Joni Mitchell erzählt im Dokumentarfilm „Jaco“ eine aufschlussreiche Geschichte über Wayne Shorter, die sich bei einer Probe der großen Fusion-Band Weather Report zutrug. Keyboarder Joe Zawinul und Bassist Jaco Pastorius warfen sich johlend eine Frisbeescheibe zu, während Shorter wie üblich gedankenverloren mit seinem Saxofon beschäftigt war.
Dann ging ein Wurf schief, und das Frisbee raste mit unerbittlicher Präzision auf das Gesicht des in sich Versunkenen zu. Ungefähr einen Millimeter vor dem Einschlag riss Shorter die Hand hoch, schnappte die Scheibe und warf sie zurück.
Er hatte währenddessen nicht aufgehört zu spielen. Der Mann, den man aufgrund seiner langen sinnierenden Sprechpausen und seiner enigmatischen Weisheiten für einen esoterischen Kauz halten könnte, ist anscheinend nicht nur praktizierender Nichiren-Buddhist, sondern auch ein Kampfmönch.
Das sollte man wissen, wenn man sich der neuen Veröffentlichung des Saxofonisten nähert, der unlängst seinen 85. Geburtstag feierte. Während ähnlich betagte Kollegen wie Saxofonkoloss Sonny Rollins nicht mehr spielen und nur noch ältere Live-Mitschnitte herausbringen können, setzt Shorter nun ein markantes Zeichen, das auch die nachfolgenden Generationen erblassen lässt.
Ein Dreifach-Album mit 34-köpfigem Orchester und Konzertaufnahmen seines Quartetts, dazu eine 80-seitige Graphic Novel des Zeichners Randy DuBurke, die aus Gesprächen über die Urknall-Theorie resultiert, die Shorter mit Wissenschaftlern des Kavli Institute for Particle Astrophysics and Cosmology der Stanford-Universität führte.
Gegen „Emanon“, das in Form eines Comicbuchs daherkommt, wirken selbst die opulent-verschrobenen Werke des derzeit populären Jazzobergurus Kamasi Washington rührend konventionell. Gänzlich überraschend ist die von Shorter betriebene Verschränkung von Graphic Novel, Klassik und Jazz nicht.
Schließlich war der Saxofonist, der als kompositorischer Katalysator im zweiten Quartett von Miles Davis und als Ruhepol in der kommerziell extrem erfolgreichen Supergruppe Weather Report Geschichte schrieb, seit jeher ein großer Comicfan.
Hallo, Mr. Weird
Schon als Highschool-Kid hatte er sich die Geheimidentität „Mr. Weird“ auf sein Saxofon-Case gepinselt und einen Science-Fiction-Comic gezeichnet, später, als hoch angesehener Jazzweiser, trug er bei Interviews auch mal ein Superman-T-Shirt. Zudem liebt Shorter die superheldenhafte Musik von Ralph Vaughan Williams, Aaron Copland oder John Williams.
All das hört man nun auf der ersten CD von Shorters „Emanon“, die das Orpheus Chamber Orchestra auf das seit 18 Jahren existierende Quartett des Saxofonisten treffen lässt. Es gibt pastorale Passagen, in denen man Indianer in den Sonnenuntergang traben zu sehen meint oder dramatische Orchesteraufwallungen, die nach einer Space-Opera-Verfolgungsjagd klingen.
Immer wieder verschrauben sich die Streicher unter den Synkopen der Tieftöner in Loops, so, als suchten sie verzweifelt nach einem Ausgang. Es ist eine Kompositionsgroßleistung, die trotz gelegentlicher dämonischer Momente doch stets das Amerikanisch-Positive in der Klassik feiert.
Sollte Marvel für den zweiten Teil von „Black Panther“ einen Soundtrack suchen, könnte man hier fündig werden. Für die nagenden Zweifel der Moderne jedoch, das süße Gift der Dekonstruktion, ist auf Shorters Dreifachalbum der Jazz zuständig.
Wie sein Comic-Alter-Ego Emanon, ein „widerständiger Philosoph“ mit der Physis von Idris Elba, der in verschiedenen Paralleluniversen das Böse besiegt, wirft sich Shorter mit seinem Sopransaxofon in die Schlacht.
Mal spielt er verschwörerisch eine längere Melodielinie des Orchesters im Unisono mit, mal schert er rebellenhaft aus und vollführt mit schrill sirrendem Laserschwert abenteuerliche Loopings in den Weiten des Weltalls. Wie schon Joni Mitchell wusste: Wayne Shorter ist ein Jedi.
Musik ist außerhalb unserer Kontrolle
Wahrhaft spektakulär an dem Dreifachalbum ist aber, wie schonungslos der unlängst vom New Yorker als „größter lebender Jazzkomponist“ bezeichnete Held mit seinen Liedern umgeht.
Er spreche bei seinen Kompositionen nicht von „Songs“ oder „Tunes“, verriet Shorter dem Autor einmal, „ich bin mit meinen Musikstücken niemals fertig. In einem Buch kannst du ‚The End‘ schreiben. Aber Musik ist außerhalb unserer Kontrolle.“ Und an diese Prämisse hält sich das Quartett denn auch mit aller Konsequenz.
Auf den beiden 2016 bei einem Konzert in London mitgeschnittenen CDs pulverisieren Shorter und die Seinen die fürs Orchester oder Miles Davis geschriebenen Stücke. Von „Orbits“, 1966 auf „Miles Smiles“ veröffentlicht, bleiben nur noch rauchende Fragmente des fanfarenhaften Themas übrig.
Am radikalsten wird dem irischen Volkslied „She Moves Through The Fair“ zu Leibe gerückt, dem Shorter 2003 auf seiner Platte „Alegriá“ ein derart subtile neue Melodieführung verpasst hatte, dass man fast von einer eigenen Nummer sprechen konnte. Davon ist nach einem beherzt-farbenschillernden Bassintro nichts mehr zu erkennen. Man gewahrt nur noch vier Männer, die auf ihren Instrumenten gemeinsam ein- und ausatmen.
Alles geschieht hier aus dem Impuls des Augenblicks, ohne Verabredungen, ohne Schutzschild. „Potenzial kann man nicht proben“, spricht der Meister, „wir müssen so spielen, als ob wir nicht alles wissen.“ Das kann nervtötend sein oder packend intensiv. Als Hörer sollte man eine robuste Natur haben.
Eines zeigt „Emanon“ deutlich: Nach den Glücksfunden der vergangenen Zeit, Thelonious Monks wiederentdeckte Filmmusik zu Roger Vadims Film „Les Liaisons Dangereuses“ oder John Coltranes „Both Directions at Once“, ist es nicht minder spektakulär, das neue Album eines lebenden Superhelden des Jazz in den Händen zu halten.