für ihn als Volk nicht, Frieden mit Arabern hält er für unmöglich. Noch kurz vor seinem Tod erklärt er in einem langen Interview in der Tageszeitung «Maariv»: «Die Persönlichkeit des Arabers erlaubt ihm keinen Kompromiss . . . Seine Existenz ist eine ewig kriegerische.»

Der Vater Benzion 1968 in den USA.

Der Vater Benzion 1968 in den USA.

Phil Slattery / Denver Post

Benzion ist ein Gelehrter, der die Geschichte des Judentums neu zu schreiben versucht. Er erforscht die Inquisition im 15. Jahrhundert in Spanien. Damals konvertierten viele Juden zum Christentum, um der Verfolgung zu entgehen. Trotzdem wurden sie von der Kirche gehetzt, drangsaliert und umgebracht. Historiker vermuteten, die Konvertiten hätten heimlich weiter das Judentum praktiziert. Benzion sagt nun, die ehemaligen Juden hätten ihren Glauben tatsächlich abgelegt und die Christen sie alleine deshalb verfolgt, weil sie einst Juden gewesen seien; ihr Jüdischsein hätten sie in den Augen der Christen nie ablegen können. Benzion zieht daraus einen Schluss, den die Rechte in Israel später aufnehmen und der auch das Denken seines Sohnes prägen wird: Antisemitismus endet immer im Genozid, der Holocaust ist nur ein Versuch von vielen in der Geschichte, die Juden auszurotten.

Diese These isoliert Benzion unter Historikern, aber auch in Israel. Er ist ein Rechter unter Linken, ein Aschkenasi, der von seinen eigenen Leuten verstossen wird. Das verbittert ihn.

Benzion sucht in den USA Anerkennung für seine Arbeit. Aber auch dort bleibt er eine einsame Randfigur. Die Juden in der Diaspora verachtet er, weil sie sich anpassen und so in seinen Augen ihr Jüdischsein verraten. Erst als die Linken die Macht verlieren, kehrt er zurück nach Israel und wird immer mehr zu einer sagenumwobenen Eminenz. Benzions einst als extrem verschriene Überzeugungen sind salonfähig geworden – auch weil Israel unter den Linken immer wieder von den arabischen Nachbarn militärisch überrascht wird und es nicht gelingt, Frieden mit den Palästinensern zu schliessen. Manche von Benzions düsteren Prophezeiungen scheinen wahr zu werden.

Benjamin ist der zweite von drei Söhnen von Benzion und Tzila. Er kommt 1949 in Tel Aviv zur Welt, wächst in Jerusalem auf, aber als er die Oberstufe besucht, zieht die Familie in die USA. Alleine fliegt er in den Ferien nach Israel zurück, später folgt er seinem älteren Bruder Yonatan, Yoni, der sein Studium in den USA abbricht und bei der israelischen Armee einer Spezialeinheit beitritt. Der Vater war erzürnt, auch wenn das die Netanyahus heute bestreiten. In Briefen lässt sich nachlesen, wie er seine Söhne nicht der Verteidigung eines Staates opfern will, von dessen Überleben er nicht überzeugt ist, weil er von naiven Linken geführt werde.

Im Rückblick wirkt vieles an dieser Geschichte unausweichlich und zugleich brüchig. Wie immer, wenn aus der Realität Legenden geschmiedet werden.

Aber gute Legenden brauchen gutes Rohmaterial. Und das liefern die Netanyahu-Brüder.

Da ist Yoni, der Lieblingssohn, ein feinsinniger, an der Welt leidender Philosophiestudent, aber auch ein in zahlreichen Geheimmissionen ausgezeichneter Kriegsheld, der Briefe an seine Brüder schreibt, wie sie nur jemand verfasst, der damit rechnet, dass sie dereinst der Nachwelt als nationales Heiligtum dienen könnten.

Da ist Bibi, der ähnlich schnell wie Yoni in derselben Spezialeinheit Führungsaufgaben erhält, sich bei Einsätzen auszeichnet, in einem entführten Flugzeug eine Geiselnehmerin mit blossen Händen überwältigt und dabei angeschossen wird, im Krieg kämpft, sein Studium unterbricht und nach seiner Rückkehr an die Uni in den USA dem Professor sagt: «Gib mir den doppelten Stoff, ich werde das Verpasste alles nachholen.»

Und dann ist da noch Iddo, der Jüngste, auch er geht ins Militär, aber dann schreibt er Bücher, seine Familie wird ihn als israelischen Hemingway verklären, nebenbei, quasi als lästiger Nebenverdienst, arbeitet er als Radiologe.

Einsam sind die Brüder. Weil sie hin- und hergerissen sind zwischen zwei Welten, den USA und Israel, den Büchern und dem Gewehr. Weil sie gegen den Willen des Vaters, wenn ein Krieg ansteht, sofort zurückkehren. Weil nur sie verstehen können, wie es ist, mit solch einem dominanten und fordernden Vater aufzuwachsen.

Selbst als Benjamin Ende der 1990er Jahre als Ministerpräsident Reden hält, ruft ihn sein Vater an – und korrigiert grammatische Fehler. Dem Journalisten David Remnick des «New Yorker» sagt Benzion damals, das Hebräisch seines Sohnes habe sich deutlich verbessert in den vergangenen Jahren. Wie böse, wenn man bedenkt, dass Benjamin von seinen politischen Gegnern als Amerikaner verunglimpft wurde.

«Yordim» nannte man die Netanyahus noch lange. So beschimpfen Zionisten die Israeli, die das Land verliessen. Verrat am Staat, für den man so lange gekämpft hatte. Yordim: jene, die hinuntergingen.

Dann erhebt ein Tod die Familie zu einem der Stämme des neuen Israel.

Im Juli 1976 entführen in Entebbe in Uganda, dort, wo der Grossvater nicht hinwollte, palästinensische und deutsche Terroristen ein Flugzeug und halten über hundert mehrheitlich jüdische Passagiere eine Woche lang als Geiseln fest. Der israelische Geheimdienst entsendet seine Eliteeinheit. Die Befreiung verläuft erfolgreich, aber ein Soldat wird erschossen: der Kommandant, Yonatan Netanyahu.

Yonatan Netanyahu, Benjamins älterer Bruder, kurz vor seinem Einsatz bei der Geiselbefreiung in Entebbe in Uganda 1976, bei dem er im Alter von 30 Jahren starb.

Yonatan Netanyahu, Benjamins älterer Bruder, kurz vor seinem Einsatz bei der Geiselbefreiung in Entebbe in Uganda 1976, bei dem er im Alter von 30 Jahren starb.

Bettmann

Benjamin ist damals 26 Jahre alt und hat gerade am MIT in Cambridge einen Master in Wirtschaft abgeschlossen. Sieben Stunden fährt er zu seinen Eltern im Gliedstaat New York, um ihnen die Nachricht vom Tod des Bruders zu überbringen. Er wird sie die quälendsten seines Lebens nennen. Der Tod Yonis verändert ihn, und auch Israel.

Unausweichlich wirkt die Geschichte, wenn sie zur Legende geformt wird. Die Netanyahus erschaffen, noch trauernd, den Mythos des grössten Kriegshelden des modernen Israel. Sie sammeln Briefe, jede Notiz, die Yoni jemals verfasst hat, sie geben eine Biografie in Auftrag, sie gründen ein Anti-Terror-Institut in seinem Namen. Die Befreiungsaktion in Entebbe wird in Operation Yonatan umbenannt, auf dem Mount Herzl erhält er ein Staatsbegräbnis.

Es ist nicht einfach Machtkalkül. Sowohl Benjamin als auch Benzion glauben, dass ein Held gefallen ist. Während der Schiwa, der siebentägigen jüdischen Totenwache, sagt Benzion: «Die Araber wissen gar nicht, was für einen Schlag sie den Juden verpasst haben. Er war der beste General, der die Juden hätte führen können.» So erzählt es der Journalist Anshel Pfeffer in der Biografie «Bibi: The Turbulent Life and Times of Benjamin Netanyahu».

Tatsächlich gelingt die Legendenerschaffung. Jedes Kind in Israel kennt die Geschichte von Yoni, dem feinen intellektuellen Krieger, der sein Leben für andere opferte. Als zwanzig Jahre später die Geschichte von Entebbe kritisch aufgearbeitet wird und Yoni sich dabei als abwesender, hadernder Kommandant entpuppt, kann das der Legende wenig anhaben.

Es gibt die Netanyahus jetzt. Eine Familie im Herzen der israelischen Geschichte. Einer von ihnen ist neben Herzl und Weizman begraben, den Männern, die Israel erschufen und die Benzion verachtete.

II: Aus Ben wird Bibi

Netanyahu als stellvertretender Aussenminister Israels im Mai 1990 an einer Sitzung des Uno-Sicherheitsrats in Genf.

Netanyahu als stellvertretender Aussenminister Israels im Mai 1990 an einer Sitzung des Uno-Sicherheitsrats in Genf.

Richard Drew / AP

Die Saat ist ausgebracht, der Acker bestellt, jetzt muss man giessen. Benjamin wird das tun, aber die Geschichte muss auch gnädig sein, die Zeit reif. Wie günstig, dass der Tod des Bruders in eine Zeit fällt, in der sich das Projekt Israel verändert.

Die Linke, die Israel seit der Gründung geführt hat, verliert an Rückhalt in der Bevölkerung. Der Jom-Kippur-Krieg zerstört das Vertrauen in den Staat und die Armee.

Benjamin ist noch nicht 30 Jahre alt, als der rechte Likud zum ersten Mal in Israel die Macht übernimmt. Er lebt in Boston und arbeitet bei der Boston Consulting Group als Unternehmensberater. Nur kurz zwar, aber im Rückblick wirkt jede Station in Bibis Karriere wie ein geplanter Ausbildungsschritt für das, was kommt. Mit dem Blick des Consultant für das grosse Ganze, so wird er später auch Politik betreiben: im Wahlkampf für die grosse Idee werben, in der Tagespolitik zwischen verschiedenen Partnern die Macht ausbalancieren.

1978 tritt Benjamin in einem Bostoner Fernsehsender in «The Advocates» auf. Thema der Sendung: Sollen die Palästinenser einen eigenen Staat erhalten? Benjamin ist 28, aber er sieht älter aus, seine Stimme ist tief, und er redet nicht wie der Experte, als der er geladen ist, sondern wie ein Politiker. Fehlerfrei, druckreif, mit Fakten munitioniert. Die Frage, ob die Palästinenser einen eigenen Staat im Westjordanland oder im Gazastreifen erhalten sollen, beantwortet er deutlich und ohne auszuweichen: Nein, es gebe bereits einen palästinensischen Staat, Jordanien. Das Problem im Nahen Osten? Die Araber, die die Juden ins Meer werfen wollen.

Damals hat er noch eine amerikanische Persona, Ben Nitay, so tritt er auch im Fernsehen auf. Später werden ihm politische Gegner daraus einen Strick drehen. Sie werfen ihm Assimilierung vor, er sei gar kein richtiger Israeli, kein richtiger Jude.

Dabei ist Benjamin anders als die Generation der Politiker, die das Land vor ihm geführt hatten, in Israel geboren. Natürlich ist er ein Vertreter zweier Welten, mit zwei Identitäten: in den USA Ben, in Israel Bibi. Aber der Vorwurf ist kein genealogischer, es geht nicht um Abstammung, es geht um Stil, um Kultur.

Benjamin Netanyahu mit seinem jüngeren Sohn Avner auf einem Spielplatz in der Nähe von Jerusalem.

Benjamin Netanyahu mit seinem jüngeren Sohn Avner auf einem Spielplatz in der Nähe von Jerusalem.

Str Old / Reuters

Bibi ist nicht religiös. Er wird das kaschieren, seine zweite Frau wird konvertieren, auch weil sie sonst seiner Karriere im rechten Politmilieu hinderlich wäre.

Es wäre nicht nötig gewesen. Als er tatsächlich Politiker wird, hat er längst zum dritten Mal geheiratet und auch seine Frau Sara bereits betrogen. Dafür, dass er sich im Fernsehen für den Ehebruch entschuldigt, verachten ihn viele Israeli, und sie schreiben es seinem angeblich amerikanischen Charakter zu.

Bibi ist auch kein Sozialist, er ist Kapitalist, er liebt das Leben in den USA, den Luxus und den Konsum.

Als Ben Nitay knüpft er in den USA Kontakte, fällt auf, mit Fernsehauftritten und als Leiter des Yonatan-Instituts, das sich der Terrorismusbekämpfung widmet. In den 1980er Jahren ist er der meistinterviewte Terrorismus-Experte in der Nachrichtensendung «ABC News Night».

Israels Botschafter in Washington macht ihn zum Stellvertreter, und als er als Verteidigungsminister nach Israel zurückkehrt, bewirbt sich Bibi, 33-jährig, um dessen Nachfolge, erfolglos, abschrecken wird ihn das nicht.

Ein Armeeoffizier erinnert sich, dass er ihn damals einmal im Flugzeug gefragt habe, wo er sich in zehn Jahren sehe. «Ministerpräsident», habe Bibi geantwortet. Er wird sich nur um drei Jahre verschätzen.

1984 wird Bibi Uno-Botschafter Israels. Nicht dank, sondern trotz seiner Abstammung. Er ist keiner der Kronprinzen, wie die Abkömmlinge der Gründerfamilien Israels genannt werden. Den Posten hat er sich mit Geschick erarbeitet.

Offizielles Foto von Benjamin Netanyahu aus dem Jahr 1991. Er ist damals Knesset-Abgeordneter und stellvertretender Aussenminister.

Offizielles Foto von Benjamin Netanyahu aus dem Jahr 1991. Er ist damals Knesset-Abgeordneter und stellvertretender Aussenminister.

Handout / Hulton Archive

Bibi erkennt, welche Plattform sich ihm bietet. Er stellt Studenten an, die die Medien nach kompromittierenden Zitaten arabischer Führer durchforsten, die er in Auftritten im Fernsehen oder vor der Uno verwenden kann. Stundenlang feilt er an Reden und stellt sich den Kritikern Israels.

Immer wieder erzählt er dabei von Yoni. Eine Legende ist wie Feuer, man muss es füttern, damit es weiterlebt. Und Bibi wirft Holz in die Flammen, in der Hoffnung, dass der Funken überspringt und er sich Yonis Ruhm und Beliebtheit wie einen Mantel überziehen kann. Und daraus Legitimation und Auftrag erhält.

1988 kehrt Bibi nach Israel zurück. Dieses Mal bleibt er.

III: König Bibi

Benjamin Netanyahu mit seiner Frau Sara am 29. Mai 1996 in einem Wahllokal in Jerusalem. Wenig Tage später wird er zum ersten Mal Regierungschef.

Benjamin Netanyahu mit seiner Frau Sara am 29. Mai 1996 in einem Wahllokal in Jerusalem. Wenig Tage später wird er zum ersten Mal Regierungschef.

Greg Marinovich / AP

Es ist der Abend des 5. Oktober 1995, Bibi steht auf einem Balkon über dem Jerusalemer Zionsplatz und heizt die Massen an: «Israel beugt sich vor dem Mörder Arafat, wir werden das nicht zulassen.» Auf dem Platz unten zünden Demonstranten Poster von Yitzhak Rabin an und beschimpfen den linken Regierungschef in Chören als «Verräter». Einige schreien: «Rabin soll sterben!»

Zwei Jahre zuvor hat Rabin in Oslo mit Yasir Arafat, dem Führer der Palästinenser, den Osloer Friedensvertrag unterzeichnet. Es ist der Beginn eines Prozesses, an dessen Ende die Palästinenser einen eigenen Staat erhalten sollen.

Für Israels Rechte eine inakzeptable Lösung. Rabin wird für sie zum Staatsfeind. Er erhält eine tote Katze zugeschickt und mit Fäkalien beschmierte Briefe. Manchen Politikern des Likud macht die aufgeheizte Atmosphäre Angst, sie rufen zur Ruhe auf. Nicht so Netanyahu, seit zwei Jahren Parteichef. Er macht sich den Unmut zunutze, wird in diesen Stunden zum Gesicht der Gegner von Oslo.

Israels Ministerpräsident Yitzhak Rabin (links) und der Palästinenserführer Yasir Arafat reichen sich nach der Unterzeichnung des Oslo Abkommens 1993 die Hand, im Beisein des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton.

Israels Ministerpräsident Yitzhak Rabin (links) und der Palästinenserführer Yasir Arafat reichen sich nach der Unterzeichnung des Oslo Abkommens 1993 die Hand, im Beisein des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton.

Ron Edmonds / AP

Am 4. November 1995 wird Rabin nach einer Friedenskundgebung in Tel Aviv von einem rechten Extremisten erschossen. Dass Netanyahu den Mord provoziert habe, wird die Linke sagen. Er hat mit dem Feuer gespielt. Und gewonnen. Der Frieden und der Traum vom Palästinenserstaat sind fürs Erste gestorben.

Das Israel, in das Netanyahu Ende der 1980er Jahre zurückgekehrt ist, ist ein Land im Richtungskampf. Eine grosse Koalition irrt im Zickzackkurs durch die Nachwehen des Libanonkrieges, in dem Israel international seine moralische Unschuld einbüsst. Der wichtigste Verbündete, die USA, wird vom Einmarsch in Libanon überrascht; ein Massaker in Beirut, bei dem die Israeli zuschauen, schockiert die internationale Öffentlichkeit. Nach dem Ende der ersten Intifada erklärt Arafat, die Palästinenser seien bereit für eine Zweistaatenlösung, die USA zeigen sich erfreut.

Genau dagegen hat Netanyahu in den USA als Uno-Botschafter gekämpft. Nicht nur aus politischem Kalkül, sondern weil dies seiner tiefen Überzeugung entspringt: Mit den Arabern kann man keinen Frieden schliessen, ja mit den Arabern darf man keinen Frieden schliessen. Nicht als Juden.

Netanyahu will, dass die Welt versteht: Die Juden befinden sich immer im Verteidigungskampf. Der Vater Benzion hatte genau dies in seiner Arbeit festgehalten. Antisemitismus, und damit natürlich auch Antiisraelismus, hatte immer ein absolutes Endziel: die Auslöschung der Juden, die Auslöschung Israels.

Yoni hatte in einem Brief an seinen Bruder geschrieben: «Wir bereiten uns auf Krieg vor, und es ist schwer zu wissen, was wir zu erwarten haben. Worin ich mir sicher bin, ist, dass es eine nächste Runde geben wird und weitere folgen werden. Aber lieber lebe ich hier in ewig fortwährendem Kampf, als dass ich Teil der wandernden Juden werde. Jeder Kompromiss wird nur das Ende näher rücken lassen.»

Frieden mit den Palästinensern, wie es Rabin anstrebt? Es hätte aus Sicht der Netanyahus Selbstaufgabe, ja praktisch kollektiven Selbstmord bedeutet.

Die Ermordung Rabins stürzt Israel ins Chaos: Netanyahus Moment ist gekommen.

Denn wenn Netanyahu etwas kann, ist es, Wahlkampf zu führen. Überzeugend reden, souverän auftreten. In Debatten ist er kaum zu schlagen. Er hat das als Botschafter und Talkshow-Gast perfektioniert. Er verspricht den Israeli Sicherheit und Wohlstand. Ruhe, nicht mehr – also keinen Frieden –, aber auch nicht weniger.

Und Ruhe braucht Stärke. «Ich will, dass Israel nicht nur ein 800-Pfund-Gorilla ist, sondern ein 1200-Pfund-Gorilla», sagt er einmal. Er redet von Israel, aber auch von sich selbst. Bei den Wahlen 1996 wird er zum ersten Mal Regierungschef, der Silberrücken Bibi.

Netanyahus erste Regierung verhandelt zwar noch mit den Palästinensern, erlaubt aber zugleich den Bau von neuen Siedlungen im Westjordanland. Die intellektuelle Oberschicht und die Medien kritisieren Bibi dafür heftig, sie wollen die Hoffnung auf Frieden noch nicht aufgeben. Eine ganze Reihe von Korruptionsskandalen bringt schliesslich eine Mehrheit der Israeli gegen ihn auf.

Benjamin Netanyahu im Wahlkampf 1999. Obwohl er selbst nicht religiös ist, hat Bibi aus wahltaktischen Gründen auch immer wieder Koalitionen mit ultraorthodoxen Parteien geschlossen.

Benjamin Netanyahu im Wahlkampf 1999. Obwohl er selbst nicht religiös ist, hat Bibi aus wahltaktischen Gründen auch immer wieder Koalitionen mit ultraorthodoxen Parteien geschlossen.

Nati Harnik / AP

Politik ist die Kunst der Kompromissvermittlung, und Bibi ist ein Meister darin. Sein Problem: Wenn Politik das ganze Leben ist, kann mit allem gehandelt werden. Auch mit Privatem. Und so lässt er sich von Wirtschaftsmoguln für staatliche Aufträge oder vorteilhafte Gesetzgebung mit Zigarren oder Übernachtungen in luxuriösen Hotels bezahlen. Oder kauft sich positive Berichterstattung, indem er bestimmte Medienhäuser gesetzlich begünstigt und Konkurrenten schwächt. Später wird ihn das einmal fast die Karriere kosten.

Als Bibi 1999 abgewählt wird, ist er so unpopulär, dass viele glauben, er habe keine politische Zukunft. Aber er ist noch jung, auch wenn man ihm das nicht ansieht. Sein Haar ist bereits weiss, er wird in den kommenden Jahren immer gleich aussehen, das verleiht ihm eine fast übermenschliche Aura von Alterslosigkeit.

Warten, ausharren, weiterarbeiten. Bibi ist ein besessener Leser, er studiert politische, historische und philosophische Werke in jeder freien Minute, auch während Parlamentsdebatten und Auslandreisen, wie Parteikollegen Journalisten erzählen. In seinem Büro steht ein gerahmtes Bild von Winston Churchill, er zitiert ihn oder auch George Washington gern in seinen Reden. Auch sie mussten ihre Länder vor dem Untergang bewahren. Und Zeiten überstehen, in denen man ihre Grösse verkannte.

Zehn Jahre verbringt Netanyahu in der Opposition und auf Ministerposten unter verschiedenen Regierungschefs. Zehn Jahre, in denen sich Israel verändert. Überall im Land sprengen sich palästinensische Selbstmordattentäter in Bussen und Restaurants in die Luft, Terroristen schiessen auf Märkten und in Diskotheken um sich. Städte wie Safed und Haifa im Norden werden vom Hizbullah aus Libanon mit Raketen beschossen, auf Sderot und Ashkelon im Süden regnet es Raketen der Hamas. Israel führt Kriege in Libanon und im Gazastreifen, muss aber beiderorts abziehen, ohne den Feind entscheidend geschwächt zu haben. Die Israeli sind verunsichert, an eine Lösung des Konfliktes glauben nun viele nicht mehr.

Anschlag der Hamas auf einen Bus bei Haifa im April 2002. Während der Zweiten Intifada werden in Israel Hunderte von Zivilisten getötet.

Anschlag der Hamas auf einen Bus bei Haifa im April 2002. Während der Zweiten Intifada werden in Israel Hunderte von Zivilisten getötet.

Yariv Katz / EPA

Netanyahu spürt, dass er sie noch einmal für sich gewinnen kann.

Im Wahlkampf 2009 verspricht er, Israel gross und stark zu machen. Was er nicht verspricht, ist Frieden. Einen Staat für die Palästinenser? Nicht unter seiner Herrschaft.

Das würde Netanyahu öffentlich so nicht sagen. Noch nicht. Er ist ein geschickter Taktiker. Kein Extremist, sondern ein konservativer Realpolitiker, der zuerst seine Position absichert, bevor er einen Schritt aus der Deckung wagt. Nach Jahren am Pokertisch der Macht ist er zur Bank geworden.

Er verteilt die Karten, kontrolliert das Spiel. Wird es riskant, schickt Netanyahu andere vor. Sein Glück: In Israel gibt es genug, die bereit sind, für ihre Überzeugungen alles zu riskieren. Auf seiner Parteiliste macht er auch radikalen Siedlern Platz, welche die Annexion des gesamten Westjordanlands fordern.

Netanyahu erklärt Journalisten 1996, dass er den Bau weiterer Siedlungen im Westjordanland erlaubt.

Netanyahu erklärt Journalisten 1996, dass er den Bau weiterer Siedlungen im Westjordanland erlaubt.

Nati Harnik / AP

Das wirkt opportunistisch, ist aber Israels Politlandschaft geschuldet. Seit in den neunziger Jahren die linke Arbeiterpartei ihre Dominanz verloren hat, ist die Parteienlandschaft zersplittert. Wer eine Regierung bilden will, ist gezwungen, eine Vielzahl von Kleinparteien mit teilweise grotesk gegensätzlichen Positionen einzubinden. Auch die Ministerpräsidenten vor Netanyahu schmiedeten Koalitionen entsprechend pragmatisch. Keiner von ihnen war darin aber so geschickt wie Netanyahu, der das Navigieren im Parteienlabyrinth perfektionierte.

Als er zum zweiten Mal Ministerpräsident wird, hat sich nicht nur Israel verwandelt, sondern auch der Feind. Die Palästinenser haben sich radikalisiert. Im Gazastreifen herrscht die Hamas nun quasi diktatorisch. Netanyahu kommt dies gelegen. Niemand kann von ihm erwarten, dass er mit Terroristen verhandelt. Und soll er etwa mit der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland Frieden schliessen, wenn diese nur noch die Hälfte der Palästinenser repräsentiert?

Netanyahu spielt die beiden konkurrierenden Palästinenserorganisationen geschickt gegeneinander aus. Gegenüber der Autonomiebehörde von Mahmud Abbas macht er bei Verhandlungen keine Konzessionen, gleichzeitig lässt er es zu, dass aus dem Ausland Geld zur Hamas fliesst und mehr Palästinenser aus dem Gazastreifen eine Arbeitserlaubnis in Israel bekommen.

Öffentlich bekennt sich Netanyahu immer wieder zur Zweistaatenlösung, um praktisch zeitgleich neue Siedlungen zu bewilligen. Das sichert ihm die Stimmen von Siedlern und rechten Nationalisten – aber auch von moderaten Konservativen, denn sosehr er manchmal rhetorisch zündelt, agiert er doch immer vorsichtig, zu einem Krieg kommt es unter ihm nie.

Ministerpräsident Netanyahu und der Palästinenserführer Yasir Arafat reichen sich 1996 in einer israelischen Armeebasis beim Checkpoint zum Gazastreifen die Hand.

Ministerpräsident Netanyahu und der Palästinenserführer Yasir Arafat reichen sich 1996 in einer israelischen Armeebasis beim Checkpoint zum Gazastreifen die Hand.

Handout / Hulton Archive

Seine Zermürbungstaktik schläfert nicht nur den Friedensprozess ein, sie schafft so etwas wie Ruhe. Die Israeli sind Bibi dankbar dafür. Viermal wählen sie ihn wieder, bis 2021 bleibt er ununterbrochen im Amt.

Beliebt ist er auch, weil unter ihm die Wirtschaft so schnell wächst wie nie. Netanyahu senkt Steuern, lässt Unternehmen privatisieren und fördert gezielt den zukunftsträchtigen Hightech-Sektor. In keinem Land gibt es mehr Startups, nirgendwo ist der Anteil von Wissenschaftern, Ingenieuren und Technikern an der Gesamtbevölkerung so hoch wie in Israel. Arbeitslosigkeit kennt die «Generation Netanyahu» nicht.

Der wirtschaftliche Erfolg ermöglicht auch militärische Stärke. Israel wird nun gefürchtet, so wie es Netanyahus Vater Benzion wollte. Auch die arabischen Herrscher gelangen allmählich zu dem Schluss, dass ihnen Geschäfte mit dem Judenstaat mehr bringen als Krieg. Viele von ihnen sind der leidigen Palästinafrage zudem müde.

Netanyahus grosser aussenpolitischer Moment kommt am 28. Januar 2020 im Weissen Haus. Er steht neben Donald Trump und grinst wie ein Spitzbube, der sein eigenes Glück nicht fassen kann. Trump stellt seinen «Friedensplan für den Nahen Osten» vor. Zuvor haben die USA Netanyahu bereits alles gegeben, was er wollte: Sie haben ihre Botschaft nach Jerusalem verlegt und das Atomabkommen mit Iran aufgekündigt. Nun ermöglichen sie ihm auch noch, dass er sich der Welt als Friedensstifter präsentieren kann – ohne dass er irgendwelche Zugeständnisse an die Palästinenser macht.

Der Plan geht auf. Im September 2020 unterzeichnen die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain ein Kooperationsabkommen mit Israel, später schliessen sich Marokko und der Sudan an. Handel mit den arabischen Feinden – in dieser Dimension vor ein paar Jahren noch unvorstellbar, wohl auch für Netanyahu.

Benjamin Netanyahu und Donald Trump präsentieren im Januar 2020 einen auf Israels Interessen zugeschnittenen Friedensplan

Benjamin Netanyahu und Donald Trump präsentieren im Januar 2020 einen auf Israels Interessen zugeschnittenen Friedensplan

Andrew Harrer / Bloomberg

Vor seiner Wahl 2009 hat er gesagt: «Die Linken haben vergessen, was es heisst, ein Jude zu sein, sie legen die Sicherheit in die Hände der Araber. Sie glauben, die Araber würden für sie schauen.» Aber der ehemalige Unternehmensberater weiss auch: Geld ist stärker als Panzer.

2020 ist Netanyahu seinem Ziel so nah wie nie. Der Gorilla ist stark, die arabischen Nachbarn haben seine Existenz akzeptiert, der Todfeind Iran ist isoliert, die Palästinenser sind ohne Aussicht auf einen eigenen Staat. Die Friedensbewegung ist erschöpft. Die einst stolzen linken Parteien sind marginalisiert; die Arbeiterpartei, die das Land aufgebaut hat, erobert bei den Wahlen 2019 mit 4 Prozent Stimmenanteil noch 6 der 120 Mandate in der Knesset. Das Land ist zu Bibi nach rechts gerückt.

IV: Hybris und eine dominante Familie

Benjamin Netanyahu vor einer Pressekonferenz auf einer Militärbasis in Tel Aviv. Seit Kriegsbeginn trägt er nur noch schwarz.

Benjamin Netanyahu vor einer Pressekonferenz auf einer Militärbasis in Tel Aviv. Seit Kriegsbeginn trägt er nur noch schwarz.

Abir Sultan / AP

Macht kann einsam machen und Erfolg blind. Glaubte Benjamin Netanyahu, er sei unangreifbar? Hat er in den Büchern über die grossen Politiker nicht gelesen, wie sie fielen? Den Moment für den Abgang verpassten?

Schon 2018 werden Ermittlungen gegen Netanyahu wegen Korruption, Bestechung und Veruntreuung aufgenommen, zwei Jahre später, kurz nach seinem Triumph im Weissen Haus, beginnt in Israel das Gerichtsverfahren. Er weigert sich zurückzutreten, ordnet nun alles, selbst seine politische Vision, dem eigenen Überleben unter.

Er ist nicht der erste israelische Politiker, der dies tut. Aber keiner vor ihm war ein solch geschickter Händler der Macht, keiner ein so kaltblütiger Spieler wie Bibi. Jedes Spiel produziert Verlierer. In Israel gehörte das zum politischen Alltag. Wer in einem Wahlkampf unterlag, wurde vielleicht trotzdem Minister im Kabinett seines einstigen Gegners. Und zwei oder drei Jahre später würde er ihn bei den Wahlen dann wieder besiegen.

Aber Bibi hat dieses De-facto-Rotationsprinzip zum Erliegen gebracht. Hat Verlierer gedemütigt und verbittert zurückgelassen. Er beschimpft frühere politische Weggefährten als Spione, ehemalige Armeechefs als Geistesgestörte. Er wirft dem Inlandsgeheimdienst Shin Bet vor, gegen ihn zu intrigieren. Mit den Jahren wird er immer einsamer, die Partner, die er sich suchen muss, werden immer extremer.

Alle gegen Bibi, lautet irgendwann die Parole der Opposition, die ebenfalls eine ideologisch wilde Koalition schmiedet und so 2021 die Macht übernimmt. Wieder werden politische Nachrufe auf Bibi geschrieben, viele Israeli freuen sich hämisch über den Fall des Mannes, der sich für unangreifbar hielt und sich wie ein König gebärdete.

Am Ende steht, wie am Anfang, die Familie.

Sara, seine dritte Frau, eine ehemalige Stewardess, die er 1988 bei einem Zwischenstopp in Amsterdam kennengelernt hat, prägt seine Karriere mit. Zuerst als Betrogene, die ihn gnädig zurücknimmt, dann als manipulative Einflüsterin, die überall mitredet.

Natürlich ist das ein alter Topos, die böse Frau, die den Mann steuert. Populär war Sara nie. Sie sorgt immer wieder für Medienskandale. Etwa, als sie sich auf einem El-Al-Flug in die Ukraine schreiend Zugang zum Cockpit verschaffen will, weil der Pilot sie nicht persönlich begrüsst hat. Sie muss sich auch vor Gericht verantworten, weil sie von Geschäftsleuten Gefälligkeiten einfordert: Champagner, teure Handtaschen, Schmuck.

Nun aber wird sie auch politisch zum Problem. Parteikollegen wenden sich ab, Mitarbeiter künden. Sie erzählen, Sara bestimme, wer Zugang zum Ministerpräsidenten habe und wer für ihn arbeite. Sie rede bei der Besetzung von Wahllisten mit, wie auch bei der Auswahl des Mossad-Chefs. Wer ihr nicht schmeichle, werde verbannt. Saras bekanntestes Opfer ist Bibis politischer Ziehsohn Naftali Bennett. Er soll aus dem engsten Zirkel ausgestossen worden sein, weil er die Gattin mit einer Äusserung erzürnte.

Wer Freunde verstösst und sogar Bewunderer vergrault, wird einsam. Aber wo Macht ist, gibt es kein Vakuum. Bibis ältester Sohn, Yair, gewinnt immer mehr Einfluss. Mit 32 hat er noch keinen richtigen Job und lebt in der Residenz bei den Eltern. Er beginnt die Wahlkampagnen des Vaters zu prägen, füttert dessen Kanäle in den sozialen Netzwerken.

Benjamin Netanyahus älterer Sohn Yair, seine Frau Sara und sein jüngerer Sohn Avner (von links nach rechts) während der Vereidigung der aktuellen Koalitionsregierung im Dezember 2022 in der Knesset in Jerusalem.

Benjamin Netanyahus älterer Sohn Yair, seine Frau Sara und sein jüngerer Sohn Avner (von links nach rechts) während der Vereidigung der aktuellen Koalitionsregierung im Dezember 2022 in der Knesset in Jerusalem.

Imago/Amir Cohen / Imago

Von Zurückhaltung ist da nichts mehr zu spüren. Die Polizei, die gegen den Vater wegen Korruption ermittelt, vergleicht Yair mit der Gestapo, den Generalstaatsanwalt bezeichnet er als existenzielle Bedrohung Israels. Es soll auch Yair zu verdanken sein, dass Bibi bei den Wahlen Ende 2022, den fünften in drei Jahren, eine Allianz mit Ultraorthodoxen und Rechtsextremen schmiedet. Mit ihrer Hilfe schafft er es noch einmal zurück an die Macht.

Doch diesmal kann er seine Koalitionspartner nicht austricksen, sie sind zu stark, und sie fordern, dass er umsetzt, was er ihnen versprochen hat. Eine umstrittene Justizreform etwa, mit der Kontrollmechanismen geschwächt werden sollen.

Das geht vielen Israeli zu weit, auch solchen, die Bibi vor kurzem gewählt haben. Sie machen sich Sorgen um die Demokratie, auf die sie so stolz sind. Sie strömen in Massen auf die Strassen. Hohe Militärs, Geheimdienstler, Unternehmer und sogar Parteikollegen schliessen sich dem Protestlager an. Bibi hat die Kontrolle verloren. Er fühlt sich verraten. Aus seiner Sicht sind all seine Taten gerechtfertigt, schliesslich braucht Israel ihn, den stärksten Gorilla, den Silberrücken Bibi, nur er kann das Land steuern.

Demonstranten protestieren zu Beginn des Korruptionsprozesses im Mai 2020 vor Netanyahus Residenz in Jerusalem gegen den «Crime Minister».

Demonstranten protestieren zu Beginn des Korruptionsprozesses im Mai 2020 vor Netanyahus Residenz in Jerusalem gegen den «Crime Minister».

Amir Cohen / Reuters

Fast gelingt ihm der ultimative Coup: Frieden mit Saudiarabien, Anerkennung durch den Staat, der die Geburtsstätte des islamistischen Terrorismus ist. Im saudiarabischen Fernsehen sagt er: «Ich glaube, mein Leistungsausweis spricht für sich. Die Dekade, in der ich Israel geführt habe, war die sicherste Dekade in der Geschichte des Landes. Nicht nur für Israeli sicher, sondern auch für die Palästinenser.»

Netanyahu glaubte, die Palästinenser würden sich ruhigstellen lassen und die Hamas könnte er mit der Herrschaft über den Gazastreifen abspeisen. Aber Energie bleibt immer erhalten, sie wandelt sich nur in ihrer Form. Verliert eine Seite im Krieg, verwandelt sich ihre Kampfkraft in Schmerz oder Wut. Gerade Netanyahu hätte wissen müssen, dass die Hamas ihre Überzeugung – kein jüdischer Staat auf arabischem Boden – nie aufgeben wird. Und dass sie eine Annäherung Israels an Saudiarabien mit allen Mitteln zu verhindern suchen wird.

Bibi ist plötzlich nicht mehr vorsichtig. Das klingt harmlos. Ausser man spielt, wie er nun, mit Rechtsextremen. Und mit Terroristen. Dann geht es nicht mehr nur um die politische Macht. Sondern ums Leben, um Israel.

Doch Bibi ist absorbiert von seinem eigenen Überlebenskampf. Israel ist gelähmt und gespalten – sogar die Armee. Reservisten drohen, aus Protest gegen die geplante Justizreform ihren Dienst nicht mehr anzutreten, Generäle warnen den Regierungschef, das Land sei nicht mehr verteidigungsbereit. Wegen der Massenproteste, aber auch weil zu viele Truppen ins Westjordanland verschoben werden und im Süden fehlen. Natürlich gibt es Gründe dafür, im Westjordanland nimmt die Gewalt zu. Aber ist das nicht auch eine Folge der Siedlungspolitik, die Bibi gutgeheissen hat?

Und dann, am 7. Oktober, sind die Jahre der Ruhe, des wirtschaftlichen Aufschwungs mit einem Schlag wie ausgelöscht. Von einem grausamen Überfall der Hamas, einem Massaker, bei dem so viele Juden ermordet werden wie nie mehr seit dem Holocaust. Das Bild von Bibi, dem Beschützer Israels? Zerstört, schlimmer noch: Viele Israeli machen ihn mitverantwortlich für die 1400 Opfer und das Schicksal der über 200 verschleppten Geiseln.

Aber Bibi ist noch nicht am Ende. Er führt jetzt Krieg, der 1200-Pfund-Gorilla bewegt sich. Es ist unklar, wo er stehenbleiben wird. Abgewählt und politisch tot nach einem zehrenden Krieg? Oder als Sieger nach der Einverleibung des Gazastreifens? Endlich befreit von den Arabern, würde der Vater sagen. Und Netanyahus Koalitionspartner würden jubeln und ihm vielleicht sogar das Versagen beim Angriff der Hamas verzeihen.

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