Ganz schön mutig, in Zeiten zunehmenden Leserschwunds einen eigenen Verlag zu gründen. „Mutig wie bescheuert“, meint Annette Köhn lapidar. Vor sieben Jahren hat sie den Jaja-Verlag aus der Taufe gehoben, der zuletzt durch Dominik Wendlands Comic „Tüti“ Aufsehen erregte. Der gezeichnete Thriller mit dem wohl subversivsten derzeit möglichen Helden war im Mai für den renommierten Max-und-Moritz-Preis nominiert und hat jüngst den Bayerischen Kunstförderpreis gewonnen, der am 6. November in der Hochschule für Fernsehen und Film in München übergeben wird. In der Sparte Literatur. Beides sei „schon ein Ritterschlag“, findet die gebürtige Erlangerin Annette Köhn, die das Buch ihren „ganzen Stolz“ nennt.
Ganz schön mutig, in Zeiten zunehmender Verbote wegen Meeresvermüllung einen Comic mit einer Plastiktüte als Protagonistin zu veröffentlichen. „Dabei ist das Plastik-Thema überhaupt nicht Thema im Comic“, sagt Annette Köhn. Außer am Anfang, wo „Tüti“ einen Zugvogel zu Fall bringt, und am Ende, wo sie mit ihresgleichen im Meer abtaucht.

„Vom Winde verweht“

Dominik Wendland, Jahrgang 1991, in Leipzig ausgebildeter und in München lebender Grafiker und Illustrator, treibt seine nur scheinbar dauergrinsende und passive, hochgradig reduziert gezeichnete Hauptfigur mittels Windkraft durch absurd scheinende – zugleich jedoch durchaus genretypische – Szenen. Vom Mitglied einer Rebellenbande wird „Tüti“ zur Lebensretterin, Liebhaberin und Despotin.
Die Jury des Bayerischen Kunstförderpreises vergleicht Wendlands „freies, assoziatives Fabulieren“ in dieser Comic-Groteske mit Christian Morgenstern und F. W. Bernstein. Die Max-und-Moritz-Jury begründet die Nominierung damit, dass es „Tüti“ „so faustdick hinter den Henkeln“ habe, „dass dagegen alle Umweltsünden ihrer Artgenossen harmlos wirken. Vom Winde verweht wabert das weiße Kunststoffwesen mit dem Smiley-Gesicht durch eine der originellsten deutschen Comicerzählungen der jüngeren Zeit“.
Köhn fand schon den Titel, den der zuvor allenfalls durch Webtagebuch-Strips öffentlich in Erscheinung getretene Zeichner seinem Comic gab, großartig. „Die Leute, die richtig gute Sachen haben, kommen immer ganz schüchtern daher“, erzählt sie von der ersten Begegnung auf der Leipziger Buchmesse 2017, wo sie ihn gleich ins Team der Jaja-Autoren aufnahm. „Er war ganz von der Rolle – und ich freue mich jetzt über meinen guten Riecher.“
Den braucht sie, um als Verlegerin irgendwann schwarze Zahlen zu schreiben. Den Entschluss, einen eigenen Verlag für ihre Arbeiten und die der Kollegen im Gemeinschaftsbüro zu gründen, bereue sie „auf keinen Fall“, sagt die 42-Jährige. „Aber empfehlen würde ich’s auch nicht unbedingt.“ Denn: „Ich denke, dass es allen Verlagen im Moment nicht so gut geht.“ Selbst mittlerweile etablierte Graphic-Novel- und Comic-Verleger wie Avant und Reprodukt hätten zehn Jahre gebraucht, bis es soweit war.
So ist die Verlegerin, deren „Katalögchen“ hauptsächlich Comics, aber auch Lukrativeres wie Kochbücher und Kalender umfasst, weiter zugleich Grafik- und Webdesignerin, gestaltet Schulbücher und Broschüren, etwa für die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uni Ulm. Solche Aufträge finanzieren den Verlag mit.
Dass Kulturstaatsministerin Monika Grütters nun analog zum Buchpreis auch einen Verlagspreis ausloben will, begrüßt die Wahl-Berlinerin. „Wir haben sowas ja schon“: Am 1. Oktober werden die Finalisten des 1. „Berliner Verlagspreises“ bekanntgegeben, um den sich 75 kleine, unabhängige Verlage beworben haben.

Webdesignerin, Illustratorin und Verlagschefin

Annette Köhn, 1976 in Erlangen geboren, studierte Visuelle Kommunikation in Nürnberg und Kommunikationsdesign an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. 2006 gründete sie in Berlin das Gemeinschaftsatelier Musenstube und 2011 den Jaja Verlag. 2015 bekam sie einen Förderpreis der Stadt Mainz und 2015 den Icom Independent Comicpreis. Eigene Publikationen: „Annettes Weg ins Glück“ (2012), „Leto“ (2014), „Epigenetik“ (2016).
„Tüti“ von Dominik Wendland, Jaja Verlag, 88 Seiten, 14 Euro.