Gar kein Independent-Comic-Preis mehr oder sogar zwei?

Die Preisverleihung 2018 – Foto: ICOM/Peter Krüger

„Was wird aus dem Independent Comic Preis?“, fragt der ICOM-Verein und lässt die Öffentlichkeit auf der Plattform Startnext mittels Crowdfunding über dessen Zukunft abstimmen. Zudem teilt das ehemalige Jury-Mitglied Lara Keilbart dem „Tagesspiegel“ mit, dass sie sich auch noch einen zusätzlichen zweiten Independent-Preis vorstellen kann.

Wer also dachte, die Auseinandersetzungen rund um den „ICOM Independent Comic Preis“ wären eigentlich nicht mehr steigerungsfähig, der sieht sich in diesen Wochen abermals eines „Besseren“ belehrt. Auslöser für diese immer weiter eskalierende Situation war die Neubesetzung eines Jurypostens, die nötig wurde, weil ein Jurymitglied aus Termingründen seinen Sitz zur Disposition gestellt hatte.

Die Neubesetzung des Postens, die der Vorsitzende des ICOM – Der Interessenverband Comic e.V., Burkhard Ihme, mit einem Mann vornahm, schraubte das zuvor paritätische Geschlechterverhältnis in der Jury zugunsten der männlichen Mitglieder auf 3 zu 1 hoch. Dies wurde von dem verbliebenen weiblichen Jurymitglied Eve Jay moniert, die eine Umbesetzung zugunsten einer Frau forderte. Als auch ihr späterer Kompromissvorschlag keine Zustimmung fand, die Gruppe mittels Erweiterung um eine zusätzliche Jurorin auf fünf Personen zu erweitern, verließ sie die Jury und wurde durch Lara Keilbart als Jurymitglied ersetzt.

In der Eskalationsspirale

Der interne Diskussionsverlauf hatte offensichtlich zu derart massiven Kränkungen geführt, dass Eve Jay nach der Verleihung der ICOM-Preise den Vorgang mittels eines Blog-Beitrags am 3. Juni 2018 öffentlich machte. In der darauf folgenden Diskussion, die vor allem über soziale Medien geführt wurde, kamen immer mehr Interna zur Sprache, was die Diskussion zusätzlich anheizte. Ein polemisches Editorial zum Thema von Burkhard Ihme im vom ICOM herausgegebenen „Comic!-Jahrbuch“ goss zusätzlich Öl ins Feuer und wurde wiederum von einem im Internet verbreiteten Solidaritätsschreiben beantwortet, in dem gefordert wird, dass Burkhard Ihme den Posten als ICOM-Vorsitzender räumt.

Die zunehmend verhärteten Fronten auf beiden Seiten lassen den eigentlichen Auslöser der Situation immer mehr in den Hintergrund treten. Zudem verbauen sie den ungetrübten Blick auf die Historie des „ICOM Independent Comic Preises“ und seine Jurys, die bereits in vielen Jahren paritätisch zusammengesetzt waren – sogar schon in den 1990ern!

Auch die Vergabe der einzelnen Preise lässt bei der Detailanalyse nicht auf ein „Gender-Problem“ schließen. Eine mehrheitlich männliche Jury – wie jene von 2010 – konnte genauso überwiegend weibliche Sieger küren, wie es die paritätisch besetzte Jury von 2017 vermochte. In diesem Zusammenhang Strukturen oder „Bequemlichkeiten der letzten 25 Jahre“ anzuprangern, die es zu überwinden gelte, scheint nüchtern betrachtet wenig stichhaltig.

Max und Moritz-Preis zweiter Klasse

Was dagegen tatsächlich auffällt, wenn man die Preisträger der vergangenen Jahrzehnte betrachtet, ist eine gravierende Verschiebung ihres verlegerischen Hintergrunds. In den frühen Jahren dominierten eindeutig Selbstverleger und „echte“ Fanzines, für die es zeitweilig sogar eine eigene Kategorie gab. Die vielen herausragenden Eigenproduktionen der Edition Moderne aus dieser Zeit etwa findet man dagegen – aus gutem Grund! – überhaupt nicht in den Siegerlisten.

Seit den Nullerjahren setzten sich dann immer mehr Preisträger durch, deren Werke von Reprodukt, avant, Jaja oder Rotopolpress verlegt wurden. Sicherlich sind das Verlage, die keinem (internationalen) Großkonzern angehören, die also formal „independent“ sind. Allerdings sind es auch genau diese Verlage, die seit vielen Jahren immer wieder mit zahlreichen Titeln auf den Nominierungs- und sogar Siegerlisten des „Max und Moritz-Preises“ vertreten sind.

Wenn es eine spezielle „Buch-Kategorie“ gäbe, über die regelmäßig eine solche Veröffentlichung mit dem ICOM-Preis ausgezeichnet würde, wäre das wohl noch sinnvoll. Inzwischen geht aber alljährlich der Großteil der Preise in den diversen Kategorien an solche Werke. Eine höchst bedenkliche Entwicklung, die den „ICOM Independent Comic Preis“ immer mehr zu einem „Max und Moritz-Preis“ zweiter Klasse degradiert.

Profil und Renommee verspielt

Trennten die beiden traditionsreichsten deutschen Comic-Preise vor 20 Jahren in ihrem inhaltlichen Zuschnitt tatsächlich noch Welten, so wurden die Konturen in den letzten Jahren immer undeutlicher – und das geht einzig und allein zu Lasten des „ICOM Independent Comic Preises“.

Wie weit her es noch mit dem Renommee des Preises ist, zeigt sich schon daran, wie wenige Gewinnerinnen und Gewinner sich bemüßigt sehen, persönlich ihre – dotierten! – Preise abzuholen. Selbst dann, wenn sie auf dem Festival der Preisvergabe anwesend sind. Diese traurige Entwicklung hat nichts mit den Auseinandersetzungen des letzten Jahres zu tun, es gibt sie schon länger.

Überhaupt die „Dotierung“: Es ist geradezu armselig, wenn viele der Beteiligten vom Veranstalter bis zu einzelnen Jury-Mitgliedern in großer Regelmäßigkeit bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit die Bedeutung des Preises an dem zu vergebenen Preisgeld festmachen. Dieses sei jeder Gewinnerin und jedem Gewinner von Herzen gegönnt, es darf aber nicht zum zentralen Faktor für eine weitere Existenzberechtigung des Preises hochstilisiert werden.

Geld alleine reicht nicht

Genau das passiert aber, wenn sich nun sogar jeder bei der eingangs erwähnten Crowdfunding-Aktion eine eigene Kategorie erkaufen kann. Und man kann schon gespannt sein, mit welchen Summen ein etwaiger zusätzlicher Independent-Preis um sich werfen wird. Das alles mag als Wirtschaftsförderung für die Kleinverlagsszene durchgehen, für den Einsatz dieser Geldmittel böten sich aber sinnvollere Vorgehensweisen an.

Warum fließt das ganze Geld nicht zum Beispiel gebündelt in ein Stipendium für eine Künstlerin oder einen Künstler? Da könnten dann sogar mal Leute beim ICOM zum Zuge kommen, die nicht aus der Deutschschweiz oder Berlin stammen (wo es solche Stipendien bereits gibt). Außerdem könnte gezielt der Entstehungsprozess eines Comics gefördert werden. Zu diesem Zeitpunkt ist finanzielle Unterstützung besonders wichtig.

Wenn der Comic bereits fertig gedruckt vorliegt, sollte ein Jury-Auszeichnung wie der „ICOM Independent Comic Preis“ vor allem bei der Verbreitung – und natürlich auch dem Verkauf – des Werkes über sein Renommee behilflich sein. Dass aber dem Ansehen des Preises in den letzten Monaten nun wirklich nicht gedient wurde, das dürfte hoffentlich allen Beteiligten klar sein.

Raus aus der Sackgasse

Was jetzt nötig wäre, ist endlich der Einstieg in eine konstruktiv geführte Diskussion für eine Neubestimmung des einen „ICOM Independent Comic Preises“ und nicht sogar noch das Aufsplitten in zwei Preise. Diese Diskussion sollte auch nicht unter Zeitdruck geführt werden, sondern notfalls lieber die Verleihung in diesem Jahr einmalig ausgesetzt werden (dafür gibt es ja ein prominentes Vorbild mit dem Literatur-Nobelpreis).

Vor allem aber darf die Neuaufstellung des ICOM-Preises nicht der völlig destruktiven Kommunikationskultur in irgendwelchen sogenannten sozialen Medien unterworfen oder gar als Pseudo-Volksabstimmung mittels Crowdfunding vorgenommen werden. Dieser Abstimmungsprozess gehört in den ICOM-Verein zurückverlagert, dessen Mitglieder mit ihren Beiträgen den Preis schließlich in der Vergangenheit finanzieren haben. Und daran dürfte sich auch zukünftig wenig ändern, wenn man sich den bisherigen „Erfolg“ des Geldsammelns auf Startnext ansieht.

Allerdings muss der ICOM innerhalb der Comic-Szene unbedingt wieder zu der anerkannten Interessenvertretung werden, die er in den ersten zwei Jahrzehnten seiner Existenz einmal war. Dazu kann er sich aber nur über Mitmachen entwickeln. Deshalb ist der Autor dieser Zeilen heute Vormittag wieder in den ICOM eingetreten – und das ausdrücklich mit dem Ziel, seine Mitgliedsrechte wahrzunehmen!

 


Wer sich in die Hintergründe des Themas einlesen möchte, findet hier die entsprechenden Links in chronologischer Abfolge:
• Interner Jury-Chat mit dem Konfliktbeginn: http://t1p.de/dwyq
• Eve Jays Blog-Beitrag zum Rückzug aus der Jury: http://t1p.de/uro0
• Editorial „Comic!-Jahrbuch 2019“: http://t1p.de/x63z
• Solidaritätsschreiben für Eve Jay: http://t1p.de/1uk8
• Crowdfunding-Projekt auf Startnext: http://t1p.de/tk6w
• „Tagesspiegel“-Artikel „Der große Graben“: http://t1p.de/6ksr