Israelischer Terror-Experte im BILD-Interview über den Anschlag von Berlin: »Die Behörden müssen aus Dornröschen-Schlaf aufwachen

Von: Von VIKTORIA BRÄUNER

Um kurz nach 20 Uhr raste am Montagabend ein Sattelschlepper auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche in Berlin. Zwölf Menschen wurden bei dem Terroranschlag getötet, 48 verletzt.

Nur zehn Minuten bevor der Lastwagen in die Buden steuerte, war Prof. Shlomo Shpiro, Terrorismus-Experte von der Universität Bar-Ilan in Tel Aviv, auf eben diesem Weihnachtsmarkt von Stand zu Stand geschlendert.

Zu BILD sagte er: „Es war pures Glück, dass ich nicht mehr dort war. Mir war es draußen einfach zu kalt, weshalb ich in einen Bus stieg und wegfuhr. Kurze Zeit später hörte man schon die Sirenen …“

Im Interview mit BILD beschreibt der Forscher wie er die Lage auf dem Breitscheidplatz erlebte und gibt eine Einschätzung zur aktuellen Terrorgefahr.

BILD: Gehen Sie noch auf Weihnachtsmärkte und andere Großveranstaltungen, wie zum Beispiel die Silverstermeile am Brandenburger Tor?

Professor Shlomo Shpiro: „Aber natürlich! Sogar mehr als zuvor. Normalität ist eine unserer stärksten Waffen gegen Terrorismus. Die Terroristen wollen unsere Freiheit rauben. Sie wollen nicht nur die unmittelbaren Opfer treffen, die getötet oder verletzt wurden, sondern uns alle. Sie wollen größtmöglichen Schrecken verbreiten, aber wenn wir so weitermachen wie bisher, dann haben die Attentäter schon teilweise verloren.“

Wie geht Ihre Heimatland Israel mit dem Terror um?

Shpiro: „Aufgrund der vielen Anschläge und der permanenten Bedrohung ist der Terror auf eine bestimmte Art und Weise leider schon zum Alltag geworden. Ich war Anfang der 2000er Jahre in der Nähe eines Selbstmordattentats in Israel, bei dem ein Bus in die Luft gejagt wurde. Mehrere Menschen wurden getötet und verletzt. Aber schon zwei Stunden nach dem Terroranschlag war von dem Tatort nichts mehr zu sehen: Der zerstörte Bus war weg, die Opfer wurden abtransportiert, das Blut war entfernt worden. An der Unglücksstelle standen ein paar Kerzen für die Opfer, ansonsten war die Straße schnell wieder so belebt wie vorher.“

In Berlin wurde aus Respekt vor den Opfern und den trauernden Angehörigen die Weihnachtsmärkte am Dienstag geschlossen. 

Shpiro: „Es ist nicht kaltherzig, nach diesem Anschlag wieder auf den Weihnachtsmarkt zu gehen – im Gegenteil. Trotz des Terrors und der Angst weiterzumachen wie bisher – das ist ein starkes Zeichen für das Leben und eine starke Waffe gegen den Terror. Ich will nicht sagen, dass der Terror in Deutschland schon zur Normalität gehört wie in Israel, aber auch hier war der Anschlag von Berlin nicht der erste.“

Sie sprechen von Würzburg und Ansbach.

Shpiro: „Genau. Einmal hat ein Mann in einem Zug mit einer Axt um sich geschlagen und Menschen schwer verletzt. Das andere Mal hat sich ein Selbstmordattentäter bei einem Musikfestival in die Luft gesprengt. In beiden Fällen wurde aber von einem ‚Verrückten‘, ‚Amokläufer‘ und ‘geistig Verwirrten‘ gesprochen. Das verharmlost den Ernst der Lage. Die Deutschen müssen lernen, den Terrorismus beim Namen zu nennen. Wie kann man das Problem lösen, wenn man nicht die richtigen Worte dafür findet?“

Sie waren gestern auf dem Weihnachtsmarkt – wie haben Sie die Situation erlebt?

Shpiro: „Es ist ein bildschöner Weihnachtsmarkt, wirklich eine Perle Berlins. Am Montagabend, als ich dort war, war es ruhig. Hunderte Menschen, darunter auch Kinder und Jugendliche, haben sich amüsiert. Es waren auch viele Touristen da, ich habe so viele verschiedene Sprachen gehört …“

Wie war der Markt Ihrer Meinung geschützt?

Shpiro: „Ich habe kaum Polizisten oder Sicherheitsleute gesehen. Nur hier und da war ein Wachmann.“

Wie kann es sein, dass der Täter fliehen konnte?

Shpiro: „In Israel, aber auch in Frankreich wäre das wahrscheinlich nicht passiert. Vergleichen wir die Situation mit dem Anschlag von Nizza: Dort haben die Sicherheitsleute schnell reagiert und den Lastwagenfahrer erschossen, bevor er fliehen konnte. In Berlin wurden die Behörden offensichtlich völlig überrascht und dementsprechend war die Reaktion.“

Was muss sich in Deutschland ändern?

Shpiro: „Es muss eine tiefgreifende Diskussion über die Terrorismusbedrohung stattfinden und einige Behörden müssen aus ihrem gemütlichen Dornröschenschlaf aufwachen. Die Polizei in Deutschland wurde an allen Ecken und Enden gekürzt, Tausende Stellen in den vergangenen Jahren. Wie kann man gegen Terrorismus und schwere Kriminalität effektiv vorgehen, wenn es an Personal fehlt? Auch der deutsche Föderalismus hilft da nicht immer: Die einzelnen Behörden tauschen Information natürlich aus, aber am Ende kochen sie in ihrem Bundesland ihr eigenes Süppchen. Es muss viel mehr gemacht werden, um die Zusammenarbeit zu verbessern und vor allem schneller und weniger bürokratisch zu machen.“

Gilt das nicht auch auf europäischer Ebene?

Shpiro: „Auf jeden Fall. Die Nachrichtendienste müssen viel enger zusammenarbeiten. Ihre Chefs treffen sich zwar regelmäßig, aber auch die Mitarbeiter, die Offiziere, müssen sich europaweit austauschen können – und das ganz schnell. Nachrichtendienstliche Informationen über Terrorismus ist wie Frischkäse: Es gibt ein Verfallsdatum. Wenn die Informationen zu spät weitergegeben werden, sind sie nutzlos. Erlebt haben wir das bei den Anschlägen von Brüssel, die teilweise von der selben Zelle verübt wurden, wie die Anschläge von Paris.“

Wie hoch schätzen Sie jetzt die Terrorgefahr in Deutschland ein?

Shpiro: „Die Gefahr ist jetzt hoch. Der Täter scheint noch nicht gefasst und außerdem besteht das Risiko, dass es Trittbrettfahrer gibt. Aber nochmal: Trotzdem sollen die Menschen ihre Leben einfach weiterleben. Sonst haben die Terroristen gewonnen. Und das wollen wir ja nicht!“

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